Sprachen lernen ist ein physisches Vergnügen. Worte sind irgendwie persönlich und verblüffend.
Jorge Luis Borges
Wir betrachten auf KUNO in 2024 „Lyrics“ als eine Form der Poesie. Die Lyra ist eine antike Harfe, ein Symbol für die Lied- oder Dichtkunst, sie leitet von dieser auch die Lyrik ab, also eine Dichtkunst, welche mit der Begleitung durch die Lyra vorgetragen wurde. Im 20. Jahrhundert ist zu Begleitung von Lyrics eine elektrische Geige dazugekommen. Die Redaktion postulierte bereits vor einiger Zeit: „dass moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen oder die visuelle Poetin Angelika Janz und die Multimedia-Artistin Laurie Anderson nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär.“ Anderson ist das, was Leonardo da Vinci als „una donna universale“ bezeichnet hat. Sie ist eine vielseitige Künstlerin, Autorin, Filmemacherin und Entdeckerin, die sich von Wissenschaft und Technologie inspirieren lässt. Und sie hat eine bemerkenswerte Begabung fürs Geschichtenerzählen.
Mit Performance Art hinterfragten Artisten die Trennbarkeit von Künstler und Werk sowie die Warenform traditioneller Kunstwerke.
Als Performerin trat Anderson in den 1970er Jahren in New York auf, sie begann ihre Laufbahn als Performancekünstlerin zwischen Body Art und autobiographischer Kunst. Sie ist eine Künstlerin, deren Werk sich jeder einfachen Beschreibung entzieht. Als klassisch ausgebildete Geigerin begann sie ihre Fähigkeiten 1974 in ‚Dusts on Ice‘ einzusetzen, einem Freiluftstück. Sie spielte neben einer Aufnahme Geige, während sie Schlittschuhe trug, deren Kufen zu einem Eisblock eingefroren waren; Die Aufführung endete erst, als das Eis geschmolzen war. Andere frühe Stücke, wie New York Social Life und Time to Go, sind zusammen mit Werken von Pauline Oliveros und anderen in der Zusammenstellung New Music for Electronic and Recorded Media von 1977 enthalten. Weitere Stücke wurden auf Airwaves aufgenommen, einer Sammlung von Audiostücken verschiedener Künstler. Sie nahm auch einen Vortrag für Vision auf, eine Reihe von Künstlervorträgen, die von Crown Point Press als Satz von sechs LPs veröffentlicht wurden.
Performance ist ein interpretativer Begriff. Widerspruch und Meinungsverschiedenheit sind darin enthalten, eine allgemeinverbindliche Definition ist in diesem Sinne unmöglich. Die Widersprüchlichkeit rivalisierender Deutungen und Bedeutungen ist ihr wesentlicher Bestandteil.
Viele von Andersons frühesten Aufnahmen blieben unveröffentlicht oder wurden nur in begrenzter Auflage veröffentlicht, wie zum Beispiel ihre erste Single It’s Not the Bullet that Kills You (It’s the Hole). Dieses Lied wurde zusammen mit New York Social Life und etwa einem Dutzend anderer ursprünglich für die Verwendung in einer Kunstinstallation in der Holly Solomon Gallery in New York City aufgenommen, die aus einer Jukebox bestand, auf der die verschiedenen Anderson-Kompositionen abgespielt wurden. Zu den Musikern dieser frühen Aufnahmen gehören Peter Gordon am Saxophon, Scott Johnson an der Gitarre, Ken Deifik an der Mundharmonika und Joe Kos am Schlagzeug. Fotos und Beschreibungen vieler dieser frühen Aufführungen wurden in Andersons retrospektives Buch Stories from the Nerve Bible aufgenommen.
Mit ihrer Violine erzeugt Laurie Anderson die Sprachkraft der reinen Instrumentalmusik.
Wenn wir uns an Andersons erste Performance in den 1970er Jahren erinnern, so entwickelte sie dafür den Viofonografen, eine Violine mit einer aufmontierten 7″-Single, über die sie den Violinenbogen strich. Die Bandbogengeige ist ein 1977 von Laurie Anderson entwickeltes Instrument. Sie verwendet ein bespieltes Magnetband anstelle des traditionellen Rosshaars im Bogen und einen Magnetbandkopf im Steg. Die Artistin hat dieses Gerät im Laufe der Jahre aktualisiert und modifiziert. In ihrem Film Home of the Brave ist sie mit einer späteren Generation dieses Geräts im Late Show-Segment zu sehen, in dem sie einen von William S. Burroughs aufgenommenen Satz manipuliert. Diese Version der Geige verwendete MIDI-basierte Audiosamples, die durch Kontakt mit dem Bogen ausgelöst wurden.
In den späten 1970er Jahren machte Anderson eine Reihe zusätzlicher Aufnahmen, die entweder privat veröffentlicht oder in Kompilationen avantgardistischer Musik aufgenommen wurden, insbesondere Veröffentlichungen des Labels Giorno Poetry Systems des New Yorker Dichters John Giorno, einem frühen Vertrauten von Andy Warhol. 1978 trat sie auf der Nova Convention auf, einer großen Konferenz, an der viele Persönlichkeiten der Gegenkultur und aufstrebende Avantgarde-Musiker teilnahmen, darunter William S. Burroughs, Frank Zappa, Timothy Leary, Malcolm Goldstein, John Cage und Allen Ginsberg. Ende der 1970er Jahre arbeitete sie auch mit dem Komiker Andy Kaufman zusammen.
Hello? Is anybody home? Well, you don’t know me,
But I know you.
And I’ve got a message to give to you.
Here come the planes.
Ihr erstes Album Big Science umfasst Lieder aus Andersons vorausschauendem US-Projekt, einem multimedialen Performance-Kunststück mit Oper („Es schien, als würde jeder, den ich kannte, an einer Oper arbeiten“, erinnert sie sich), das Amerika am Rande der digitalen Revolution und des kapitalistischen Nirvana darstellt, wo der Dollar die Tradition übertrumpfte. Das Album hat eine immense Struktur, großzügig demokratisch, ebenso zugänglich wie rätselhaft – und es weckt zumindest die Neugier bei jedem, der ihm zum ersten Mal begegnet. Andersons atypische Stücke sind textlastig und ironisch, abenteuerlich und intelligent, mit Vocoder, Violine und gesampleten deutschen Tonbandstimmen versehen, ist Big Science eines der interessantesten Alben der 1980ger. Die Performerin löst keine Rätsel, sie tut so, als hätte sie gar keins gestellt, schickt ihre Stimme durch einen Vocoder und bringt gnadenlos den universellen „Verlust der Aura“ (Walter Benjamin) im Bit-Zeitalter auf den Punkt. Sie hat die Fähigkeit, Text, Theater, Musik, Bildende Kunst und neue Medien zu einem homogenen Ganzen zu verschmelzen. In der selbstgewählten Tradition der Barden und Minnesänger erzählt sie in ihren Performances mit Vorliebe Geschichten aus ihrem ereignisreichen Leben. Der Hörer irrt genauso durch die Erzählungen und findet darin das Motiv der Verlorenheit. Diese Songs erscheinen wie eine parodistische Kritik an der Banalität des Interaktiven. Anderson tritt gern in Interaktion mit dem Hörer. Auch hier durchbricht die die Konvention, als Autor unsichtbar zu bleiben. Träume, Gedichte, Legenden oder mythische Erzählungen verbünden sich mit der Musik und den Bildern zu einzigartigen Multimedia-Shows. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie 1981 mit ihrer elfminütigen Single O Superman (For Massenet) bekannt, mit der sie Platz 2 der britischen Singlecharts erreichte. Dieses Stück war eine Reaktion auf die Iran-Contra-Affäre – und dieser „Song“ war der unwahrscheinlichste Hit der Popgeschichte.
O Superman… war mit nichts anderem vergleichbar, und Laurie Anderson war auch mit niemandem sonst vergleichbar.
Margaret Atwood
Nicht viele Künstler verändern die Art und Weise, wie wir den Sprachgebrauch in der Musik betrachten und wahrnehmen, aber versteht, dass gängige Ausdrücke allein durch Kontext, Phrasierung und kleine Wendungen dessen, was erwartet wird, stark verändert werden können. O Superman war Teil eines größeren Bühnenwerks mit dem Titel United States und war auf dem Album Big Science enthalten. Anderson ist eine versierte Remixologin, die ihre eigenen Inhalte in Einzelteile zerlegt und sich im Live-Performance-Modus neu kontextualisiert. Vor der Veröffentlichung von Big Science kehrte Anderson zu Giorno Poetry Systems zurück, um das Album You’re the Guy I Want to Share My Money With aufzunehmen; Anderson nahm eine Seite des Doppel-LP-Sets auf, wobei William S. Burroughs und John Giorno jeweils eine Seite aufnahmen, und die vierte Seite enthielt für jeden Künstler einen eigenen Groove. Es folgten die aufeinanderfolgenden Veröffentlichungen ihrer Alben „Mister Heartbreak“ und „United States Live“, wobei es sich bei letzterem um eine Aufnahme ihrer zwei Abende dauernden Bühnenshow im Brooklyn mit fünf LPs (und später vier CDs) Akademie für Musik handelte. Sie trat auch in einer von Nam June Paik produzierten Fernsehsondersendung mit dem Titel „Guten Morgen, Mr. Orwell“ auf, die am Neujahrstag 1984 ausgestrahlt wurde.
