Das geschlechtsneutrale they

Im August 2020 gab Tempest auf Twitter bekannt, fortan den Namen Kae zu tragen und statt der bisherigen Pronomen she/her (weiblich: „sie/ihr“) das geschlechtsneutrale they zu verwenden (im Deutschen nicht übersetzbar).

 

Wer heftige verbale Artikulationen auf seiner Haut spüren will, der sollte sich vor der Rezitation der vorliegenden Gedichte noch die zahlreichen Youtube-Aufzeichnungen der englischen Performance-Auftritte vo Kae Tempest anhören und anschauen. Die kongeniale Verknüpfung von Sprechgesang und Bewegung führen den so gebannten Liebhaber von Performance-Lyrik unmittelbar in das Zentrum der „Entfesselung“ und erleichtern den Zugang zu den gedruckten Versen. Vibrationen, so der deutschsprachige Titel, und das Zitat „My body was like a harp and her words and gestures were like fingers running upon the wires“ aus James Joyce’ „Dubliners“, stimmen in einen Gedicht-Band ein, der bereits durch seine thematische Gliederung aufmerksam macht: das Ende, die Mitte, der Anfang. Doch die Vermutung, die Dichterin schreibe, singe und tanze ihre performativen Bekenntnisse im Widerspruch zum Ablauf ihrer persönlichen lebensweltlichen Erfahrungen, trügt. Vielmehr zeugen bereits ihre zuerst abgedruckten „lebensendlichen“ Gefühle von einer intensiven Lust an der widersprüchlichen Welt, die von einem „geboren, geboren, geboren in dir/ Als wärst du geboren in mir“ im Eingangsgedicht zeugt. Es sind rhythmische Attacken, deren sprachliche Umsetzung sowohl im englischen Original als auch in der deutschen Übertragung beim Nachlesen einen, nicht dem sprachlichen Ursprung geschuldeten Rhythmuswechsel, hervorruft. Kaum ist der melodiöse englische Rhythmus im Ohr, da breitet sich bereits die oft ruhigere deutsche Version im Ohr und vor dem Auge aus. Ein Vergleich, der nicht ausschließt, dass die deutschsprachigen Übertragungen von Johanna Davids die lakonische englische Version mit saloppen Übertragungen toppen. Wie heißt es doch in „Poem to a Barmaid“: „I stand before you, dumb as mud, breathless at the bar“, was auf deutsch lautet: „Ich steh vor dir, dumm wie Brot, krieg kaum Luft.“

Soweit der Versuch, die vorwiegend sehr gelungenen Übertragungen ins Deutsche in den Duett-Gedichten zu werten. Da geht es um Bettwäsche, um wogende Horizonte, um das Begehren und die Sehnsucht nach der Anderen, um festgekrallte Hüften, um die Wonnen aneinander geschmiegter weiblicher Körper. Es sind Eindrücke, die zeigen, dass auch der Mittelteil der „Vibrationen“ eine Fülle von gelungenen Übertragungen aufweist. Wie die „Aftershowparty“ zum Beispiel. Dort pastet die zweite Strophe:“Show-techs, blue-faced form phones, text home“ hinüber zu „Roadies mit smartphonelichtblauen Gesichtern texten nach Hause“, und das Ende der Party gestaltet sich so:  „führ mich an einen ungestörten Ort und fick mir das schwere / Hirn aus dem Kopf“ (S. 51/53). Doch nicht immer gelingt es, das Feuer der Liebe im anderen Körper der Liebsten zu entfachen. In „Feuerwerk“ kam die Frau „in mein Leben / Wie Feuer in nasses Waldgebiet/ Ich war ein Loch im Boden / voll klammem Moderholz / Sie war der Funke /Wir taten uns schwer / Wir entflammten nicht recht / …

Und dennoch: die tiefen, spontanen Bekenntnisse zur verinnerlichten, stets den Körper der Anderen spürenden Geliebten bilden gleichsam den lyrisch-performativen Höhepunkt des vorliegenden Gedichtbandes. „Das Erste Wochenende Draußen“, so der prosaische Titel, dem eine flammende Hingabe folgt: „Wir haben uns von früh bis spät geliebt. Von früh bis spät./ Vom Schlafzimmer zum Flur und dann draußen (der Hund musste raus)“ (wobei die O-Fassung im letzten Teil viel drolliger klingt: the dog needed walking!). Und nach einer aufwallenden Hingabe erwartet die sich Liebenden im Schlafzimmer das Geräusch des Meeres, das „brüllt und sich selbst unterwirft.“

Kae Tempests Liebeslyrik erfasst eine Fülle von naturhaften Abläufen, die den Akt der gegenseitigen Hingabe mit ungewöhnlichen Bildern besetzt. In „Gut“ (Well) kreieren die Kurven der Brüste ihren ganzen Horizont; ein „weites Flachland“ macht aus der Zeit „ein Portal / Zu einem anderen Ort, der in Wellen / Bebt und zuckt und sich weitet.“ Und „die Feuchte ihres Mundes ist ein Ozean, den ich / ersegle …“ In diesem Liebesrausch sieht sie sich selbst „im Spiegel des Teiches.“ Mehr noch: „Sie ist Vokalmusik. Chorisch / Der Rest ist Lachen aus der Konserve.“

Kae Tempest, die in der Lyrik-Reihe des Suhrkamp Verlags nunmehr zum dritten Mal vertreten ist, verzaubert ihre Leserinnen und vielleicht auch manche Leser mit einer Fülle an ungewöhnlichen Bildern, die den deftigen und zugleich geschmeidigen Rhythmus von sich liebenden weiblichen Körpern erfassen und ihn zugleich in gegenläufigen Lebensabschnitten zum Tanzen bringen. Ihre poetisch aufgeladenen Auftritte zeugen von aufrichtigen Gefühlen, die sie ungeschminkt mit aller ihr eigenen Hingabe präsentiert. Es sind Gedichte, aus denen der Spaß am Leben mit überquellender Heiterkeit dem lesend Tanzenden gleichsam entgegenspringt!

 

 

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Running Upon The Wires / Vibrationen – Gedichte von Kae Tempest. Englisch und Deutsch. Aus dem Englischen von Johanna Davids. Suhrkamp, 2020

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