Wer dem Tod nicht von der Schippe springen will, der tanzt mit ihm solange bis … Drei Zitate leiten den eben erschienenen voluminösen Gedichtband von Horst Samson ein: von Oswald von Wolkenstein aus dem späten Mittelalter (1377-1445), von dem chilenischen Avantgarde-Lyriker Vicente Huidobro (1893-1948) und dem renommierten Erzähler und Aphorismen-Dialektiker Hanns-Hermann Kersten (1928-1986). Zwei unter ihnen bescheinigen dem Tod eine reinigende wie auch eine zeitverknappende Funktion, das dritte bezieht sich auf das Leben, das „nach Ferne duftet“. Und der so irritierte Lyrik-Liebhaber wirft noch einmal einen Blick auf die Vorderseite des eindrucksvoll gestalteten Paperback-Bands: ein Knochenmann, der Tod, hantiert dort mit einer rot schillernden Kugel, augenscheinlich unserem Erdball. So viermal auf den noch lebenden Tod eingestimmt, nähert er sich der Ouvertüre: „Das unbehauste Ich“ mit einem Goethe-Zitat aus „Faust I“, in dem der Tod nicht aus dem Gedächtnis gestrichen wird. Ein Auftakt also, mittelalterlich, klassisch und avantgardistisch gemischt, zu den 102 Gedichten und zu den 23 eindrucksstarken Mischtechnik-Zeichnungen von Gert Fabricius (geb. 1940), einem aus Bukarest stammenden, seit 1977 in Deutschland lebenden Künstler. Mit ihm verbindet der Autor, wie die „Suite für Gert“ (vgl. 181f.) nachweist, ein besonderes „metaphysisches“ Verhältnis. Er warnt ihn flehentlich vor den verführerischen sinnlichen und kommunikativen Kräften, und jenem stets wachen Beelzebub, der Tag und Nacht auf „der Suche nach Kundschaft“ ist, um „Herzinfarkte einzusammeln und letzte Seufzer.“
Diese am 27. Mai 2021 entstandenen Verse schließen – mit Ausnahme von den drei (!) abschließenden Texten („Also sprach das Nichts“, „In den Kathedralen“ und „Geniestreich“) – das im Inhaltsverzeichnis vermerkte „Nocturne für ein Klavier“ fehlt – einen Gedichtband ab, der in acht thematische Bereiche gegliedert ist. Der dem siebenbürgischen Schriftsteller-Kollegen Anton Sterbling gewidmete Auftaktzyklus „Verscharrte Zeit. Ode an die Grenze“ beschäftigt sich mit den unauslotbaren Grenzen unserer Träume und unserer Sehnsucht nach der Überwindung von realen, politisch erzwungenen Grenzen. Im Bereich „Das Leben zerfließt zur Träne“ erregt das Eingangsgedicht „Die kurze Ballade vom Tod“ für einen kurzen Augenblick die Aufmerksamkeit des Lesenden, weil die „Amnestie für Sünder“ den ironischen Kommentar des lyrischen Ich hervorruft, das den freien Dialog mit dem Himmel und nicht den christlichen Gnadenakt vorzieht. Die zwischen den Seiten 26/27 abgebildete Zeichnung in Mischtechnik bildet insofern eine gelungene gedankliche Brücke zwischen dem frei flotierenden, in einem Boot aufrecht stehenden Menschen, der augenscheinlich verletzt, mit anderen Menschen den Dialog sucht, zugleich mit den mythengleichen Geschöpfen aus den überlieferten antiken Legenden.
Die auch in diesem Themenbereich im Verlauf von mehr als zehn Jahren entstandenen Gedichte, die meist in einem Staccato-Rhythmus mit einer variierenden Anzahl an Verszeilen pro Strophe zu Papier gebracht sind, erhalten durch die konsequente Großschreibung der Buchstaben zu Beginn der jeweilige Zeile eine eigenwillige Aussagekraft, die aufgrund des überwiegend angewandten Prinzips des Zeilensprungs dem jeweiligen Vers sowohl eine Abgeschlossenheit als auch eine Leichtfüßigkeit der Aussage verleiht. Auf diese Weise springt auch die imaginäre Kraft der Todesnähe zwischen natürlichen Abläufen und den im Gehirn stets präsenten Todesvisionen unerbittlich hin und her, und überwindet damit jegliche Grenzmarkierungen. Ein besonders anschauliches Beispiel ist das Gedicht „Blende Acht“, in dem ein Geräusch in einem menschlichen Schädel, das durch ein Kriegskonzert hervorgerufen werden, auf reale kriegerische Handlungen übertragen wird. Dieses Geräusch wird ausgelöst durch die Wucht einschlagender Gewehrkugeln und Granaten und erzeugt den Eindruck zerfetzter menschlicher Leiber. Es fließt damit in die imaginierte Realität des tobenden Krieges ein: „je länger / Der Krieg/ Umso tiefer blickt das Auge / Ins Nichts.“ (S. 37)
Es zeichnet das politisch und moralisch engagierte Schaffen von Horst Samson aus, das er in diesem Gedichtband auch dem tragischen Schicksal und dem Leid jüdischer Dichter*innen eine Reihe von Texten gewidmet hat. Dazu gehören: „Hinter mir“ – Ein Nachruf auf Paul Celan, „Variationen auf Blitzlicht“, „Blitzlicht I“, „Unterm Stiefel“, für Miklos Radnoti; „Das Übergeordnete“, mit einer aus Nelly Sachs‘ „In den Wohnungen des Todes“ zitierten Strophe. Zu diesen einfühlsamen Texten gehört auch das bereits seinem Gedichtband „Das Meer im Rausch“ (2019) abgedruckte „SANARY – SUR—MER“. In ihm werden die Flucht und die Endstation von 68 deutschen und österreichischen Schriftstellern*innen in dem französischen Fischerdorf beschrieben. Unter den Flüchtenden waren zahlreiche jüdische Exilanten, die auf der Flucht vor den Nazis waren. Seinem Schicksal als Emigrant entkommen wollte auch der aus dem Banater Bergland stammende Dichter Rolf Bossert (1952-1986), als er sich in den Tod stürzte. Ihm ist im Kapitel ‚Der Schnee ist rot‘ ein tief bewegendes Gedicht gewidmet.