Wir erinnern uns: Georg Orwell sieht in seinem 1948 entstandenen Roman ´1984` das Fernsehen der Zukunft als das Kontrollinstrument des diktatorischen „Großen Bruders« in einem totalitären Staat. Pünktlich zum 1. Januar des Orwell-Jahrs 1984 will Paik zeigen, dass Satelliten-Fernsehen auch positiven Zwecken dienen kann, so der Mischung von E- und U-Kultur und ihrem Austausch zwischen den Kontinenten. Mit einer Live-Sendung zwischen dem WNET 13 TV in New York und dem Centre Pompidou in Paris sowie einer Zuschaltung von Sendern in Deutschland und Korea erreicht er über 10 Millionen Menschen, inklusive der späteren Wiederholungen sogar über 25 Millionen weltweit. Sein schon mit dem Videotape Global Groove 1973 entwickeltes Konzept eines TV-Austauschs zur Völkerverständigung wird nun erstmals in Echtzeit mittels Satellit erprobt. Viele technische Pannen lassen das Resultat anders werden als geplant, doch dies steigert – laut Paik – das Live-Erlebnis. Der Versuch, Mainstream-TV und Avantgarde-Kunst zu mischen, ist eine typisch Paiksche Gratwanderung, die beim seriösen Kunstpublikum eher auf Vorbehalte stößt als bei „jungen, medienversierten Leuten, die auf den 20 New Yorker TV-Stationen wie auf einem Klavier spielen“. Paik hat persönlich viel Geld in das Projekt investiert, um seine Vision zu verwirklichen.
Sun’s coming up. Like a big bald head
Poking up over the grocery store
It’s Sharkey’s day. It’s Sharkey’s day today
Mister Heartbreak ist das zweite Studioalbum der amerikanischen Avantgarde-Künstlerin, Sängerin und Komponistin, das im Februar 1984 von Warner Bros. Records veröffentlicht wurde. Wie sein Vorgänger Big Science enthält Mister Heartbreak überarbeitete Elemente von Andersons Performance-Stück United States Live (Langue d’Amour, Kokoku und Blue Lagoon). Allerdings stellte Anderson auch neues Material vor (Sharkey’s Day / Sharkey’s Night und Gravity’s Angel), während Excellent Birds, geschrieben in Zusammenarbeit mit Peter Gabriel, für die Installation Good Morning, Mr. Orwell des Videokünstlers Nam June Paik geschrieben wurde.
Das Album Mister Heartbreak umfasst einen Songzyklus, dramaturgisch zusammengehalten vom ersten und letzten Titel, der Tagträume / Erinnerungen des Titelhelden beschreibt, so sind die Exzellenten Vögel Atombomber, die Blue Lagoon die Zuflucht für westliche Aussteiger. Musikalisch macht Laurie Anderson minimalistische Musik mit Sprechgesang, fiktiven Dialogen und Soundmalereien.
Schon mit Sharkey’s day entführt uns die Künstlerin in ihr Klanguniversum mit afrikanisch / südamerikanischen Klängen, Urwaldsamplen aus dem Synclavier, Aggro-Gitarren von Adrian Belew und dazu ihr Sprechgesang mit lyrischem Kontrast im Refrain. Trotz Andersons Abneigung gegen Gitarren bei Big Science änderte sie bei Mister Heartbreak ihre Herangehensweise und nahm die Dienste des King-Crimson-Gitarristen in Anspruch, der auf vier Tracks auftrat. Belew erinnerte sich, dass Anderson sich Sharkey’s Day ursprünglich als ein „Hoedown-artiges Gefühl“ vorstellte, bei dem ein Instrument im Mittelpunkt stand, das einer Maultrommel ähnelte. Bei der Beschreibung seiner Herangehensweise an das Lied erklärte Belew:
Ich fühlte mich zu einem sehr aggressiven Klang eines Pedals namens Foxx Tone Machine hingezogen, einem Oktav-Fuzz-Pedal, dessen Klang dem Soloklang in Jimi Hendrix‘ Purple Haze ähnelt.
Anschließend überarbeitete Anderson Sharkey’s Day, um Belews Gitarren-Overdubs Rechnung zu tragen.
Langue d’amour tönt elektronisch, ihre Stimme erzählt leicht verfremdet per Vocoder eine Geschichte, minimalistisches aus den diversen Geräten – spartanisch und reduziert auf das Wesentliche untermalt diese Geschichte und erst in der zweiten Hälfte gibt es dann noch stärker verfremdet den gesungenen Refrain. Das Rhythmusbett für dieses Stück ist faszinierend. Was wie ein völlig zufälliger Rumba-Rhythmus klingt, zieht sich durch das gesamte über sechs Minuten lange Lied, ohne dass es eine Wiederholung gab. Der erste Satz war das minimale musikalische Bett, bestehend aus dem scheinbar unregelmäßigen Rhythmus mit einigen spärlichen Synthie-Patches, die über die Landschaft wehten, und den elektronischen Muscheln. Anderson erzählte in der ersten Hälfte des Lieds eine paradiesische Fabel, während der zweite Satz auf ihre Erzählung für Vocoder-Gesang verzichtete … auf Französisch.
Gravity’s Angel dagegen pendelt zwischen Sprechen und Gesang, Bill Lawell legt darunter einen prägnanten Bass und schon geht es weiter bester Gabriel Manier, der diesen Titel auch produzierte und beim Refrain die zweite Stimme singt. Gravity’s Angel entlehnt Bilder von Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow“ aus dem Jahr 1973. Anderson hatte „aus diesem Buch eine Oper machen wollen … und fragte ihn, ob das in Ordnung wäre … Er sagte: ‚Sie können es tun, aber Sie können nur Banjo verwenden.‘ Und so dachte ich: „Na ja, danke. Ich weiß nicht, ob ich das so machen könnte.
Kokoku ist eine minimalistische Geschichte frisch aus Afrika – fragil und zerbrechlich mit japanischen Chören von Amerikanerinnen gesungen! Im zweiten Teil mixt sie auch japanische Instrumente dazu – ein surreales Kleinod.
Blue Lagoon enthält Anspielungen auf andere Meeresgeschichten: William Shakespeares „Der Sturm“ und Herman Melvilles „Moby-Dick“ (ein Thema, das sie später wieder aufgreifen sollte). Es ist elektronischer Minimalismus aus perlenden Rhythmen und kurzen Phrasen. Dazu spielt sie diverse Samples aus dem Synclavier, die dem Titel abermals eine Dschungel, bzw. Südseeathmossphäre verleihen.
Abschließend afrikanischen Rhythmen über die William S. Burroughts seine Erzählung Sharkey’s night rezitiert. Ein Stück das am ersten Titel anknüpft und den dramaturgischen Kreis schließt. Ihrer Leidenschaft zu Multimedia-Spektakeln gibt sich Anderson in zahlreichen Projekten hin. In Deutschland präsentierte sie 1989 auf ihrer Tour Strange Angels zum gleichnamigen Album nahezu alle Lieder sowie die Performance in deutscher Sprache:
Ihren Klang. Ich verstehe die Sprachen
Ich verstehe die Sprachen nicht
Ich höre nur Ihren Klang
Die Veröffentlichung von Andersons erstem Post-Home of the Brave-Album, Strange Angels aus dem Jahr 1989, wurde um mehr als ein Jahr verschoben, damit Anderson Gesangsunterricht nehmen konnte. Dies lag daran, dass das Album (in Bezug auf den Gesang) musikalischer ausgerichtet war als ihre vorherigen Werke.
Mit diesem Album versuchte sich Anderson von ihrem früherem Image als Performancekünstlerin zu lösen und in einen eher musikalischen Bereich zu wechseln. Obwohl Musik immer Teil ihrer Performance gewesen war, stand sie nie so sehr im Vordergrund wie auf Strange Angels. Anderson sang auf diesem Album mehr als auf früheren Alben. Infolgedessen verzögerte sich die Fertigstellung dieses Albums um fast ein Jahr, als Anderson beschloss, Gesangsunterricht zu nehmen; dabei entdeckte sie, dass sie Sopranistin war.
