Diese Gedichte wirken unmittelbar! Die Bilder treffen in Herz und Seele. Es sind Existenzgedichte – schimmernd unter dünner Haut, so ähnlich heißt es in einem ihrer früheren Gedichte. Der Titel dieses Buchs verrät im Doppelspiel der Worte: Wir leben im Bewusstsein unserer Endlichkeit, und das Ende unseres Endes hat oft den beängstigenden, grotesk und absurd erscheinenden Vorlauf des Verendens. Selbst mitten im Leben endet und verendet vieles: Träume, Beziehungen, berufliches Glück und materieller Wohlstand. Manchmal hat dann das Wort „endlich“ zwei Bedeutungen. Nichts gilt absolut, der Tod ist immer anwesend in unserem Leben: Verendlichkeiten.
Die Verse fragen und suchen: Ich will die Welt verstehen, wie und warum sie so ist. Wie soll ich leben? Ich will mich selbst begreifen als ganze Person, mit Lippen, Zunge, Mund. Meine Haut ist so dünn, dass ich nichts verberge, alles trifft mich tief, kann mich öffnen – oder verletzen. In der Liebe und in der Dichtung ist es genauso.
[Ich will nicht durchs Leben humpeln, sondern fliegen! Aber mein Flug ist vielleicht nur Einbildung. Ich falle von Anbeginn an. Es geschieht alles von allein. Greifreflex! So heißt das erste Gedicht – es zeigt die Kluft zwischen Alltagsleben und Schicksalstiefe.]
Sabine Römmer-Speers oft liedhaft klingende Gedichte spielen inhaltlich subtil mit Reim und Form. Ihre Sprache fordert und unterhält zugleich. Sie bedient sich gängiger Jargons ebenso wie der Hochsprache, wagt das Unerhörte und wendet sich an alle Leserschichten, ohne populistisch zu sein. Sie verlangt dem Leser einiges ab. Diese Gedichte führen, indem sie das Unbewusste erhellen, zu einem besseren Verständnis unseres täglichen Lebens und tragen so dazu bei, bewusster zu leben.
Mit dem Titel „Unter dünner Haut“ schrieb ich schon vor Jahren eine Charakterisierung der Lyrik Sabine Römmer-Speers und parodierte sie freundlich:
Isabanisch
Wie Sisyphos hau ich mich hart in Stein,
der Marmor wird mein Bild, so kann ich mich erkennen.
Doch bald wird es mir fremd, ich muss mich von ihm trennen.
Ich stoß den Spiegel weg – und lass es sein.
. . .
Ich habe alle Gedichte von Isaban (Sabine Römmer-Speer) gelesen, mit dem Ziel, eine Auswahl der nach meiner Auffassung besten herauszufiltern. Fünf sollen es im Folgenden sein, die sprachlich schönsten, mir war egal, ob ich so alle Themen erfasse. Fünf Gedichte wie die fünf Finger einer Hand. Nur eins von ihnen steht in Sabine Römmer-Speers gedrucktem Gedichtband. Ich habe die Gedichte alle gern gelesen, sie sind technisch alle gelungen, haben Seele und Geist.
Ich will meine Auswahl kurz erläutern: Die Gedichte, in denen mir die Metaphorik besonders überraschend erschien, zog ich in die engere Wahl. Weitere Kriterien: Wortwitz, Neuschöpfungen, Normenverstöße (etwa beim Sonett), Binnenreime, natürliche Artistik, Klang und Rhythmus, Ausstrahlung, also Stimmung durch Vokale und Schlüsselmetaphern, syntaktische Eigenwilligkeiten. Wichtig war mir auch, dass die Gedichte sich nicht zu sehr an frühere Epochen anlehnen, sondern in unserer Gegenwart bestehen, was Sprache und Problemaktualität angehen. Da zog ich die Gedichte vor, die überzeitlich, also zeitlos und zugleich gegenwärtig formuliert – also archetypisch sind. Davon gibt es viel mehr als fünf, ich tat mich schwer im Streichen.
Anthrazit
Heut ist ein Tag, um Schwarz zu tragen.
Womöglich geht auch Aschegrau.
Hoch oben rändert Ruhrpottblau;
hier unten glimmt das Unbehagen.
Mich fühle ich unsäglich flau.
Unsäglich. Das schlägt auf den Magen
und schreit nach Schweigen. Nichts mehr sagen.
Verwortung macht die Kehle rau,
doch ändert nichts.
So blöd war ich! Wird Frau je schlau?
Wie konnte ich so dämlich fragen,
obwohl die Flöze offen lagen –
die Antwort kannte ich seit Tagen.
Was ich nicht bin weiß ich jetzt zu genau.
