Ein Rettungsprojekt für Twittergedichte

Wird Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit?

Eine Designerikone, das erste Logo von Twitter. Der blaue Vogel „Larry“.

Clemens Johann Setz war Twitter-Fan und wollte seine Gedichte nur noch dort veröffentlichen – bis Elon Musk Twitter zu X umwandelte. Nach seiner Übernehme ist es zum Spielzeug des anscheinend völlig durchgeknallten Milliardärs geworden. Musk kann Twitter im Grunde nur zugrunde richten, schreibt Linette Lopez in einem lesenswerten Essay im Business Insider. Musks Prinzip bei seinen anderen Unternehmen war stets, in eine Lücke zu stoßen, wo noch keiner war, weltveränderde Versprechen zu machen und Geld von Fanboy-Milliardären und Staaten einzuwerben. „Twitter ist das Gegenteil einer ‚Elon-Musk-Firma‘. Es ist ein einflussreicher aber kleiner Player in einem Feld, das von gigantischen und gut mit Geld ausgestatteten Wettbewerbern dominiert wird. Regierungen weisen Twitter eher in Schranken, als es mit Staatsaufträgen zu versorgen. Und Twitter-Angestellte haben Optionen: Sie können den Laden verlassen und für Firmen arbeiten, die sie besser behandeln, als Musk es je tun würde.“

Setz gibt vor, seine Online-Skizzen vor dem Löschen retten zu müssen. Das Produkt der holzverarbeitenden Industrie „Das All im eignen Fell“ dokumentiert eine Auswahl seiner Twittergedichte, erläutert auch Stilmittel und stellt auch Accounts vor. Der Schwanengesang auf das Ende der Twitterpoesie, ist nicht ganz ohne Komik. Setz hat vor einiger Zeit postuliert, seine Gedichte nicht mehr in Buchform veröffentlichen zu wollen, nun muss er sich revidieren. Der Autor begibt sich mit einer Auswahl seiner auf Twitter publizierten Gedichte in die Schutzzone des Urheberrechts und veröffentlicht beim Suhrkamp Verlag. Sein „Erinnerungsbuch“ trägt den Untertitel „Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie“, er sieht es als eine Art Rettungsprojekt. Die Tatsache, dass so viele poetische Einfälle für immer verloren sind, schmerzt den Autor.

Heute Abend roter Mond / Mars noch immer unbewohnt / aber dafür ziemlich hell / Spür das All im eignen Fell

Clemens J. Setz im Titelgedicht.

Es ist einerseits clever, weil sich Suhrkamp damit an die Neuen Medien andocken kann, andererseits auch naiv von Setz, weil er wissen sollte, dass jeder schlecht gelaunte Admin Beiträge löschen kann, wenn es ihm passt, Urheberrechte interessieren die in Cupertino angesiedelten Firmen nicht, alles, womit sich die KI füttern lässt, kommt gerade recht.

Die klassische Autorschaft eines Autors als Genie ist perdü.

Mit einer ursprünglichen Beschränkung auf 140 Zeichen pro Tweet setzt die neue Gattung Twitteratur auf die Tugenden epigrammatischer Kürze, Aphorismen lassen sich als analoger Vorläufer bezeichnen. „Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.“, schrieb der Herausgeber des analogen Blogs Die Fackel, der begnadete Zyniker Karl Kraus. Bereits zwischen 2006 – 2009 finden sich auf Twitter selbständige einzelne Gedanken, Urteil oder Lebensweisheiten. Aufgrund der Reduzierung auf 140 Zeichen sind es oft nur ein Satz oder anderthalb Sätze. Oft formulieren die User eine besondere Einsicht rhetorisch als allgemeiner Sinnspruch, als eine Sentenz, Maxime, Aperçu oder Bonmot. Auch finden sie hier geflügelte Worte oder pointierte Zitate oder eben das, was bislang als Aphorismus bekannt ist.

Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter war das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form

Twitteratur folgt einer Verdichtungsökonomik, sie ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Mikrogramme bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Bisher bilden die Mikrolithen in der Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Bedeutet die Feststellung Existenzminimum, dass man seine Existenzberechtigung verloren hat, sobald man darunter liegt?

Die Produktion von Ambiguität – was Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen. Die retardierende Unterbrechung, führt zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, dass erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Kritik bedeutet unterscheiden, was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens?

Laptops, Tablets und Smartphones haben Alltagskommunikation entscheidend verändert und neue Inhalte und Formen literarischen Erzählens hervorgebracht, etwa Twitteratur.

In diesem Online-Magazin präsentieren wir Mythen des Alltags und interessieren uns für die Wechselwirkung von Emotionen und Marktwirtschaft. Um der Literatur willen besteht kein Bedarf an engagierten Schriftstellern. Engagement für die Literatur ist so unnötig wie eine engagierte Literatur. Es bedarf des Engagements in der Literatur. Wer sein Schreiben ausüben kann, braucht sich nicht zu beklagen, auch nicht über das Unrecht der Welt. Und wen die Kunstausübung überfordert, der unterlasse sie eben besser. Politisch wirksam wird sie, sobald sie sich Ideologien entzieht. Ein Schriftsteller, der auf den Grenzen seines Metiers besteht, provoziert heute mehr als jeder Grenzgänger. Zeitgenössische Literatur ist keine Stilrichtung. Wo sie etwas Gültiges über unser jetziges Dasein aussagt, das wird sich erst in 50 Jahren zeigen. Wenn, frei nach Goethe, der letzte gestorben ist, der sich noch persönlich an heutige Schriftsteller erinnert. Das Vorurteil wird dahin sein. Vergessen oder Mythos folgt. KUNO stilisiert sich nicht als gallisches Dorf, das den Eindringlingen erfolgreich Widerstand leistet, wir arbeiten auf ästhetischer Ebene Widerstand gegen die Durchökonomisierung der Branche.