Als Komponistin verfügt sie über die Gabe, Songs mit Melodien fernab vom Mainstream zu schreiben. Rundum fallen ihre Lieder stets etwas anders aus. Einer der Schwerpunkte bezüglich der Arrangements liegt bei der Percussionabteilung. Dann findet der Hörer sehr feinfühlig clever Songs, die mit wenigen Instrumenten auskommen und dennoch eine beeindruckende Atmosphäre ausstrahlen. Einige Tracks wurden gar ganz ohne Drums eingespielt und zusammen mit Bobby McFerrin hat sie den Schmeichler „Ramon“ gesungen. Die Kombination aus Singen und emotional gesprochenen Worten hat eine unwiderstehliche Intensität und unter diesem Gesichtspunkt sollt man sich The Day The Devil anhören. Hier gibt es flirrende Percussion, einen Chor mit Gospelfeeling und die vokale Akrobatik erzeugt eine Gänsehaut. Im Kontrast dazu gibt es in Babydoll fetzige Bläser.
Einer der Songs auf diesem Album ist The Dream Before (auch bekannt als „Hänsel und Gretel sind gesund und munter“). Dieser Song The Dream Before enthält ein Zitat „Der Engel der Geschichte“ muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ und zitiert Walter Benjamins Betrachtungen zu Pauls Klees Gemälde Angelus Novus. Diese Alchemistin der Ambivalenz stolpert über große Wahrheiten und kleine Offenbarungen, verpackt diese oberflächlich gehört in Pop. Es ist bei weitem ihr eingängigstes Album und auch das charmanteste. Die Reaktionen auf Andersons neue Richtung waren gemischt.
Einige Kritiker lobten ihren neuen Stil, andere warfen ihr vor, ihre Wurzeln in der Performancekunst aufzugeben, obwohl Anderson schon bald mit der Arbeit an einem größeren Werk mit dem Titel The Nerve Bible begann.
Das Album Bright Red setzt die poporientierte Richtung fort, die Anderson mit Strange Angels eingeschlagen hat. Das Album wurde von Brian Eno produziert (der auch mehrere Songs zusammen mit Anderson geschrieben hat und auf umfangreiche Erfahrungen mit den Talking Heads zurückgreifen kann). es besteht formal aus zwei Teilen: „Bright Red“ und „Tightrope“.
Bright Red ist ein ausgereiftes, kunstvoll gestaltetes, Avantgarde-Konzeptalbum. Es ist gruselig, düster und windringlich. Es ist irisierend und geschmeidig – ein reiner Ambient-Sound mit einigen starken perkussiven Backtrackings bei bestimmten Songs, während andere einen unheimlichen, funkelnden, hochmodernen, sauberen Studio-Synth-Sound bieten, man könnte meinen Brian Eno habe seine Arbeit an My life in a Bush of Ghosts hier fortgesetzt. Dieses Konzeptalbum spiegelt eine selbstreferenzielle Welt ebenso, wie ein sphärisches Konzept, bei dem die Songs thematisch über das gesamte Stück hinweg miteinander verknüpft sind. Bestimmte Worte und Ausdrücke werden wiederholt und hervorgehoben, um ein Netzwerk zu schaffen.
Die erste Hälfte dieses Albums heißt „Bright Red“, die zweite Hälfte „Tightrope“ und die beiden Hälften haben leicht unterschiedliche Themen, die sie voneinander unterscheiden, aber es gibt immer noch eine Fülle von Verweisen zwischen den Songs, die das Ganze zu einem sehr verworrenen und zirkulären Konzeptalbum verbinden. Die zweite Hälfte des Albums wird persönlicher; weniger von dem übergreifenden Du/Ich-Verhältnissen, aber es gibt immer noch viele Verbindungen in den Songs, die den Hörer näher heranziehen.
Es beginnt mit Schlaginstrumenten, knackige, klaren Trommeln, Militär-Snare-Trommeln, Becken, Rimshots, Highhats, Toms – alles gespielt in einem sehr präzisen Muster, das zum Liedtext passen soll. Es gibt Stellen, an denen sie ihre Stimme auf eine übertrieben gruselige Weise dramatisiert, die zwischen Furcht erregend und komisch schwankt. Gruselig ist hier das Schlüsselwort. Viele der synthetischen Klänge auf dem Album sind unheimlich. Synthesizer ergänzen die Trommeln nach dem ersten Refrain:
Du hast die ganze Zeit geredet / Und ich habe keinen Laut von mir gegeben / Und wenn ich meinen Mund aufgemacht hätte, würde ich zu Boden fallen / Und wenn ich jetzt meinen Mund aufmachen könnte / Es gäbe so viel, was ich sagen würde / Als könnte ich nie ehrlich sein / Als wäre ich dabei, um den Nervenkitzel zu erleben / Als hätte ich nie jemanden geliebt / Und werde es nie tun.“ Dann erinnert sie sich an einen alten Mantel, den ihre Großmutter trug, „aus Wieseln, die sich gegenseitig in die Schwänze beißen / Ein Teufelskreis, ein endloser Ritt / Auf dem Rücken einer alten Frau.
Das Motiv „für immer zusammen“ und das Thema der Kreise sind hier wichtig. Dieses Lied gibt das Thema für das gesamte Album vor, was man im Hinblick auf eine CD sehen kann (dieses Album ist ausschließlich einer CD veröffentlicht worden!), die ein Kreis ist, aber auch eine sehr lange Klangspirale, eine lange dünne Klanglinie, die vom äußeren Rand der CD zum inneren verläuft, und dieser „Teufelskreis“ oder „endlose Ritt“, von dem sie singt, kann im Hinblick auf dieses Album gesehen werden. Der letzte Titel macht das auch deutlich, aber darauf kommen wir später zurück. Wenn Sie sich nun die Texte ansehen, die im obigen Absatz zitiert wurden, werden Sie feststellen, dass dort eine deutliche, gruselige Bedrohung vorhanden ist.
Du wirst mich niemals loswerden. Wir sind für immer zusammengeklebt.
Du (der Adler) hast sie hochgehoben und sie (das Wiesel) hat zurückgebissen. Das Wiesel stirbt, aber seine Zähne sind so fest zusammengebissen, dass der Adler dazu bestimmt ist, für immer mit dem Schädel des Wiesels im Hals herumzufliegen, oder zumindest bis er stirbt. Jetzt gehe ich hier etwas weiter in die Interpretation hinein. Was, wenn das „Du“ in dem Lied Du, der Zuhörer, bist? Du hast sie aufgegriffen (du nimmst buchstäblich die CD und kaufst sie) und sie beißt zurück, und Du steckst für den Rest Deines Lebens in dieser mentalen Falle fest. Sie, Laurie Anderson, beißt Dich, den Zuhörer, wie das Wiesel den Adler beißt. Wie setzt sie diesen Biss an? – Der Biss ist der nächste Track.
Bright Red ist eine Signalfarbe für „GEFAHR“ oder „WARNUNG“. Dieses Songs machen es deutlich. Es wird angedeutet, dass das, was wir gleich hören werden, gefährlich ist. Dieses Gefühl der Bedrohung ist im Text zu hören:
Komm her, kleines Mädchen / Steig ins Auto
Dieser Song hat zwei Sänger, einen Mann und eine Frau, beide mit tiefen Stimmen, die jeweils ein oder zwei Wörter sprechen, um die Sätze des anderen zu vervollständigen. Er ist zutiefst hypnotisch. Die Musik ist ein tranceartiges, funkelndes Ding mit einem sehr traurig klingenden Synthesizer dahinter. Die Qualität der Stimmen (wie bei jedem Song) ist warm, beruhigend, rein und ganz vorne im Mix.
Das Puppet Motel verwendet als Metapher eine Geschichte über Internetnutzer. Wer ist das? Nur jeder. Benutzer, die sich jeden Tag einloggen. Das Puppet Motel ist das Internet in der Metapher, aber im Bereich ihres Albums steht die Metapher für die Idee, dass Sie als Zuhörer in den Zimmern dieser Lieder wohnen. Und indem Sie das tun, erlauben Sie ihr, sich in Ihrem Kopf einzunisten, und ermöglichen ihr, zu kontrollieren, was Sie denken.