Ein besonderer Zyklus innerhalb des thematisch leider überbordenden Gedichtbandes ist das 2020 entstandene Gedicht „Das Übergeordnete“. Es ist eine aus 12 Abschnitten bestehende „Hommage“ an einen unermüdlich wirkenden Tod, der mit vielen psychischen Eigenschaften ausgestattet ist und zugleich gefühllos und gefühlsstark unermüdlich seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht, nämlich denen zu helfen, die sich verabschieden vom Leben. Der lyrische Erzähler kommentiert diese Aufgabe wie folgt. Der Tod sei ein Einzelgänger, weder Schnaps noch Likör trinke er, Roulette spiele er nicht, weder Aktien noch Geld interessieren ihn, eine Geliebte habe es ebenso nicht wie er an Gott glaube, überhaupt ein Langweiler sei er, auch die Blumen, mit Ausnahme der Chrysanthemen, mag er nicht, aber Philosophie studiere er, warum? Lesen Sie selbst, wie raffiniert der Dichter dem Tod nachspürt mit vielen amüsanten Vermutungen. Ein Genuss zu lesen und zu hören! Und fast am Ende des Zyklus wartet dann der grafisch überbordend gestaltete „Leiermann“ von Gert Fabritius, der dem Tod eine überwältigende Gestalt verleiht!
Eine philosophische Dimension zeichnet den Zyklus „Der Tod sitzt auf der Bank“ aus. In ihm führt der Tod mit den zum Tode geweihten Seelen nicht endende Gespräche, ohne tief bewegt zu sein: In KONSTELLATIONEN sitzt „Der Tod […] auf der Bank/ Vor dem Haus, raucht genüsslich / Eine Zigarette und zählt Sterne./ … / „Jeder macht mal eine Pause“/ Trällert der Tod vor sich hin/ Er (be)eilt sich /nicht, der Tote im Haus hat Zeit,“. (S. 110). Eine von biografischen Elementen durchdrungene Todesvision enthält das Triptychon „Tango Mortis“ mit dem Motto „Gott ist tot“, frei nach Friedrich Nietzsche. Es verweist auf den „Steppenwolf vom Balagan“, eine autobiografische Assoziation an die Kindheit des Autors, die im lyrischen Werk von Samson immer wieder als Ort der Verbannung auftaucht und mit dem „kalten Crivat“, aber auch mit Odysseus in Verbindung gebracht wird. Unter den folgenden „Konstellationen“ sind vor allem drei komplexe Gedichte hervorzuheben: das dem Tod vom Leonard Cohen gewidmete Gedicht, in dem die durch „You Tube“ eilenden Fans auf der Suche nach dessen Liedern poetisch besonders gelungen sind; der Brief an Fernando Pessoa und das Samuel Paty gewidmete Gedicht, dem Lehrer an einer französischen Mittelschule, der von einem aus Tschetschenien stammenden, im Geiste Mohammed erzogenen Jungen enthauptet, weil sein Lehrer das Recht auf Meinungsfreiheit im Unterricht lehrte.
Die Vielfalt der in diesem voluminösen Gedichtband behandelten Todesimaginationen und Todesvisionen, wie auch deren thematische und rhythmische Umsetzung erlaubt bislang nur eine vorläufige kritische Würdigung. Hervorzuheben sind der spielerische und zugleich couragierte Umgang mit einem metaphysisch gewaltigen Feld, auf dem riesige Textfelder mit dem Todessujet angesiedelt sind. Umso mutiger ist dieser gebündelte gelungene Versuch, dem Gevatter Tod so viele Visionen, Gefühle und ungewöhnliche Empfindungen anzubieten. Wer mit dem gewaltigen Werk des Dichters Samson ein wenig vertraut ist, der wird nun auch den Mut haben, nach dessen Spiel mit dem Meer, der Zeit und dem Feuer sich an eine Monografie über sein Werk wagen. Nur zu, es lohnt sich!
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Der Tod ist noch am Leben. Gedichte von Horst Samson. Mit 23 Zeichnungen von Gert Fabricius. Ludwigsburg (Pop-Verlag) 2022
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.