Ein Ding das in Lamellen
fort und fort verzweigend
ein Etwas
das in sich selbst verschwindend
vom eignen furchtbaren Gewicht erschrocken
wie ein Salamander
seine Seele vor Touristen
unter Felsen verbirgt
Ein Sechshundertmillionenjahrding
teils vom ersten Beginn
teils vom Ende
ein bisschen von Kain und Abel
Schoß der Zeitalter
sich selber gebärend
Eine Sphinx
deren Geheimnis
die Zeit enträtselte
das ungelöst von uns
wegtropft in Vergessenheit
Der Kadaver der Geschichte
nicht gegliedert in Kapitel
aber seziert von einem Tomahak
Gedärm und Dung
Granitene Sandwiches mit roten Eisbergen
all das Blut der Ermordeten
Tropfen für Tropfen
ausgepresst wie Sonnenblumenkerne
in Ölkuchen
Falten
alle Runzeln der Menschheit
zusammengewachsen durch Ewigkeit
… Wer bist du Grand Canyon
Was willst du
Du bist der Angstschrei aus Dantes Hölle
Noahs Arche
Babylon
Hellas
römische Zirkusse
Luxus der Tyrannen
im Sand von Arizona
In jedem deiner glühenden Sandkörnchen
Hunnen
Azteken
Inkas
die sich wie Feuer in winzigen Kohlebrocken verstecken
Diese Felsenabgründe
sind Rothauthäuptlinge
die ihre bedächtigen Gedanken
im Lanzenkessel beherbergen
Du
hast etwas von all den Pyramiden
den Kremlmauern
mit dem Geist Iwans des Schrecklichen
in seiner Kapuze
Wer bist du Grand Canyon
Die Antwort sickert
Die Felsen kämpfen
alle wie schlaue Teufel
die einander verdrängen wollen
aber es gibt keine Sieger
sie alle sind vom Kampf gezeichnet
alle besiegt
alle eingerammt
vom Gewicht der Jahre
Die Felsen ermüden im sinnlosen Kampf
rücken dann zusammen
umarmen sich
und brechen auseinander
heiser keuchend wenn es vorbei ist
Die in Erhabenheit herrschten
alle die Makedonier Xerxes Dariusse
die Furcht in Seelen pflanzten
sind Fliegen die als Riesen auftraten
was sind sie heute
im Grand Canyon
Roter Staub in den Nüstern der Esel
Erbärmlich wie Napoleon in Ägypten
erhebe ich mich vor dem unsterblichen Anblick
schreie fast um Hilfe
Wo ist des Kaisers Dreispitz
In roten Schichten
wie eine Nadel im Heuhaufen
Im Basaltdickicht
seh ich wie
die finstere Bürste von Hitlers Schnurrbart hervorlugt
He Esel
kau ihn ab
ein Dessert
In den Grand Canyon
mit allen die an
Größenwahn leiden
Zu Gast in den Abgründen
wird der Zwerg schnell kapieren
dass er ein Zwerg ist
Wer bist du Grand Canyon
Die Schichtung
einer unerklärlichen Existenz
wie ein Stoß Bücher
Hier ist kein Liliputgebirge
aus Disneyland
Berge des Leidens
Berge der Weisheit
das komplette Werk Dostojewskis
Im Profil Stein gewordene Zeitungen
die leider auch nicht weiser wurden
Berge von Mist und Dung
Wer bist du Grand Canyon
Du bist wie eine Revolution
deine tosenden Wasserfälle sind unkontrollierbar
wie der Aufstand des Spartakus
Über den Sandbänken des Colorado
machen Klippen
wie Barrikaden in Paris
dich jung
alter Mann
Du Schlachtschiff Potemkin segle stolz
durch die tosenden Fluten
mit dem unsterblich gewordenen Namen eines kleinen Fürsten
In Schatten schwärzer als Teer
liegt Sputnik
wie das Blitzlicht von Che Guevara
irgendwo versteckt bis heute
Wer bist du Grand Canyon
Du bist das Bild Amerikas
Mit Wurzeln wie Adern
von Arbeitern und Farmern
könnten sie dich fast zum Präsidenten wählen
Das Lied von Whitman
Robert Frost
Aber sieh dich um
überall Spalte an Spalte
Falken am Himmel
schwarze Raben
Baumstämme
hinausgewachsen über den Abgrund
die Nachkommen von
Einwandererfamilien
die ihr eigenes Land nicht vergessen haben
Wind
ein andächtiger Mormonenchor
Kakteen
vor lauter Liebe unrasierte Hippies
Der schwarze Abgrund
ein Harlem-Paradies
Plötzliche Steinlawinen
stürzen heran wie Studenten
aber die schweigende Mehrheit
sind die Klippen
mit harter Eiskruste auf der Stirn
Grand Canyon du bist nicht
nach Regeln gemacht
Du ein Wolkenkratzer
nur nach innen gewandt
ein Steinapfelkuchen
Grand Canyon du voller Trugbilder
wie ein Nôtre-Dame von Amerika
vollgestopft mit allem möglichen wie eine Scheune
Wie Amerika hast du keine Ordnung geschaffen
Vielschichtig
bist du Grand Canyon wie
Amerika
Wie Amerika
unkoordiniert und dissonant
aber selbst derart zersplittert
bist du ganz
Gott schuf dich mit der
Teufelsdreistigkeit
eines Frank Lloyd Wright
Wer bist du Grand Canyon
Du bist
was das Volk verdient
+ + +
Ein junges Mädchen etwa 16 steigt hinab zum Colorado
Lebensmittel ragen so lustig aus ihrem Rucksack Unirdisch
himmlisch schaut sie staunend um sich her Ein
Hund an kurzer Leine zieht sie hinab am Rand des
Abgrunds Diese Touristin ist irgendwie anders Ohne
Furcht vor dem tödlichen Absturz Ohne Verlangen
sich an die Felswand zu klammern Behutsam geht sie
weiter seltsam stapfend
O Grand Canyon erschaudere
sie ist blind
Lass sie nicht stolpern über einen winzigen Stein
Ruhig geht sie an der Leine über
den Fluss
mit ihrer freien Hand berührt sie den Himmel
zärtlich streichelt sie mit ihren Wangen die Wolken
in der Morgenstunde
Es liegt etwas von einer alten Frau in ihrem Gang
dabei hat ihr Gesicht so viele Sommersprossen
rötliche allsehende Augen
Ihre Haut sieht den Grand Canyon
das Wunder seiner Schönheit
in vollen Zügen trinkend
mit dem Durst nach Ewigkeit
Und von seiner heilenden Schönheit verwundet
steht dieses blinde Mädchen da unten im Grand Canyon
über dir
Grand Canyon
***
Anmerkung der Redaktion: Mit dem 1974 von Ulrich Bergmann übersetztem Langgedicht Wer bist du Grand Canyon gratulieren wir Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko zum Geburtstag.
Weiterführend →
Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.