Das schwarze Sonett thematisiert die Kollision einer Frau mit der Männerwelt, entweder in der Arbeitswelt oder in der Liebe. Trauer ist angesagt. Ein Tod, ein Abschied. Ein Feuer ging aus: Aschegrau. Über der traurigen Angelegenheit gibt der blaue Himmel (immerhin!) nur den Rand, den trügerischen Rahmen. Ruhrpott und Unbehagen deutet auf Arbeitswelt.
Im zweiten Quartett wird das näher erläutert: Das weibliche Ich ist deprimiert und zieht sich in sich selbst zurück, ist unfähig, etwas zu sagen, so niederschmetternd war die Enttäuschung. Kein Wort lohnt sich, weil es nichts ändert. Dieses Ich ist machtlos angesichts der erlittenen Gewalt des Verlusts. Kündigung der Liebe oder der Arbeit, beides geht, beides ist schlimm. In den beiden Terzetten wird der Grund der persönlichen Katastrophe angedeutet: Das weibliche Ich hat sich nicht eingefügt in die gegebene Hierarchie. Sie hat sich angemaßt, mit ihrem Gegenüber (Chef oder Geliebter) auf gleicher Augenhöhe zu sein. Obwohl die Flöze offen lagen: Sie hätte es wissen müssen, sie kannte das unterirdische System, die ungeschriebenen Regeln, sie wusste vorher, dass die Liebe (oder die Zusammenarbeit) nicht gelingen konnte, jetzt weiß sie es mit dem ganzen Körper.
Mir gefällt an diesem Sonett – das der dialektischen Struktur gehorcht, aber frei bleibt im Metrum – die Ambivalenz der Aspekte Arbeit und Liebe. Mir gefällt der politische Inhalt in einer Elfenbeinturmform, mir gefällt die Klarheit der Kritik: Wer kann die Flöze dieses Unbehagens abbauen? Diese Selbstverständlichkeit der Ungleichheit?
Das folgende Gedicht greift den Faden des Sonetts auf, der mit der Erkenntnis zu tun hat: Ich will wirklich verstehen, warum die Verhältnisse sind, wie sie sind. Das Pergament ist meine Haut, das Geschriebene, meine Sprache ist meine Haut! Ich will verstehen, ich will mich beschreiben. Ich will meine Haut wie mein darauf Geschriebenes, Gedachtes, Gefühltes verstehen. Nicht nur ich beschreibe mich, sondern auch die Welt beschreibt mich. Das will ich verstehen als ganze Person, mit Lippen, Zunge, Mund. Wieder ist es ambivalent: Liebe und Lebensbehauptung. Lieben ist Leben! Und umgekehrt. Ich will glauben: Ich will übereinstimmen mit meinem Körper und der Welt, die ich liebe wie den Geliebten, mit dem ich mich verstehen will – als trügen wir Gelebtes nicht / und unter dünner Haut: Das ist wieder ein Doppeltes – Verdrängung dem Leben zuliebe, ich stehe nicht unter der Last des Erlittenen, des Gelebten, ich bin frei zu Neuem, und umgekehrt: Meine Haut ist so dünn, dass ich nichts verberge, nichts unterdrücke. Es ist die Bedingung für den Liebenden wie den Dichtenden! Diese Ambiguität macht das Gedicht so wertvoll:
Pergament
Und wie zum ersten Mal berührt
will ich Gesagtes neu verstehn
will glauben was wir tun
mit Lippen Zunge Mund
als trügen wir Gelebtes nicht
und unter dünner Haut
„Zwielicht“ thematisiert die Ambiguität des Lebens! Wir sind im paradiesischen und zugleich höllischen twilight garden – der Dualismus von Leben und Tod wird stark relativiert im Bild von Tag und Nacht, die sich ineinander schieben in unendlichen Nuancierungen. Es gilt nichts absolut. Tod schimmert schon auf im Leben – vielleicht kann Leben im Tod wieder erglimmen. Hegels dialektische Methode ins Synästhetisch-Impressionistische gewendet! Farben und Geräusche verschmelzen im nächtlichen Lebenstag:
Zwielicht
Zweilichtern, Schattierung,
fein bläulich zum Morgen,
verschleichendes Weichen,
Konturen weichzeichnen,
anheimelnd, unheimelnd
zum Umschlag ins Dunkel;
die Stunde, die wispert,
wie flüsternd zerbildert,
Geräusche verkleidet
und Farbtupfen wildert,
verschiebt uns ganz sacht,
hin zum Tag und zur Nacht.