Anderson lädt ein, „meine Sprache zu sprechen“. Sie lädt den Hörer ein, ihre zu werden. Das ist Teil der Routine, die Plätze zu tauschen und in deinen Kopf einzudringen. Die Musik in diesem Song ist extrem verzweifelt – ein langsamer, trauriger, Synthesizersound. Es ist auch das zweite Mal, dass es einen leichten Crossover zwischen komisch und ernst gibt. Der Song enthält mehrere „Oohs“ und „Ahhs“, die mit einer übertriebenen Horrorfilmstimme vorgetragen werden. In diesem Track kehrt sie zu sich selbst zurück. Nachdem sie Ihre Aufmerksamkeit auf eine Weise erregt hat, die Sie nicht einmal bemerken, ist sie jetzt hier, um Sie zum Kern ihres Albums zu führen. Sie ist hier, um die Botschaft weiterzugeben, die eher sinnlich als semantisch ist, weil sie furchtbar kryptisch und furchtbar traurig ist. Es ist ihre Verzweiflung. Dies ist im Wesentlichen ihr Schrei der Verzweiflung, und sie pflanzt ihn direkt in Ihren Kopf. Sie zieht Sie auf ihre Seite. „Sprich meine Sprache“, flüstert sie mehrmals. In diesem Lied bezieht sie sich auf ihren Vater, was eine Verbindung zum nächsten Lied darstellt.
World Without End… setzt ihre eigene Geschichte fort.
Ich erinnere mich, woher ich kam / Es gab brennende Gebäude und ein feuriges rotes Meer / Ich erinnere mich an alle meine Liebhaber / Ich erinnere mich, wie sie mich hielten / Welt ohne Ende / Erinnere dich an mich.
Auch hier ist die Instrumentierung sinnfällig, aber absolut und unwiderstehlich deprimierend. „Als mein Vater starb / Wir haben ihn in die Erde gelegt / Als mein Vater starb / Es war, als ob eine ganze Bibliothek niedergebrannt wäre / Welt ohne Ende / Erinnere dich an mich.“ Und das führt mich zur zentralen Botschaft oder zum Kern des gesamten Albums; es dreht sich immer um diese Idee von „Erinnere dich an mich“. Das Thema kehrt immer wieder zurück. Aber sie bittet nicht nur darum, in Erinnerung zu bleiben, sie macht es Ihnen unmöglich, sich nicht an sie zu erinnern. Sie hinterlässt Ihnen als Zuhörer die Vorstellung, dass sie für immer bei Ihnen sein wird, wenn Sie sie in die Hand nehmen. Sie erstellt ein Dokument, das zu seiner Zeit nicht verstanden werden kann und wird. Es wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis die Wirkung dieses Albums spürbar wird.
Freefall verwendet die Metapher des Tauchens und des Unterwasserseins, um Sie in ihre Botschaft einzutauchen. Es hat mehr Melodie und funktioniert mehr wie ein eigenständiges Lied. Aber es hat auch eine schöne, klare, technologisch verbesserte Klangqualität. Es ist Musik, die das Gefühl des Unterwasserseins einfangen soll. Es ist schwer, es genau zu erklären, aber wenn Sie schon einmal getaucht sind, fängt dies etwas von der Erfahrung perfekt ein. Sie hat sich hier alle Mühe gegeben, Sie nicht nur mit ihrem Text, sondern auch mit dem Klang unter Wasser zu bringen. Wunderschöne Schlagzeugklänge. U-Boot-ähnliches Geplätscher. Delfinartiges Quietschen und eine tiefe, wackelige Synthie-Linie, etwas morbide, aber absolut fesselnd. Als würde man von einer Meerjungfrau verführt.
Muddy River klingt biblisch. Der Song ist düster und wirkt prophetisch. Es geht um eine Flut, die den größten Teil der Erde auszulöschen scheint.
Überall ist Schlamm / Fische schwimmen auf den Feldern / Alle rennen herum / Sie schreien / ‚Ist das das Ende der bekannten Welt?‘ / Und wenn der schlammige Fluss / Zu steigen beginnt / Bedeckt er uns alle / Aber wenn ich in deine Augen schaue / Zwei winzige Uhren / Zwei Kristallkugeln / Wir fangen wieder an, wir versuchen es / Wir fangen wieder an / Unten am schlammigen Fluss.
Hier hören wir, dass die bereits zuvor erwähnte Idee des „Wiederanfangens“ wieder aufgegriffen wird – die posthypnotische Suggestion, wieder anzufangen, von vorne anzufangen, diese CD wieder abzuspielen.
Beautiful Pea Green Boat nimmt das Nonsensgedicht von Edward Lear, The Owl and the Pussycat, und macht daraus ein Lied. Das Nonsensgedicht besteht aus unverständlichen Wörtern, aber es ist ein Gedicht, das mit einem sehr wichtigen Bild endet – einem Ring. Die Musik ist perkussiv, auch einige Gitarren und osteuropäisch klingende Konzertina.
Love Among the Sailors ist ein prophetische Untergangssong, diesmal über eine Seuche.
Ein heißer Wind weht / Zieht über die Ozeane / Und in jeden Hafen / Eine Seuche, eine schwarze Seuche / Überall lauert Gefahr / Und du bist gerettet / Du bist jetzt allein auf einer Insel / Schaltest ein / Hast du gedacht, so würde deine Welt enden / Männer, Matrosen, Kameraden?
Wieder bringt Anderson die Verzweiflung zurück. Wieder versetzt sie den Zuhörer, in ihre Metapher; „allein auf einer Insel, schalte ein“. Anscheinend bist du gerettet. Rettet sie dich? Hat sie dich irgendwie gerettet, indem sie dich in ihre Welt gezogen hat, indem sie in deinen Geist eingedrungen ist?“ Musikalisch ist es ruhig und düster.
Es gibt jetzt kein reines Land / Keinen sicheren Ort / Komm mit uns in die Berge / Männer, Matrosen, Kameraden
Und dann ist es vorbei. Sehr morbide. Denken wir an den Rattenfänger, der Kinder mit seiner Flöte in die Berge lockte: „Komm mit uns in die Berge.“ Sie lädt Sie ein, mit ihr zu gehen, wo Sie sicher sind, nicht unähnlich der Einladung damals in „Bright Red“, ins Auto zu steigen, aber wo das gefährlich war, wird sie Sie dieses Mal beschützen. Sie sind so weit gekommen, sehen Sie, und Sie müssen gerettet werden vor dem…
Poison ist eine gruselige, knurrende, gedämpfte Musik für die späte Nacht. Sie scheint hier für einen Ex-Liebhaber zu singen:
Es war eine dieser Nächte, in denen die schwarze Katze rumsauste / Ich werde es nie vergessen / Wir hatten einen Streit / Du hast unser Bett verlassen / Dann bist du nach unten gezogen, um stattdessen bei ihr zu leben.
Der Refrain lautet: „Habe ich Gift getrunken / An das ich mich jetzt nicht mehr erinnere? / Habe ich Blut an den Händen? / Nein, meine Hände sind sauber. / Habe ich in einem anderen Leben etwas getan / Das wirklich, wirklich gemein war?“ Es ist nicht schwer, sich das „Ich“ in „Habe ich Gift getrunken“ als Sie als Zuhörer vorzustellen. Es ist, als ob Ihnen etwas passiert wäre, aber Sie wissen nicht, was. Etwas wie Gift ist in Sie eingedrungen, aber Sie merken es nicht.
In our sleep / Where we meet / Listen to the drums beat / In our sleep.
Für In Our Sleep… spannt Anderson Lou Reed ein, um die „andere Stimme“ zu werden. Dieses Lied wurde als Single veröffentlicht und ist daher etwas gitarrenlastiger und liedhafter. Dennoch passt es gut zum übergreifenden Thema. Wieder wechseln sich die männlichen und weiblichen Stimmen ab. Denken Sie daran, dieses Album besteht fast ausschließlich aus Perkussion – hören Sie sich diese Trommelschläge im Schlaf an – das heißt, in dem hypnoseinduzierten Schlaf, in dem Sie sich jetzt befinden, während man dieses Lied hört.
Tightrope nimmt die Form eines Traums an. Während die erste Hälfte des Albums sich an jeden Zuhörer „angehängt“ haben könnte, hängt sich die zweite Hälfte an ihre Ex-Liebhaber (und übrigens auch an ihren gegenwärtigen Liebhaber – Lou Reed, der mit ihr auf „In Our Sleep“ im Duett singt). Dieser Song balanciert (balanciert auf einem Drahtseil?) zwischen brillant zwischen komisch und extrem gruselig. Hier gibt es einen „Klapperschlangen“-Soundeffekt, der seinen Schwanz durch die Musik schüttelt, was in Bezug auf zusätzliche Gruseligkeit sehr effektiv ist. Sie beschreibt einen Traum, in dem ihre Familie einen Freizeitpark betreibt. Jede Fahrt ist ein Teil ihres Lebens. Ihre Großmutter verkauft Zuckerwatte. Und da ist ein riesiges Riesenrad (wahrscheinlich Coney Island), draußen auf dem Meer (das Meer ist auf dem ganzen Album allgegenwärtig) und auf diesem Riesenrad fahren… Die Schlussworte des Albums lauten:
Now me in you / Without a body move / And in our hearts we fly / Standby / Good Morning / Good Night.
