„agerkrokodil“ lautet der klingende Name des Debuts von Julia Steinbichler. Ein klingender Titel, der neugierig macht – und dabei auch noch mehr als hält, was er verspricht! Denn die 1992 in Vöcklabruck geborene Jungautorin versteht es, jenseits gängiger formaler Strukturen Geschichten zu erzählen wie kaum eine Frau ihrer Generation in der österreichischen Gegenwartsliteratur.
Bereits die Aufmachung des Bandes macht neugierig: „agerkrokodil“ ist in einzelne blockartige Kapitel gegliedert, von denen allein die Titel schon an poetische Werke grenzen: So beginnen wir – nomen est omen – mit dem Kapitel „zwiebelburg“ und arbeiten uns dann schichtenartig von „baywatch“ weiter nach „wean“ – um irgendwann wieder in der Zwiebelburg zu landen.
Bereits vor doch etwas längerer Zeit bauten Philosophen wie Walter Benjamin auf das Wesen der Collage: Die Tradierbarkeit würde seiner Meinung nach der Zitierbarkeit weichen: Damit, dass eine wachsende Ausdehnung der Presse passierte, gerieten immer mehr Lesende in die Situation, auch Schreibende zu werden, so der Philosoph. Man denke nur an die Entstehung der sogenannten „Briefkasten“ in der Tagespresse. Durch diese wichtige historische Entwicklung verlor die Trennung zwischen Autor und Rezipient, so Benjamin, nach und nach ihren grundsätzlichen Charakter. Der Lesende kann sich jederzeit in einen Schreibenden verwandeln – genau so, wie Aufklärung in Mythos umschwappen kann – und umgekehrt. So wird die Befugnis, sich literarisch zu betätigen, zum Allgemeingut. Partikel aus Texten, Bildern und Musik können daher aufgenommen und in die eigenen Werke mit hinein verwoben, zitiert werden.
Zitiert, collagiert und spielerisch mir Versatzstücken gearbeitet wird auch bei Julia Steinbichler häufig – und schon diese Tatsache macht angesichts der formal oft unspannenden Litera-tur der Gegenwart staunen. Und die Autorin weiß, was sie tut: Die lyrischen Texte, die sich bei ihr kaum je über mehr als eine Seite erstrecken, changieren in Farbe und Ton. Da gibt es lautmalerische Gedichte, die mit onomatopoetischen Repeti-tionen wie „knax knax“ arbeiten, gereimte Stellen wie „das ist was/das macht spaß“ oder – besonders kess – „jeder will kosten den süßen nektar/den du versprühst hektar um hektar“, aber auch eingefügte RAP- Songs, Traum-Schilderungen und Kursiv-Stellen, bei denen es sich meist um Sprechakte handelt, die den restlichen Text in irgendeiner Weise erweitern, in Frage stellen und/oder neu strukturieren.
So spielerisch und leichtfüßig das klingt, so erschütternd sind jedoch die Inhalte, an die sich die Autorin gesellschaftskritisch heranwagt. In kurzen Blöcken, kaum mehr als Momentaufnahmen, fächert sie vor unserem Auge ein Kaleidosokop aus Biographien aus, die sich von Anna über Diana weiter zu Wolfgang und der Raketenfrau Frieda hangeln. Dass die verschiedenen Lebensentwürfe alles andere als harmlos sind, wird bald klar, wenn es – wie könnte es bei der Darstellung einer österreichischen Familienstruktur anders sein – um die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, oder aber um die nach wie vor alles andere als ideale Stellung der Frau in der Gesellschaft geht. Kurz vor der „Reprise“, die sich „nach- wort“ nennt, geht Julia Steinbichler noch einmal aufs Ganze, wenn in „Ein großes Finale“ die Familie noch einmal bei einer Feier zusammen trifft. Und auch an selbstreferentiellen Zügen darf es freilich nicht fehlen, wenn es im letzten Gedicht ganz unemotional heißt: „papa, gleich bist du tot“.
Ein Buch, mit dem man immer wieder auf Entdeckungsreise gehen kann – also, auf zu den Krokodilen!
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agerkrokodil, von Julia Steinbichler. Edition Melos 2022
Weiterführend → Die Redaktion blieb seit 1989 zum Mainstream stets in Äquidistanz.
→ 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie
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