Bei den Poetry Slams, da kommt zur Idiotie des Prätentiösen die Illusion, dass ein Bier in der Hand genügen würde, um alle grundsätzlichen Fragen zwischen Schrift und Rede mit einem Schluck aus der Welt zu schaffen. Und obendrein sind 90 Prozent der da vorgelesenen Texte bodenlos bieder
Rainald Goetz
„Die Gleichgültigkeit, mit der unser Zeitalter auf die Spiele der Musen herabsieht“, um gleich einmal Schiller abzuwandeln, scheint keine Gattung empfindlicher zu treffen, als die lyrische. Es gäbe so viele Möglichkeiten, die Gesellschaft für Poesie aufzuschließen, man könnte Busse mit Gedichten bemalen und Dichter in Bundestag und -liga vorlaut werden lassen. Man könnte jederzeit einen Sturm entfachen, allein aus einem politischen Willen zur Poesie. Doch gibt es diesen Willen nicht.
Es gibt auch keine Erklärungen, auf die man gedanklich zurobben könnte. Es geht kein Licht an in der Theorie. Ein Gedicht kann leuchten, sein Deutung leuchtet selten ein. Schiller glaubte, dass in Berufstätigkeit und anderen Intrigen zur Vereinzelung forcierte Geisteskräfte mit Dichtkunst (gebunden) wieder einig würden. Er rief „Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft“ als Geschwister im Geiste eines jeden dazu auf: von Separation zu lassen. Von den Erfahrungen verlangte er, Leben im Gedicht zurückzugewinnen.
Das heißt, Erfahrungen müssen in Schwung gebracht werden. Ein Dichter, in Form gebracht von seinen Erfahrungen, bringt die Erfahrungen in Form. Das nehme ich wahr in „Monster Poems“ der Nora E. Gomringer, bebildert von Reimar Limmer. Erschienen bei Voland & Quist als der Vulkane Lieder.
Ja, zuerst denke ich mehr träumend als lesend an erdgeschichtliche Tätigkeiten, daran, dass Gedichte einfach entstehen können – sich selbst kalkulierend und gar nicht gemacht. Auch das Dekor und die erhabene Schrift kommen dann aus dem Schiefer und einer Grube Messel.
Ja, die Form ist das Ziel, „zeig Füße, Hände, den stirnflachen Schädel/ und lass dich berühren, dich gar beschreiben“.
„Es sprach der Rabbi Löw“ heißt das Gedicht zu diesem Vers. Es ist eine Selbstermächtigung, das lyrische Ich stellt sich zu Gott und stößt ihm Bescheid. Es fordert: „Sorge für Ruhe im Viertel“ und „hol mir die Töchter aus den Betten ihrer Schänder“. Es endet in biblischer Blasphemie: „Ich dein Schöpfer, du am Schopf“ … meiner Ratlosigkeit, könnte man ergänzen. Es erinnert daran, dass Gott in den Worten wohnt. Sonst kennt man ihn nicht.
Ohne Eifer, Zorn und Rücksicht bricht Nora Gomringer in ihrem Rabbi-Gedicht die Siegel. Das Gedicht ist morgenländisch frisiert, sein Atem transportiert Rauch. Rauch über Hütten, fern der Paläste. In Brunnen faulen Pferde mit schon lange geplatzten Bäuchen. Folglich ist violett die Farbe des Gedichts. Violett wie die Flügel der Schmeißfliegen. Der ganze Monotheismus steckt in dieser violett verrauchten Angelegenheit.
Jedem Gomringergedicht (GG) kann man sich so widmen, egal, ob E. oder N. E. Gomringer unterschrieben haben – und weil das so schön ist, siebe ich den Sand der Einzelheiten am nächsten Beispiel.
„Jäger
Du bringst Kuchen und Wein, triffst den Wolf./ Der macht seine Hose auf und sagt:
Fass hinein.“
Die Brüder aus Hanau also, wie sie sich von hessischen Hausfrauen grimmige Märchen erzählen lassen. Auf dem Grund des Eingesammelten kristallisiert der nordische Götterhimmel. In diesen Schoten für den niedrigen Hausgebrauch entgingen die Götter ihrer Christianisierung. Die Angesprochene wird per Du erst einmal zum Rotkäppchen erklärt. Zur Jungfrau. Der Wolf ist Wotan in einer vulgären Auffassung, er hat natürlich Ansprüche.
Gomringers Rotkäppchen fährt einen „roten Ford“, das Modell lässt sich schlecht sichern: „So fängt diese Ehe an, denn du bleibst“.
Gatte Wolf mutiert zum Hausschwein in seiner Bescheidenheit, far away from Walhalla. Ein Liebhaber ergreift seine Chance, „es dauert Jahre bis einer kommt“, doch dann dauert es nicht mehr lange, bis Folgendes geschieht: „Kuchen und Wein“ werden dem Wolf gestrichen. Der Wolf wird bald mit Kugeln bestrichen. Die Moral des Jäger-Gedichts: Das Ballistische zirkuliert wie Yin und Jan. Du wirst erhoben von der Begeisterung und zu Fall gebracht von der Enttäuschung in ihrem Schlepp.
Was sonst noch geschieht:
Ein Mann trägt die Sachen seiner Frau, sie reicht die Scheidung ein, „als sie in den Schränken Schuhe findet, die eindeutig getragen, aber nicht ihre sind“. Das erzählt Nora Gomringer so wie ein Mensch aus einiger Höhe fallen könnte, mit einer Drehung vor dem Aufschlag. Ein paar Jahre zuvor ist „Richard The Gere“ alt geworden, auf halbem Weg „von Debra Winger zu Julia Roberts“ … dazwischen Elisabeth Fritzl und die Frage nach dem Wetter und nach Frauen „mit Namen wie Ikeagestelle“. King Kong geht das blond aus und der Weiße Hai unterrichtet method acting an der Steven Spielbergschule.
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Monster Poems, Nora E. Gomringer, bebildert von Reimar Limmer. Erschienen bei Voland & Quist
Weiterführend → Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.