Interpretationen 9 – wien: heldenplatz

 

wien: heldenplatz ist ein Gedicht des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl, das auf den 4. Juni 1962 datiert ist und erstmals 1966 in Jandls Gedichtsammlung Laut und Luise veröffentlicht wurde. Es gehört zu den bekanntesten und in der Sekundärliteratur am ausführlichsten untersuchten Gedichten Ernst Jandls und ist ein modernes Beispiel politischer Lyrik.

Das Gedicht bezieht sich auf den Wiener Heldenplatz, dessen weitläufige Fläche Adolf Hitler am 15. März 1938 bei der Verkündung des Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich für seine propagandistische Inszenierung nützte. Seine Rede wurde von einer großen Menschenmenge – in der sich auch der zwölfjährige Ernst Jandl befand – bejubelt.

Formal folgt wien: heldenplatz den Regeln einer gewöhnlichen Syntax, jedoch sind zahlreiche Wörter nach Jandls Worten „beschädigt“. Sie sind durch semantisch vieldeutige Wortschöpfungen ausgewechselt, die das Pathos des historischen Geschehens brechen und ihm zusätzliche Bedeutungsebenen verleihen. Dabei bedient sich Jandl hauptsächlich der Motivkomplexe von Jagd, Germanenmythos, Religion und Sexualität.

Das Gedicht besteht aus 15 Versen, die in drei Strophen untergliedert sind. Die erste Strophe widmet sich der Atmosphäre auf dem Heldenplatz. Er ist angefüllt von einer Menschenmasse, die lärmt und von angespannter Hoffnung erfüllt ist. Explizit angesprochen werden die erregten Frauen in der Menge. In der zweiten Strophe tritt der Redner auf, der nicht namentlich genannt wird, sondern durch seinen Haarscheitel und eine heiser geschriene hysterische Stimme charakterisiert wird. Die dritte Strophe fängt den holpernden Sprachduktus des Redners ebenso ein wie den Inhalt seiner Rede, die zur Jagd auf alle Andersdenkenden bläst, und eine erotisierende Wirkung auf die Menschenmasse hat, wobei erneut speziell auf das Hochgefühl der Frauen abgehoben wird.

Laut der Eigenaussage Ernst Jandls lebt das Gedicht von einer „Spannung zwischen dem beschädigten Wort und der unverletzten Syntax“. Von den 69 Wörtern des Gedichts zählt Walter Ruprechter 47 Autosemantika, das heißt Wörter mit lexikalischer Bedeutung. Die Mehrheit unter diesen, nämlich 28 Wörter, sind sprachliche Neuschöpfungen Jandls. Dennoch sind alle Neologismen eindeutig in ihrer syntaktischen Funktion als Substantiv, Verb oder Adjektiv erkennbar, was die Unverletzlichkeit der Syntax bestätigt. Das Gedicht bedient sich also einer konventionellen grammatikalischen Struktur und erhält seinen Effekt durch die Ersetzung der erwarteten Begriffe durch neue, ungewöhnliche und überraschende Kunstwörter mit abweichender und vieldeutiger Semantik.

In der Lautstruktur des Gedichts drückt das Stakkato der dominierenden Plosiv- und Okklusivlaute die Aggressivität des Geschehens aus („döppelte der gottelbock“). Gehäuft treten Zischlaute auf, die bedrohlich wirken, aber auch das Pathos des Geschehens unterlaufen. Jörg Drews benennt etwa „das häßliche ‚z‘“, das immer wieder in die Wörter eingeflickt wird und ihnen einen Anklang von Niedertracht und Vulgarität verleiht. Das Gedicht ist reich an Assonanzen, es herrschen allgemein die hellen, optimistischen Vokale vor. Die zahlreichen schwach betonten Silben im Schwa-Laut erzeugen im Wechsel mit den stark betonten einen wellenförmigen, dynamischen Rhythmus. Es gibt keinen Endreim, aber einen häufigen Stabreim („männchenmeere“, „stimmstummel“, „nöten nördlich“ etc.), was bereits formal den Germanenmythos des Dritten Reichs zitiert. Das Gedicht steht überwiegend im Imperfekt, laut Peter Pabisch der Erzählform der „‚schönen‘ Sprache“, und in der für Jandls Lyrik typischen durchgängigen Kleinschreibung mit doppelter Ausnahme der Wortschöpfung „Sa-Atz“.

wien: heldenplatz wurde zu einem der berühmtesten Gedichte Ernst Jandls. Nach Einschätzung Anne Uhrmachers ist es das „in der Sekundärliteratur wohl am breitesten diskutierte Gedicht Ernst Jandls“, das auch international übersetzt und untersucht wurde. Es gilt allgemein als ein gelungenes Beispiel für politische Lyrik. Jörg Drews sprach von einem „Gedicht, in dem – ein rarer Moment in der deutschsprachigen Literatur angesichts der üblichen literarischen Dürftigkeit politischer Lyrik – die ästhetische Wahrheit nicht hinter der politischen Wahrheit herhinkt, sondern ihr gewachsen ist.“ Und er zog das Fazit: „Das Gedicht gehört in jedes deutsche und österreichische Lesebuch – auf daß die Leser sich die Zähne dran ausbeißen.“

Walter Ruprechter wies insbesondere darauf hin, dass wien: heldenplatz zu einer Zeit erschien, als in Österreich Verdrängung und Restauration vorherrschten und man sich mit der Lebenslüge der ersten Opfer des Nationalsozialismus einrichtete, weswegen das Gedicht „nicht nur künstlerisch-formal, sondern auch moralisch zu würdigen“ sei. Erst mehr als 20 Jahre später sei die Thematik von einem weiteren großen österreichischen Literaten aufgegriffen worden, in Thomas Bernhards Drama Heldenplatz.

 

***

Ernst Jandl und Friederike Mayröcker anlässlich einer Lesung, Wien 1974

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.