„Binnenreime“ – ein Gedicht der Liebe, ganz eindeutig nun: Ich sagt du, reflektiert die Liebe. Ich erinnere mich, ich erkenne im Erinnern, bin jetzt nicht mehr blind, ich sehe dich endlich, wie du bist, ich sehe, wie wir sind – Neben Gelingendem war immer gleich auch das Scheitern der Liebe, das Wahre und Echte, und das Ungereimte. Ich gab für unsere Liebe meinen Verstand auf, das war falsch, ich sehe jetzt, wie du mich betrügst, wie ich blind war im Taumel meiner Liebe zu dir, die eine Obsession war, mehr eine Projektion, die du ausnutztest, die dich nicht befriedigte – ich denke das Gedicht beim Interpretieren weiter – so verlorst du mich, so verlor ich dich, so verloren wir uns, ich rede nicht von deiner Schuld, ich stelle die Bedingungen unseres Scheiterns fest. Übrig bleibt mein Selbstbetrug und dein Betrügen, ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Binnenreime
Ich hab dich heut gelesen, du
und viel von dem erkannt,
was eklatant und immerzu,
was echt und pur, was damals nur,
was wirklich tief und voll daneben war.
Die Leichtigkeit, das Darfichnicht,
die vielen Wege bis nach Rom,
das unerhörte, gar nicht wahre,
unerträglich unnahbare,
ungereimte, klipp und klare
Kriegmichdoch, der noch und noch
Totalverlust von Logik und Verstand,
der elegant zu Bette rief.
Ich roch an deinem Brief
und fragte mich, wer wohl seitdem
in deinen Worten schlief.
Das dunkelste, aber wahrste Gedicht setze ich an den Schluss. Ich weiß, ich habe für meine Rezension keine strahlenden, warmen Gedichte ausgewählt, von denen Sabine Römmer-Speer so viele geschrieben hat, aber mir stehen diese hier näher, ich finde sie (noch) gültiger.
Die Idee des Gedichts „Greifreflex“ ist eine einfache Überlegung, aber eine harte Wahrheit. Hier wägt die Dichterin ab: Wie soll ich leben? Soll ich mich achtzig Jahre und mehr abmühen – oder soll ich im kurzen Rausch dahinfliegen? Ich will nicht durchs Leben humpeln, sondern fliegen! Aber das Gedicht sagt auch, dass dieser Flug nur Einbildung sein kann, ich falle von Anbeginn an. Ich lebe lau und langsam auf meinen garantierten Tod hin, ich bin Angestellter bei Quelle oder in einem Ministerium – oder ich stürze heiß in meinem Leben zum schnellen Tod, ich bin ein Freikletterer an der steilsten Lebenswand. Ach, wir haben keine Wahl! Unser Leben hat so oder so etwas Suizidales. Wer will da urteilen, was besser ist, Fallend fliegen oder halbtot humpeln? Es geschieht alles von allein. Greifreflex! Der Körper handelt, will leben, so – oder so.
Greifreflex
Stell dir mal vor,
du lässt ganz einfach los
und fällst ins Ungewisse.
Die Augen zu und durch.
Es ist ein Fall,
ja klar, es ist ein Fall.
Man fällt zudem
recht selten wieder hoch.
Und doch:
Bis kurz vorm Boden
ist es fast wie Fliegen.
Es sieht viel leichter aus
als all das Klammern an den Rand.
Diese fünf Gedichte haben es in sich, denke ich. Sie sind – zum Glück! – nicht derart komplex und subtil wie die drei Erstplatzierten im Lyrikwettbewerb „7 Minuten Leidenschaft“, sie zitieren viel weniger Literaturgeschichte und sind daher viel primärer, gerade weil sie sich den Modernismen verweigern. Ich will nicht missverstanden werden: Die Sieger-Gedichte des Wettbewerbs „7 Minuten Leidenschaft“ sind gelungen, ich will sie auch nicht verurteilen als Konstrukte eines fragwürdigen Zeitgeists (Modernismen…), ich schätze Isabans Lyrik wegen ihrer unmittelbaren Wirkung, die auf Einfachheit beruht. Ihre Gedichte haben oft etwas Liedhaftes, sind also der Musik nahe. Obwohl die Metaphorik der Gedichte immer klar ist (also nicht ungekonnt verschwommen, nicht verloren in kognitiven Labyrinthen), trifft sie in unsere Seele, erreicht unser Gemüt und hebelt das Irrationale heraus aus uns. Sabine Römmer-Speers Sprache bedient sich gängiger Jargons ebenso wie der Hochsprache, wagt das Unerhörte und wendet sich an alle Leserschichten, an die akademisch veredelten oder versauten Köpfe wie an einfachere Gemüter, ohne populistisch zu sein. Im Gegenteil, sie verlangt jedem Leser einiges ab. Sie fordert und unterhält zugleich. Es sind Existenzgedichte – schimmernd unter dünner Haut.
Verendlichkeiten, Gedichte von Sabine Römmer-Speers, Engelsdorfer Verlag. Leipzig 2014
Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.