Ein doppelsinniges Gewächs

Wahrheiten stürzen aus der Deckung,
knirschen im hellen Haus
wächst blinder Schnee.
Nur die zaudernden Träumer
mähen ihre Worte,
hüten Gräser,
denen ich trauen mag
.

Jane Wels

Obwohl ihre Blätter fast nur aus Zwischenräumen bestehen, kann die Lupine dank feiner Härchen an der Blattoberseite und den Rändern damit Tropfen festhalten. Man nimmt dies kaum war, weil Wasser durchsichtig ist; aber manchmal scheint das Licht hindurch. Darin ähnelt die Pflanze einem Gedicht, denn auch die Königsgattung der Literatur besteht aus Zwischenräumen. Zwischen den Zeilen, zwischen den Zeiten. Jeder Leser hat die Chance mit seiner Ergänzungsleistung diese Zwischenräume zu füllen.

Ist Kultur eine veredelte Form der Natur?

Im Band Schwankende Lupinen erfahren wir erneut, das nur die Lyrik dem Verstand die Möglichkeit gibt, Sätze, Bilder und die Natur zusammenzudenken. Der Sinn dieser Poesie, in dem ethischen Imperativ, ändert das Leben durch das Tun, auf einer Metaebene lassen sich die Lupinen als ein Anschreiben gegen den Klimawandel lesen. Auch wenn die Erkenntnis nicht neu ist: Lyrik ist eine Gattung, die zwischen den Zeilen Zeit und Raum gibt, weil diese Leerstellen dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern. Gedichte dehnen sich aus, wenn man sie liest. Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungsstränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüche, die es, diese Königsdisziplin, in sich trägt. Ein Gedicht wird nicht nur im horizontalen Textverlauf rezipiert, sondern muss im Leseprozess auch mit jenen vertikalen Verbindungen versehen werden, welche die Position eines Elements im Zusammenhang mit jenen gleicher Positionierung kennzeichnen. Jane Wels fügt die Worte aneinander, die niemals von selbst zueinander fänden, zwischen denen jedoch eine Anziehungskraft besteht.

Oft führt der Blick auf die Lyrik auf eine Mischung aus Unverständnis und Faszination zurück.

Ähnlich wie die Gattung Lyrik seit dem Gilgamesch-Epos, zählen Lupinen zu den ältesten Kulturpflanzen. Die Gedichte von Jane Wels sind mitunter so divers, wie die beschriebene Pflanze, sie sind so vielfältig und widersprüchlich wie das Laben selbst. Die Unstimmigkeiten von Kultur und Natur ermöglichen der Poetin auf inhaltlicher Seite, sich behutsam dem Material zu nähern, während sie auf formaler Seite die Gemachtheit dieser Gedichte abrunden und poetisieren kann. Dies, ohne in das mulchige Gelände des Nature Writing abzurutschen. Die beschreibende und empfindende Autorin muss sich nicht zwischen dem Subjekt und dem objektiven Ansatz des naturwissenschaftlichen Denkens entscheiden. Sie mäandert entschlossen zwischen Sprachspiel und Sinnsuche. Die Samen insbesondere wilder Lupinen enthalten einen giftigen Stoff, der den Tod durch Atemlähmung verursachen kann. Bestimmte Zuchtformen hingegen sind ungiftig und nicht bitter. Sie können jedoch für Allergiker problematisch sein. Auch der Leser befindet sich also in Gefahr.

Mein Wolf

heult sich durch kulturelle Codes,

das Fell gesträubt

von den Endlosschleifen der Erwartungsbrüche

Jane Wels

Wir finden einige dieser programmatischen Gedichte in Wels‘ lyrischem Debüts Schwankende Lupinen. Es gibt in diesem Band noch einige sehr kurze Gedichte, allen ist gemein, dass ihr formaler Minimalismus eine semantische Dehnung begünstigt, da der korsettartige Kontext besonders locker geknüpft ist. Lyrik ist immer auch ein Nachdenken über sprachliche Begriffe. Die Sprache selbst, so scheint es, tanzt um die Fremdheit der Worte, wild, aufbegehrend, die sinnliche Welt mit allen Sinnen einsaugend. Seit Arthur Rimbauds emphatischer Proklamation: “Ich ist ein anderer” stellt das lyrische „Ich“ im 21. Jahrhundert lediglich eine pragmatische Verhaltensstrategie dar. Die Menschen wissen, dass sie über eine multiple Persönlichkeit verfügen.

Die Erfahrung des Ichs führt über Natur und Farben, Klänge und Künste, die Wels mit einem reichen Instrumentarium an ebenso originellen wie leicht fassbaren Metaphern in die Sichtbarkeit der Worte auf dem Papier überführt.

Und dieses Papier ist im Fall der edition offenes feld ein matt gestrichenes und ein Vergnügen für Haptiker, die dem Lesetempo angemessen nur langsam umblättern wollen. Wirtschaftlich gesehen ist Lyrik selbstverständlich blanker Unsinn, aber Betriebswirtschaft ist im Leben eben nicht alles. Lyrik wäre nach allen ökonomischen Gesichtspunkten schon immer zum Aussterben verurteilt gewesen, und trotzdem hält sie sich nach wie vor, notfalls eben in dieser bibliophilen Form. Und ähnlich wie die vivisektionen von Werner Weimar-Mazur, sind diese Gedichte kurze, teils spielerische Texte. Im Interesse der Lyrik ist diesem Verlag eine lange Zukunft zu wünschen.

 

 

***

Schwankende Lupinen. Gedichte von Jane Wels. edition offenes feld, 2024

Die Bücher der edition offenes feld sind ein Vergnügen für Haptiker

Weiterführend Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

→ 2023 finden Sie über dieses Online-Magazin eine Betrachtung als eine Anthologie im Ganzen.

→  Lyrik lotet das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen aus. Dies versucht auch ein Essay zum Beginn des Lyrikjahres 2024.