Morgen zur selben Zeit wartet neue Musik auf uns. An Jedem Tag. Immer und immer wieder, rundherum. Ein endloser Kreis, wie diese endlose Fahrt vom Opener Speechless „on the back of an old woman“.
Ich habe versucht, einfach zu sagen, was ich sehe. Es ist dunkel. Aber ich bin froh darüber – heitere Lieder gibt es genug.
Laurie Anderson
Der Titel des Albums Life on a String ist darauf zurückzuführen, dass Anderson wieder mit dem Geigenspiel begonnen hat, was sie mehrere Jahre lang nicht auf ihren Alben getan hat. Das Album erschien im Jahr 2001, zu diesem Zeitpunkt unterzeichnete Anderson einen neuen Vertrag mit einem anderen Warner Music-Label, Nonesuch Records. Life on a String ist eine Mischung aus neuen Werken (darunter ein Lied, das an den Tod ihres Vaters erinnert) und Werken aus der Moby-Dick-Präsentation. Das erklärt, warum so viele Stücke vom Fischen und Walen und dem Meer handeln, was in ihrem experimentellen Performance-Kunst-Universum Leben und Liebe und Tod und Besessenheit und was nicht alles darstellen muss. Was es nicht erklärt, sind die Lieder über Amerika und New York und zerbrochene Liebesbeziehungen, die wahrscheinlich immer noch Liebe und Tod und Besessenheit und was nicht alles darstellen, aber nicht so recht zu dem anderen Zeug passen. Abgesehen davon, dass Life unzusammenhängend ist, kann es sich musikalisch auch überraschend vorhersehbar anfühlen, da Anderson bei ihrer vertrauten Palette aus neoklassischen Arrangements, Ambient-Elektronik und Gesang bleibt, der entweder engelsgleich harmonisiert oder trocken gesprochen ist. Life on a String hat seine Momente insbesondere Dark Angel, eine üppige und schelmische Klassik-Jazz-Zusammenarbeit mit Van Dyke Parks, die das Herzstück der CD bildet.
1999 schuf Anderson eine Theatershow mit dem Titel Songs and Stories of Moby Dick. Diese CD sollte Musik aus dieser Multimedia-Produktion enthalten. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie aus dem Klassiker von Herman Melville kein angemessenes Album machen konnte, weil sie, in dessen Fülle lesend untergegangen ist. Die Artistin stellt unter der Arbeit fest, dass sie eigentlich auf der Suche nach etwas anderem war, nachdem sie viele Monate in „stinkende alte Seeleute“ vertieft war, wie sie es nennt, und erklärte:
Ich kann keine Sekunde länger im 19. Jahrhundert sein.
Also beschloss die Artistin, von Grund auf etwas Neues zu schaffen, das ihre eigenen Erfahrungen widerspiegelte. Aber sie griff auch auf einige Elemente der Moby Dick -Präsentation zurück und engagierte den Musikdirektor der Show, den Bassisten Skúli Sverrison, für die meisten Stücke. Als Co-Produzent der CD wählte sie Hal Hillner, der für seine bemerkenswert vielseitigen Tributalben mit mehreren Künstlern in den 1980er und frühen 1990er Jahren bekannt ist.
Anderson hat schon immer Technologie in ihre Musik einfließen lassen, auf Life on a String durchlief einen interessanten Prozess. Angefangen mit vielen technologischen Elementen wie Drumloops und Samples, entfernte Anderson diese Schichten nach und nach, um einige manchmal kahle oder überraschende Arrangements wie ein Streichtrio zu hinterlassen.
Auf dem Album ist auch eine eklektische Gruppe von Leuten zu hören, was angesichts der Neigungen von Anderson und Willner vielleicht nicht überraschend ist. Unter den Gästen sind Dr. John, der Gitarrist Bill Frisell, der Jazz-Schlagzeuger Joey Baron und Lou Reed, der nur an der Gitarre zu hören ist. Obwohl es kein lyrisches Thema gibt, das sich durch das gesamte Album zieht, wie ursprünglich vorgesehen, beschreibt Anderson die Qualität des Albums als „wirklich düster“, und tatsächlich gibt es ein Stück, von dem sie behauptet, es sei direkt vom Film Noir inspiriert. Andersons typischer gesprochener Gesang ist etwas weniger zu hören und mehr von ihrem Gesang. Der vielleicht auffälligste instrumentale Unterschied zwischen diesem Album und den Vorgängern ist die Anwesenheit der Violine – von der Hinzufügung von Andersons elektrischem Instrument bis hin zu einem kompletten Streichorchester auf einem Stück.
Andersons Werke sind immer experimentierfreudig gewesen, sei es mit High-Tech-Instrumenten oder ihrem unverwechselbaren Sprechgesang und natürlich ihren impressionistischen Texten von durchwachsener Qualität. Co-Produzent Hal Willner hat ohne Zweifel viel zu den eklektischen Arrangements und dem geschmackvollen Einsatz unerwarteter Instrumente und High-Tech-Elemente beigetragen. Andersons Lieder reichen von impressionistisch bis verspielt, und alle enthalten viele interessante Details, die beim aufmerksamen Anhören auf sich warten lassen, selbst nachdem Anderson sich dazu entschlossen hat, einige der bereits aufgenommenen Teile wegzulassen.
Musikalisch ist Life on a String weniger experimentell als Andersons frühere Aufnahmen, auf denen sie mit verschiedenen mechanischen Klängen (z.B. Telefongeräuschen), modifizierten Geigen und Synthesizern experimentierte. Einer der musikalisch experimentellsten Titel auf der Platte ist My Compensation, der um computergenerierte Percussion-Programmierung und Sampling-Loops herum aufgebaut ist. Die meisten Songs drehen sich jedoch um die traurigen Klänge von Saiteninstrumenten, da Anderson auf diesem Album hauptsächlich auf die reduzierten Klänge von Geige, Gitarre, Cello und Bass setzt.
Meine Hauptübung bei dieser Platte war, Dinge wegzulassen.
Im wahrsten Sinne des Wortes ist mit der Saite natürlich die Saite einer Geige oder eines Bogens gemeint. Das Booklet ist voller Fotos von Andersons aufführungserprobten Geigen und Bögen mit ihrer gesamten elektrischen Ausstattung. Anderson-Fans werden sich freuen, einige der Instrumente zu sehen, die sie auf ihren Tourneen rund um die Welt mit sich geführt hat: den Viophonographen (eine Geige mit einem am Korpus montierten, batteriebetriebenen Plattenspieler und einer am Bogen befestigten Stereonadel), die Tape-Bow-Geige (die dort, wo der Steg sein sollte, einen Revox-Tonbandwiedergabekopf und einen Bogen hat, der mit einem Streifen bespielten Audiobands bespannt ist) und Andersons charakteristische weiße Geige. Einige der eindrucksvollsten Fotos zeigen Geigen auf einem Haufen verhedderter Stromkabel. Tatsächlich sind diese Fotos sinnbildlich für Andersons Karriere als Künstlerin, für ihr eigenes „Leben an einem Faden“ (bestehend aus Schnüren, aus Elektrokabeln, Bögen und Geigen).
Die Saiten sind jedoch nur ein Medium des künstlerischen Ausdrucks. Während diese Instrumente ein wesentlicher Bestandteil von Andersons künstlerischem Ausdruck und Innovation sind, geht die Essenz dessen, was sie als Künstlerin sucht und zu schaffen versucht, viel tiefer und geht über die Materialität der Saiten hinaus. Im Titelsong sinniert sie:
Manche Leute wissen genau, wohin / Sie gehen / Die Pilger nach Mekka / Die Bergsteiger zum Berggipfel / Aber ich suche / Nur einen einzigen Moment / Damit ich durch die Zeit gleiten kann.
Als Künstlerin war sie sie seit den 1970-er Jahren auf der Suche nach „einem einzigen Moment“, den sie in Kunst verwandeln und auf ihrer musikalischen Leinwand festhalten kann. Sie weiß nicht, was dieser „einzige Moment“ ist, und wahrscheinlich wird sie nie einen Moment finden. Vielmehr besteht Kunst aus vielen Momenten, die jedes Mal anders aufgeführt werden. Jedes Mal, wenn ein Musikstück aufgeführt wird, jedes Mal, wenn eine bestimmte Geschichte erzählt wird, wird es unvermeidlich Variationen geben. Wie der Komponist John Cage argumentierte, könnten diese Variationen scheinbar so unbedeutend sein wie ein Husten eines Zuschauers oder ein Knarren einer Klavierbank. Die Aufführung ist dynamisch und diese Veränderungen halten die Kunst sowohl für den Künstler als auch für den Zuhörer interessant und lebendig.