Seit 2006 haben wir auf KUNO den Weg von Aphorismus zur Twitteratur begleitet. Diese Beitrage wird kein Admin löschen, sie werden auch nach dem Einstellen dieses Online-Magazins zum Ende diesen Jahres weiterhin recherchierbar bleiben.

 Die Lesenden erkennen eine Tendenz zur Subversion, zu einer permanent den Zeitgeist unterlaufenden ästhetischen und widerständigen Literaktion.

Im Gegensatz zur Twitterpoesie von Clemens J. Setz erschienen die Mikrogramme von A.J. Weigoni nicht als Buch sondern als Online-Publikation auf KUNO von 2006 – 2011 zum Themenschwerpunkt Twitteratur. Die Abfolge enthält mitunter fragmentarisch anmutende literarische Miniaturen, die scheinbar unzusammenhängend aufeinanderfolgen. Darunter befinden sich Erinnerungen, Sentenzen und Aperçus, Stillleben und Skizzen. Diese Bruchstücke aus der Realität sind verwandt mit den Miszellen (von lateinisch miscella ´Gemischtes`), dies ist eine Bezeichnung für eine Rubrik, unter der Kürzesttexte variierenden literarischen Inhalts veröffentlicht werden. Von der Kalendergeschichte über dem Aphorismus, der gegenseitige Durchdringungsprozess von Form und Inhalt bleibt bei diesen medienpoetischen Miniaturen wirksam. Für Weigoni ist nichts trivial und nichts einfach klar. Alles kann zum Gegenstand staunender Untersuchung werden. Keines dieser Mikrogramme steht allein, sie sind immer eingebettet in den digitalen Stream. Im Zeitalter der Lichtgeschwindigkeitskommunikation ist die Kürze eine Chance für das Konzise und die Erkenntnis, dass Skurrilität, Tempo, Witz und analytischer Tiefgang keine Gegensätze sein müssen. Die Variante der digitalen Mikrogramme stammen nicht aus dem Bleistiftgebiet, wie die des Robert Walser. Was sie gemeinsam haben ist, dass sich dem Lesenden eine poetische Welt eröffnet, wie sie vielfältiger und reizvoller kaum sein könnte. Auch die Mikrolithen von Paul Celan kommen dem Leser in der Sinn, seine bissigen und zugleich auch bitteren Aphorismen, betrachtet die Redaktion als ´Gegenlichter`, hier wie dort wird von den Fragmenten her ein neuer Blick möglich aufs Ganze auf Dichtung und Leben möglich. Weigonis Bagatellen sind der Versuch, Miniaturen gleichrangig nebeneinander aufzureihen, ein dichtes Gewebe, das seine poetische Qualitäten erst durch die Lektüre gewinnt. Die einzelnen Beiträge lassen sich am besten unter der neuen literarischen Gattung Twitteratur zusammenfassen; die Mikrogramme von A.J. Weigoni sind aber auch der Vorläufer des Projekts Wortspielhalle, das sowohl online, als Buch/Katalog-Projekt sowie als CD erschien.

Bei transmedialen Projekten legt sich avancierte Literatur seit 1989 nicht mehr auf das Medium Buch fest.

Cover: Frühlingel von Peter Meilchen

Das transmediale Projekt Wortspielhalle von Sophie Reyer und A.J. Weigoni wurde mit dem Förderpreis des lime_lab im Rahmen des „steirischen herbst“ unterstützt. Dieser Preis fördert die Entwicklung experimenteller, medienüberschreitender Hörspiele. Es ist folgerichtig, dass es auch eine akustische Umsetzung der Sprechpartitur gibt. Der mit einer professionell ausgebildeten Sprechstimme Weigoni arbeitete dafür mit der Schauspielerin Marion Haberstroh zusammen. Mit einem sprachspielerischen Angang zur Lyrik eröffnen der Sprechsteller und die Schauspielerin der Poesie eine neue Handlungsfreiheit. In einem zweckfreien Spiel über Zufälle und Möglichkeiten erforschen sie die ludische Wende, die durch die Dominanz von Spielanwendungen auf dem Computer gekennzeichnet ist. Ihr Spiel mit der Sprache verändern die Elemente einer Situation so, dass Neues und Unbekanntes entsteht; der größte anzunehmende Glücksfall in der Poesie.

 

 

 

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Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie, von Clemens J. Setz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024

Bereits vor fünf Jahren erschien einer 4. überarbeitete Auflage: Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.

Internet – Literatur – Twitteratur. Erzählen und Lesen im Medienzeitalter von Anne-Rose Meyer. Peter Lang Verlag 2019

TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen, von Jan Drees und Sandra Anika Meyer. Frohmann Verlag, 2015

Mikrogramme von A.J. Weigoni, KUNO 2006 – 2011

Wortspielhalle, eine Sprechpartitur von Sophie Reyer & A.J. Weigoni, mit Inventionen von Peter Meilchen, Edition Das Labor, Mülheim 2014

Das Hungertuch von Haimo Hieronymus in der Martinskirche, Linz am Rhein

Weiterführend Die Redaktion hat Holger Benkel gebeten einen einführenden Rezensionsessay über den Aphorismus zu verfassen. Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Die Sprechpartitur Wortspielhalle wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Ergänzend empfohlen sei das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Eine höherwertige Konfiguration entdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. Ein weiterer Blick beleuchtet die Inventionen von Peter Meilchen. Ein Essay fasst das transmediale Projekt Wortspielhalle zusammen.