Bad Münstereifel, 9.10.2007
Liebe Katrin, …Dein Gedicht hat einen zögernden Titel („- und doch“), der an Erlebtes anknüpft. Das lyrische Ich behauptet: Trotzdem! Trotzdem leben, lieben, es ist die Verneinung der Resignation. Es geht um Selbstbehauptung. In schwierigen Bildern folgen im ersten Abschnitt Gedanken über Widerstände in einer Beziehung, vermute ich. Die Gedanken sind fragmentarisch, Fetzen: Wohin glauben? Wohin glauben Lippen? Was glaube ich, was glaubt mein Körper? Alles Behaupten ist Glauben. Es gibt keinen festen Halt (außer an mir selbst). Es gibt nur Brocken, Fetzen, Fragmente der Erkenntnis (beim andern, in meinem Leben). Ich oder die Welt, wie eine topografische Landkarte geglaubt/verkannt: Das ist Unsinn. Ich bin mehr und weniger, bin nicht festgelegt. Beim Sehen (pupillen) habe ich schon Barrikaden. – Puppenregen ist ein sehr schwieriges Bild: Wird hier das Bild der Frau kritisch gesehen oder sind wir alle Puppen im Sinne von Marionetten (ich denke, das passt am besten zum Beginn des Gedichts), die sich selbst zu verstehen suchen im Nachzeichnen, das aber vom Regen wieder verwaschen wird? In dieser Sandödnis: Wir. Ein Paar – oder die Gesellschaft. Ich denke ein Paar, weil im zweiten Abschnitt das Du auftaucht. – Zu löffeln gibt es Steine, die Beziehung ist hart, vielleicht wegen der (gesellschaftlichen) Vorgaben. – Nichts ist wie früher (in tagen | die nie mehr anbrechen), das Jetzt ist fragil (in die niemand einbrechen | darf). Trotzdem Liebe, trotzdem Wir – bis zum Vergessen des Jetzt, der Widerstände, bis zum Verlust des Bewusstseins arbeiten wir uns aneinander ab: Höhlen uns aus, gefrieren, wir frieren uns gegenseitig ein. Das heißt: Es gibt letztlich kein Durchdringen, wir bleiben immer wir selbst, wir verschmelzen NICHT mit dem andern, wir sind allein, vielleicht sogar einsam, gerade in der Liebe wird das so deutlich. Es geht nicht anders, es steht von vornherein fest (die letzten beide Verse des ersten Abschnitts). – Ich denke, das Gedicht versteht sich zunehmend als ein verallgemeinerndes – aus dem subjektiv Erlebten heraus wird philosophiert in einer offenen Sprache, Denksprache, in offenen Bildern – spatialistische Bilderdenksprache.
Im zweiten Teil zerfällt die Sprache noch mehr: in augen | gebeugt | wirfst hautlos / momentlang | auseinander. Zerbricht, zerfällt das Gegenüber, das Du – oder redet sich das lyrische Ich selber an? Ich halte beides für möglich, denke aber, dass ein anderes Du sinnvoller ist, vor allem in der letzten Strophe, obwohl auch das lyrische Ich sich betrügen (zucker) kann, sich Namen gibt. Ja vielleicht ist die Interpretation intelligenter, wenn sie die Ichgespaltenheit annimmt, den Selbstdialog. Ich schwanke. – Ich sehe mich klein (gebeugt), wenn ich allein oder ganz nackt bin (hautlos), gehäutet in meinem Alleinsein, denn ich sehe durch mich hindurch, ich sehe mich schonungslos. Aber auch mein Sehen ist ein Glauben (getaucht in augen), auch meine Augen sind Maske, ich traue ihnen nicht, ich kann Erkenntnis (licht) nicht gewinnen. Dieser Teil endet mit größter Skepsis und scheint fast dem Titel und dem ersten Teil zu widersprechen.
Der dritte Teil bestärkt wieder die Selbstbehauptung: Nie wieder will ich gegen meinen innersten Willen leben / lieben, ich will nicht ohne Bindung (los gelöst) in einer Zwangsbeziehung (vernäht) stecken, nicht zwangsvertraut und leblos verschnürt sein mit einem Du, das mir mein Leben nimmt, das mich gar nicht kennt, nicht wahrnimmt. Trotzdem (Wiederaufnahme des Titels) will ich es wieder versuchen: Ich will leben, will lieben.
Vierter und letzter Teil: Es hat gebrannt, das Feuer der Liebe wird zu Asche. Vorwürfe: Warum hast du mich gelockt, verführt wider mich selbst? Warum gibst du mir neue (deine!) Namen, warum siehst du mich nicht, wie ich bin: Namenlos. Aber du bist mir nun doch vertraut, ja schon zu vertraut, das macht mich unsicher, ich habe Angst, dass ich mich wieder täusche (trügerisch), ich verdränge diese Gedanken, es ist besser, wenn ich gar nicht erst analysiere, lieber nicht glauben (wohin glauben…?), denn meine Erkenntnisse wären ja sowieo nur Schemata, falsche Bilder (aus augen tropfen | muster) – und das sind falsche Versprechen, die halten nicht. Was wir uns sagen, ist nicht wahr – die Worte zerbrechen schon am Mund. Der Schluss kommt mir ambivalent vor: Ich glaube an nichts, ich kann Erkenntnis und festen Halt nicht gewinnen, bin Sand (schon oben heißt es: pupillen | mit sand | nachgezeichnet puppenregen). Aber ich bin markiert für die Flut, für die Liebe, wenn sie kommt, in ihr will ich aufgehen, zergehen. Das Gedicht endet dialektisch: Es ist die romantische Sehnsucht nach Liebe, die sich selbst durchschaut und weiß: Die ersehnte Wirklichkeit erfahre ich allenfalls, indem ich sie glaube.
Ein großartiges Gedicht. Klar gebaut. Polyvalent – und doch klar genug. Die Skepsis überwiegt. So richtig kann das lyrische Ich (noch) nicht an eine gegenseitig erfüllende Liebe in Partnerschaft glauben. Damit stehst du – wieder einmal – den Gedichten Ingeborg Bachmanns sehr nahe. Sag mir aber, ob du meine Interpretation (teils Interlinearversion) akzeptieren kannst.
Herzlichst: Dein Ulrich Bergmann
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Aus der Reihe „Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft“ Gedanken über das lyrische Schreiben.
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