Die Erzählungen, aus denen sich Life on a String zusammensetzt, bestehen aus emotional schmerzhaften Momenten. Auf diesem Album gibt es nicht viel von dem Humor, den wir auf Andersons anderen Platten finden. Aus diesem Grund könnten einige argumentieren, dass Anderson Verlust und sogar Tod sentimentalisiert, da diese Momente immer eine Offenbarung über das Individuum oder einen Einblick in die menschliche Verfassung mit sich zu bringen scheinen. Broken fängt beispielsweise einen Moment in einer Beziehung ein, in dem die Sängerin erkennt, dass die „Hitze“ aus der Beziehung verschwunden ist:
Schweigen kann etwas Schönes sein / Aber nur, wenn es mit einem freundlichen Wort gebrochen werden kann / Mit einem sanften Wort / Mit einem Wort. Unausgesprochen bleibt: Unsere Liebe liegt gebrochen.
In der Vergangenheit hat Anderson die Hörer oft aus der Fassung gebracht, indem er diesen deprimierenderen Momenten etwas Skurriles entgegensetzte, etwas, das uns zum Lachen brachte. Hier nicht. Die Dinge scheinen trostlos. Wenn diese Albernheit an die Oberfläche kommt, wie in One Beautiful Evening, scheint sie oft fehl am Platz. In diesem Song wiederholt Anderson die Worte eines bekannten Kinderliedes:
I’m a little teapot short and stout / Tip me over and pour me out.
Die fröhlichen Klänge von „hey hey nonny nay“ werden durch „It’s another blue day in a nowhere place“ untergraben. Anderson ist also an manchen Stellen sicherlich ironisch, aber die Ironie ist düster.
In Dark Angel bekommt eine Künstlerin Besuch von ihrer Muse, dem „dunklen Engel“. Verloren in einem leeren Materialismus beklagt sich die Künstlerin über „all die neuen Maschinen“, die „alle brandneu sein sollen, aber alle gleich aussehen“. Ironischerweise überdenkt die Künstlerin, deren Arbeit Begeisterung für Technologie und die künstlerischen Möglichkeiten geweckt hat, ihre Investition in Technologie und den „Oooh, ahhh“-Effekt einer raffinierten Produktion.
Schau dir all die Dinge an, die ich gekauft habe / Ich kann nicht glauben, was sie kosten / Nur eine Menge Plastik und Zahlen auf meiner Kreditkarte
Es ist wirklich nur eine Menge Schnickschnack. Andersons Ironie kommt wieder zum Vorschein, als der dunkle Engel ihr sagt:
Achte nur darauf, dass du einen Bleistift verwendest / Damit du es immer… du weißt schon… richtig hinbekommst
Natürlich kann sogar ein so „primitives“ technisches Instrument wie ein Bleistift den Ausdruck behindern. Als Werkzeug kann es die Essenz der Kunst (den trügerischen Moment) nicht besser einfangen als die neueste Innovation in der Computersoftware. „Es ist eine kleine Welt voller Licht“, sagt uns der Engel, „aber ich möchte sie nicht malen müssen“. Er fliegt davon und lässt die Künstlerin allein, damit sie mit ihrer Arbeit fortfahren kann. Er lässt ihr einen weiteren Moment, um ihre Fantasie anzuregen, aber der „einzelne Moment“ bleibt knapp außerhalb ihrer Reichweite.
That stretched into the distance
And you and I were walking there
Lost in the moment
Life on a string
Musikalisch ist Life on a String beeindruckend. Die eindringlichen Melodien und Streicherarrangements verstärken die nachdenkliche Stimmung der CD und lassen uns an den Träumen des Künstlers über emotionalen Schmerz und die Abhängigkeit der Kunst von solchen schmerzhaften Erfahrungen teilhaben. Ihr poetisch-entschleunigter Stil taucht ab in abstrakte harmonische Tiefen. Es regt zum Nachdenken an und ist seltsam inspirierend, weil es dabei helfen kann, Verlust zu verstehen und Einblick in scheinbar unüberwindliches Leid zu geben. Obwohl das Album vor den Anschlägen vom 11. September 2001 veröffentlicht wurde, scheinen einige der Songs im Lichte dieser Ereignisse mehr Sinnzusammenhänge offen zu legen. Am gruseligsten und prophetischsten ist „Statue of Liberty“, das nach dem 11. September besonders ergreifend ist: „Freiheit ist eine beängstigende Sache / Nicht viele Menschen wollen sie.“ Wie bei fast allen Arbeiten von Anderson geht es nicht um multimediale Manipulationen, vielmehr um eine Verführung zu einem erweiterten Einfühlungsvermögen, einem erweiterten Horchen.
Landfall, eine Kooperation mit dem Kronos Quartet
Sowohl Anderson, eine durch und durch New Yorkerin, als auch das Kronos Quartet aus San Francisco sind seit den 1970er Jahren eifrige Vernehmungskünstler der amerikanischen Macht. In der klassischen Musik stellte Kronos die Dominanz europäisch-amerikanischer Komponisten in Frage und untersuchte Weltmusik, Rock und Jazz. Manchmal spielten sie mit Projektionen von Occupy und dem Arabischen Frühling im Hintergrund oder arbeiteten mit dem linken Historiker Howard Zinn zusammen. In einem Interview von 2014 sagte Kronos-Gründer David Harrington: „Von allen Streichquartetten der Welt werde ich die umfangreichste FBI-Akte haben.“ Aber die größte Verbindung zwischen Anderson und Harrington ist vielleicht ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen.
Harrington träumte jahrzehntelang von einer Zusammenarbeit mit Anderson. Aber erst nach der Veröffentlichung von Andersons LP Homeland im Jahr 2010 begann Landfall Gestalt anzunehmen, zunächst als Live-Auftritt auf Reisen und jetzt als 30-Track-Album von epischem Ausmaß. Landfall, von Anderson komponiert und mit ihrem gesprochenen Wort, ist ein Zyklus von Liedern, die die verheerenden Folgen des Hurrikans Sandy durch ihre Augen beobachten. Obwohl ein Großteil von Landfall geschrieben wurde , bevor der drittschwerste Sturm in der Geschichte der USA im Oktober 2012 die Ostküste verwüstete, dominiert Sandy dieses intensive Werk. Es ist der Sound einer typischen New Yorkerin, die eine New Yorker Tragödie verarbeitet, etwas aus den traurigen Trümmern rettet, die Trümmer eines kreativen Lebens verinnerlicht und zeigt, wie das menschliche Gedächtnis stärker sein kann als eine Katastrophe.
Die elegischen Stücke von Landfall , die meisten nicht länger als zwei oder drei Minuten, sind episodische Fragmente, die abrupt abbrechen können, wie Fotos mit eingerissenen oder durch Wasser beschädigten Rändern. Dies verleiht Landfall eine Dynamik und eine leicht schiefe Anmut. Diese Stücke haben eine himmlische Reichweite, als hätte Anderson einen neuen Kosmos komponiert, in dem Lügen nicht verborgen, sondern bloßgelegt werden; in dem wir entschlüsseln können, was real ist. Andersons klares gesprochenes Wort verbindet sich mit der klagenden Eleganz des Quartetts, um die Schwere einer Katastrophe, einer seismischen Bewegung und einer düsteren Erwartung darzustellen, und das alles mit einer sanften Unmittelbarkeit. Mit „Our Street Is a Black River“ beginnt Anderson ihre Geschichte: „Von oben war Sandy ein riesiger Wirbel, der aussah wie Galaxien“, stellt sie fest und fährt in ihrer ikonischen Art fort, „deren Namen“ – Pause – „ich nicht kannte.“
Andersons räumliche Phrasierungen vermitteln ein Gefühl der Beständigkeit in einer zunehmend prekären Welt. Sie spricht nur auf einer Handvoll Tracks, aber ihre ausgedehnten Pausen sind wie tiefe Atemzüge inmitten des anstrengenden Verarbeitungsvorgangs. Hier steigert das Kronos Quartet ihre Pausen zu kühner Wirkung, indem es manchmal die Form von Drones, Ragas oder gekrümmten Fragezeichen nachahmt, manchmal durch Elektronik ergänzt. Anderson – die einst die Maxime „Sprache ist ein Virus“ von William S. Burroughs in ein Lied verwandelte – hat in Kronos fantastische Mitarbeiter gefunden, die so viel ohne Sprache sagen können, wenn die Sprache versagt. Auf „The Electricity Goes Out and We Move to a Hotel“ gibt es keine Worte, sondern nur wirbelndes, paddelndes, unwillkürliches Bewegen; es ist eine resignierte Prozession; man muss in Bewegung bleiben.
In „Everything Is Floating“ beschreibt Anderson deutlich, wie es sich anfühlte, nach Sandy in ihren überschwemmten Keller in der Innenstadt hinabzusteigen und den Dreck von Tastaturen und Projektoren, Papieren und Büchern zu sehen, „all die Dinge, die ich mein ganzes Leben lang sorgfältig aufbewahrt hatte … die zu nichts als Müll wurden.“ Mit dieser düsteren, dramatischen und doch friedlichen Musik beschwört sie eine weitere Maxime ihres buddhistischen Lehrers Mingyur Rinpoche, die sie oft wiederholt hat: „Fühl dich traurig, ohne wirklich traurig zu sein.“ Dies ist ein Überlebenshandbuch, und vielleicht ist es auch „Landfall “.
Landfall scheint viele von Andersons Lebensthemen zu synthetisieren: Sprache, Technologie, Amerikas gigantische Nachteile. Und all das vereint sich in „Nothing Left but Their Names“, einem erstaunlichen neuneinhalbminütigen Monolog in Andersons klassischem, heruntergestimmten Gesangsstil. Sie katalogisiert ausgestorbene Arten wie Fleckenechsen, Mastodonten und viele Arten von Faultieren. Ihre Meditation wandert durch die Vorstellungskraft der Worte und wie diese der Erfahrung selbst überlegen sein können. Doch Anderson endet, tiefgründig, beim Mond und den Sternen. „Wissen Sie, warum ich die Sterne wirklich liebe?“, fragt Anderson. „Weil wir ihnen nicht wehtun können. Wir können sie nicht verbrennen. Wir können sie nicht schmelzen oder zum Überlaufen bringen. Wir können sie nicht überfluten oder in die Luft sprengen … Aber wir greifen nach ihnen.“ Wenn Naturkatastrophen mit den schlimmsten Seiten der Menschheit einhergehen – Gier, Konsum und gewalttätigen Männern, die dafür sorgen, dass die Treibhausgasemissionen die Atmosphäre neu verdrahten; die Kräfte der Zerstörung, die die Natur in sich selbst verbrennen lassen – zumindest haben wir noch die Sterne.
Manchmal müssen Frauen zeigen, dass sie können, was Männer können. Und manchmal müssen sie zeigen, dass ihnen etwas gelingt, was noch kein Mann gewagt hat.
Amelia Earhart
Im Frühjahr wurde Laurie Anderson für ihr Lebenswerk mit dem Grammy Lifetime Achievement Award 2024 ausgezeichnet, nun hat die ikonische US-Künstlerin die Veröffentlichung eines neuen Albums veröffentlicht. Es trägt den Titel Amelia, erscheint über Nonesuch Records und ist ihr erstes seit Landfall im Jahr 2018.
Der Titel ihres neuen Albums, bezieht sich auf die berühmte Flugpionierin Amelia Earhart. Auf den 22 Tracks des Albums widmet sich Anderson ihrem tragischen letzten Flug im Jahr 1937. Anderson schrieb Musik und Texte für dieses subjektive Erzählwerk. Auf dem Album wird sie von dem tschechischen Orchester Filharmonie Brno unter der Leitung von Dennis Russell Davies begleitet, außerdem wirken die Künstler Anohni, Gabriel Cabezas, Rob Moose, Ryan Kelly, Martha Mooke, Marc Ribot, Tony Scherr, Nadia Sirota und Kenny Wollesen mit.
Das Album Amelia wirkt an vielen Stellen wie ein vertonter Dokumentarfilm, man hört der Pilotin gleichsam beim Existieren zu. Anderson schildert Earharts Flug, der sie zur ersten Frau gemacht hätte, die die Welt umrundet, und geht mit akribischer Detailtreue und einer Mischung aus Ehrfurcht und Staunen an ihr Thema heran. Der kurze Opener To Circle the World beginnt mit dem Geräusch eines Flugzeugs vor einem dramatischen Hintergrund und enthält auch eine dramatische Erzählung von Anderson:
Am besten erinnere ich mich an das Motorengeräusch / Start am 20. Mai 1937 / Oakland, Kalifornien.
1932 wagte Amelia Earhart ihr größtes Abenteuer: Fünf Jahre nach Charles Lindbergh überquerte sie als erste Frau den Atlantik im Alleinflug. Sie startete am 20. Mai 1932 von Neufundland in Richtung Paris in einer modifizierten Lockheed Vega 5B (Kennzeichen NR7952). Aufgrund schlechten Wetters und technischer Probleme erreichte sie Paris jedoch nicht, sondern musste bereits in der Nähe von Derry (Nordirland) notlanden. Für diesen Flug, durch den sie auch zum ersten Menschen wurde, der zweimal den Atlantik überflogen hatte, erhielt sie von Präsident Herbert C. Hoover die Goldmedaille der National Geographic Society. Zudem wurde ihr als erste Frau das Distinguished Flying Cross verliehen. In ihrer Dankesrede meinte sie lakonisch:
Einige Aspekte des Fluges sind übertrieben dargestellt worden, fürchte ich. Es war viel spannender zu schreiben, ich sei mit den letzten Litern Treibstoff gelandet. Tatsächlich hatte ich noch über vierhundert (Liter). Und ich habe bei der Landung keine Kuh getötet – es sei denn, eine wäre vor Angst gestorben.
Als Vorsitzende der Ninety Nines trat Earhart unermüdlich für ihre feministischen Ziele ein und nutzte ihre Popularität, um gegen das traditionelle Erziehungssystem zu opponieren, das „die Menschen weiterhin nach ihrem Geschlecht einteilt“. Sie betont immer wieder, dass es ihr mit ihren wagemutigen Rekordflügen auch darum ging, zu beweisen, dass Frauen zu technischen Höchstleistungen in der Lage seien. Sie setzten sich daher immer wieder dafür ein, dass Frauen ihre Zulassung an technischen Hochschulen erhielten. Als Gastdozentin der Purdue University in Lafayette half sie Grundlagen zu erarbeiten, um junge Frauen in der Luftfahrt zu fördern. Sie unterstützte auch junge Frauen bei der Berufswahl und half ihnen, in technischen Berufen Fuß zu fassen.
Die Hommage auf ihrem neuen Album Amelia ist ein Spiel mit der Zeit, allerdings im umgekehrten Sinne, indem es die letzten 44 Tage von Amelia Earharts Leben auf 35 Minuten komprimiert. Es ist eine fiktive Nacherzählung des unglücklichen Versuchs des Piloten im Jahr 1937, die Welt zu umrunden, und im Wesentlichen die Chronik eines vorhergesagten Absturzes. Schon beim ersten Motorengeräusch, das das Album eröffnet und wie ein Luftkampf im Zweiten Weltkrieg klingt, wissen wir genau, wie diese Geschichte enden wird: mit dem Verschwinden der 39-jährigen Abenteurerin, Technologin und feministischen Pionierin irgendwo über dem Pazifik; eine moderne Legende besagt, sie sei von Aliens entführt worden.
Earhart war eine leidenschaftliche Pionierin der frühen Luftfahrt und erlangte Berühmtheit als erste Frau, die 1932 den Atlantik überquerte. Fünf Jahre später brach sie zu einem Flug um die Welt auf. Ihr Ziel: Als erster Mensch die Erde am Äquator zu umrunden. Es sollte eine Reise ohne Wiederkehr werden, denn ihr Flugzeug verschwand spurlos und wurde trotz einer gigantischen Suchaktion – 64 Flugzeuge und 8 Kriegsschiffe waren an der bis dahin größten in der Geschichte der Luftfahrt beteiligt – nie gefunden.
Die Worte in Amelia sind inspiriert von ihren Pilotentagebüchern, den Telegrammen, die sie an ihren Mann schrieb, und meiner Vorstellung davon, worüber eine Frau, die um die Welt fliegt, nachdenkt.
Laurie Anderson
Kenner des künstlerischen Werk von Anderson wissen, dass es das Projekt schon seit vielen Jahren gibt. Es wurde bereits im Jahr 2000 in der New Yorker Carnegie Hall uraufgeführt und war zuletzt in aktualisierter Form an verschiedenen Orten in Europa zu sehen.
Anderson nutzt mehrere Perspektiven, um Earharts Geschichte zu erzählen. Völlig objektive Logbuchdaten fließen in fiktionalisierte Tagebucheinträge ein („Am meisten erinnere ich mich an das Geräusch des Motors“). Telegramme („Fred kann seine Chronometer nicht einstellen. Stopp. Persönliche Untauglichkeit. Stopp. Es sieht schlecht aus für die Ankunft in Oakland am 4. Juli, Stopp. Stopp.“) wechseln sich mit Erzählungen aus der dritten Person ab, die mit dem kühlen, objektiven Ton eines Enzyklopädie-Eintrags vorgetragen werden. Anderson verwendet unterschiedliche Gesangsstile und Register, um diesen sich überschneidenden Perspektiven gerecht zu werden, während Anohni, der über einen Vocoder singt, den Wellen und dem Wind eine Stimme verleiht.
Anderson hat darüber gesprochen, wie sehr sie von Earharts Geschichte berührt wurde, aber weder die Texte noch die Musik vermitteln unbedingt viel vom Pathos in Earharts Leben. Es gibt viele Momente des Staunens in Andersons fantasievoller Reihe weitläufiger Wüsten und glitzernder Meere und gelegentliche Aufflackern des Schreckens:
Habe die Fallschirme heute nach Hause geschickt / Sollte sie nicht mehr brauchen… Nicht über dem offenen Ozean, wo es keinen Platz dafür gibt Land
Aber ich hatte selten eine genaue Vorstellung davon, wer Earhart war oder wie sie sich fühlte. Vielleicht liegt das daran, dass man Andersons Stimme mit einer gewissen klinischen Distanz verbindet, mit der geübten Ironie eines Songs wie In the Air von Big Science. Selbst wenn sie Earharts Nöte zum Ausdruck bringt – „So heiß“, beschwert sie sich, während sie über die Wüste fliegt und sich zur Betonung wiederholt –, fühlt es sich weniger wie ein aufschlussreicher innerer Monolog als wie eine Gedankenblase in einer Graphic Novel an.
Das Album weist gelegentlich auf größere Themen und umfassendere Ausblicke hin. Wenn Fotografen „Lady Lindy!“ rufen – eine Anspielung auf ihren Rivalen, den Flieger Charles Lindbergh –, meckert sie: „Ich habe nicht einmal meinen eigenen Namen“, aber damit beschäftigt sich Anderson in etwa mit den feministischen Implikationen von Earharts Geschichte. Kurz darauf öffnet sich die Perspektive weit und die introspektive Bitte des Piloten:
Woher habe ich diese Besessenheit, mich gegen den Himmel zu werfen?
Die wir Anderson bereits früher mit Zitaten gespielt hat, finden wir von Shakespeare „Full fathom five thy Father lies“ und Allen Ginsberg „Amerika, warum sind eure Bibliotheken voller Tränen?“ – eine Zeile, die erst 19 Jahre nach Earharts letztem Flug geschrieben wurde.
„Was ist das für ein Geräusch?“ fragt Anderson, als würde sie ein Gespräch mit Ginsberg beginnen. „Jeder weiß, was los ist. Amerika…“ Für einen verlockenden Moment sind wir zurück auf dem vertrauten, ehrgeizigen Terrain so vieler Werke Andersons: dem Zerfall des Imperiums, dem Erstarren des amerikanischen Traums, dem sich erwärmenden Planeten und den steigenden Meeren. Aber es ist ein flüchtiger Eindruck, und wir kehren schnell zum letzten Kapitel von Earharts Geschichte zurück: dem gescheiterten Rendezvous mit dem Küstenwache-Kutter Itasca und dem anschließenden Verschwinden von Earhart. Während die Pilotin den Schatten ihres Flugzeugs auf dem herannahenden Wasser beobachtet, sind Earharts letzte Worte dieselben wie die, die das Album eröffnen:
Es war das Geräusch des Motors, an das ich mich am meisten erinnere. Was folgt, ist nur das Geräusch plätschernder Wellen.
Amelia ist ein anmutiger, höchst überzeugender und rundum gelungener Versuch, ein wichtiges historisches Ereignis mit Würde und Eloquenz musikalisch zu interpretieren. Laurie Anderson ist eine der künstlerisch bedeutendsten Künstlerinnen des letzten halben Jahrhunderts, und es ist nur passend, dass eine ihrer stärksten Platten seit Jahrzehnten eine Hommage an eine Pionierkollegin ist.
Laurie Anderson setzt ihren experimentellen Ansatz fort. Der Einsatz der Stimme als Quasi-Instrument unterscheidet sich glücklicherweise vom schablonenhaften Kunstfalsett des Autotune. Die Trauerarbeit im Gedanken an Amelia Earhart erfährt durch die Unterstützung Filharmonie Brno eine abstrakte und gewöhnungsbedürftige Form.
Wie dieser Rezensionsessay aufzeigt, leistet Anderson seit mehr als vier Jahrzehnten kreative Pionierarbeit und gilt nicht umsonst als eine der bekanntesten – und mutigsten – zeitgenössischen Künstlerinnen Amerikas. Ihr Werk, das Musik, bildende Kunst, Poesie, Film und Fotografie umfasst, fordert und begeistert auch weiterhin ein weltweites Publikum immer wieder aufs Neue. In einem kürzlich erschienenen ´60 Minutes`-Profil sagte sie zu Anderson Cooper, sie sei „eine Pionierin der Avantgarde“, aber… das beschreibt nicht annähernd, was sie schafft. Ihre Werke werden nicht in Galerien verkauft. Sie werden vom Publikum erlebt, das zu ihren Performances kommt: Sie singt, erzählt Geschichten und spielt seltsame Geigen, die sie selbst erfunden hat… Sie mischt das Schöne mit dem Bizarren, fordert das Publikum mit Predigt und Humor heraus. Sie verwischt die Grenzen zwischen Musik, Theater, Tanz und Film“.
Einer der Schlüssel zu Andersons Erfolg als Künstlerin ist die Fähigkeit, alte Muster aufzunehmen, diese jedoch anders auszudeuten. Ihre Alben stehen für sich selbst und existieren als künstlerische Objekte, die von ihren Auftritten getrennt sind. Sicherlich verleihen Andersons Auftritte – multimediale Kombinationen aus Film, Musik, Tanz und verbalem Geschichtenerzählen – den Liedern, die wir auf den Alben hören, eine neue Dimension und vertiefen unsere Wertschätzung für ihre Arbeit.
Laurie Anderson ist eine Pionierin der Avantgarde.
Zu den jüngsten Ausstellungen und Installationen von Andersons Werken zählen Habeas Corpus in der Park Avenue Armory in New York, ihre bislang größte Ausstellung The Weather im Smithsonian’s Hirshhorn Museum of Modern Art in Washington, D.C., und ihre bis dato größte Ausstellung in Europa, Looking into a Mirror Sideways im Moderna Museet in Stockholm. Zuletzt war Anderson mit Sex Mob auf Tournee und präsentierte ihr Stück Let X=X. Anfang dieses Jahres erhielt sie gemeinsam mit Christopher Nolan und David Attenborough die Stephen Hawking Medal for Science Communication 2024, und die Internationale Astronomische Union benannte ihr zu Ehren einen Kleinplaneten: `Asteroid 270588, Laurieanderson.´
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Eine Auswahl empfehlenswerter Alben. 1982: Big Science / 1984: Mister Heartbreak / 1986: Home of the Brave / 1989: Strange Angels / 1994: Bright Red / 2001: Life on a String / 2010: Homeland / 2018 Landfall (mit dem Kronos Quartet) / 2024: Amelia
Weiterführend → Im typischen Gestus junger Dichter hasste Arthur Rimbaud die kleinbürgerliche Enge seiner Vaterstadt, was z. B. in dem satirischen Gedicht À la musique (An die Musik) zum Ausdruck kommt, er ist der erste Rockstar der Poesie. Dichter wie der Dub-Poet Linton Kwesi Johnson, der Punk-Poet John Cooper Clarke, der Lo-Fi-Poet Dan Treacy, der Spät-Expressionist Peter Hein, der Lizard-King Jim Morrison und die Grandma des Punk Patti Smith nutzten Musik als Transportmittel für ihre Lyrics. Und eigentlich könnte auch: „Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter.“ (Heinrich Detering). Der Musikkritiker Ben Watson bezeichnet Zappas Mothers of Invention als „politisch wirksamste musikalische Kraft seit Bertolt Brecht und Kurt Weill“ wegen deren radikalem, aktuellen Bezug auf die negativen Aspekte der Massengesellschaft. So besehen war Frank Zappa neben Carla Bleys Escalator Over The Hill einer der bedeutendsten und prägendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die Komponistin führt uns vor Ohren, dass Improvisation ein gesellschaftspolitisches Idealmodell ist.