Kann ein Sammelband mit achtundneunzig Gedichten, in mehr als fünfunddreißig Jahren entstanden, die elementare Vielfalt des Meeres erfassen, vorausgesetzt das poetische Ich des Lyrikers verharrt nicht nur als reflektierender Beobachter an der Endstation Meeres-Sehnsucht, sondern wirft sich gleichsam im Rausch in unfassbare Tiefen, in der Wünsche und Träume mit ozeanischer Unbegrenztheit erfüllt oder auch gelöscht werden? Eine solche Voraussetzung ist dann gegeben, wenn ihr Autor gleichsam zum Schreiben verbannt ist und seine poetisch hoch aufgeladenen Kompositionen auch ein in sich nachvollziehbares Konzept enthalten. Horst Samson, Autor von zahlreichen Gedichtbänden, Herausgeber von Anthologien und Sachbüchern, literarischer Übersetzer aus dem Rumänischen und Aromunischen, Feuilletonist und Journalist, ist mit dem vorliegenden Gedichtband etwas gelungen, was in einer umfassenden poetisch aufgeladenen, rhythmisierten Durchdringung seiner Sujets zum Ausdruck kommt. Und sich bereits in der Gliederung der Gedichtsammlung nach Überschriften niederschlägt: Prolog; Verbannt ins ewige Nichts; Gestützt auf lange Schatten; Ode an die Gefangenen; Nur Liebesbriefe halten durch; Beim Umblättern der Jahre; Epilog.
Eingebettet in fünfzehn kolorierte, verfremdete Fotografien und einer Schwarz-Weiß-Version verleiht dieser Buch-Komposition aus Bildern und Poemen in einem schwarzen Paperback ein hohes Maß an Erwartungen, die schon beim Reklamieren des Prologs „Versuch über das Gedicht“ erfüllt werden:
„Das Gedicht ist in der Stille / Ein winziges / Tier, Sprache auf der Flucht / In Verliese des Hirns, verliert es / …“.
Es ist der geschickte Umgang mit dem Enjambement, dem Zeilensprung eines Bildgedankens, das den meisten Gedichten eine wachsende Spannung verleiht, die von einem Sinnbild zum anderen wandert: „Ach Universum – alles so / Fröhlich, alle tanzten den Sturzflug / Der Lemminge… So setzt das Kapitel Verbannt ins ewige Nichts ein, in dem der heimatlose, ans Schwarze Meer verbannte Publius Ovidius Naso, der aus Rom verbannte Dichter Ovid, sein Leid seiner ihm verbliebenen einzigen Heimat, dem Meer, klagt:
„Das Ich in Trauer in diesem leeren / Niemandsland – Heimat, welch ein Wort / Das grelle Jetzt / Oder nie. Gefangen und befangen darin / Sitzt einer in der Sprache, der weiß /…“
…. und dennoch hilflos zusehen muss, wie er seine Lebenszeit vergeuden muss.
Doch die Verbannung ins ewige Nichts ist überraschenderweise auch mit ganz anderen poetisch verdichteten Visionen und persönlichen Erlebnissen erfüllt. Da stromern Fische aller Arten durch Europas Flüsse, und das Meer wird als letzter freier Ort auf der Welt (mit einem Verweis auf Hemingway) einmal als Koloß bejubelt, ein anderes Mal „als dunkles Werkzeug der Götter / Die aus Menschen Quallen machen / Oder Mörder,“ beschrieben. oder gar als hintergründiges Stilleben mit Sonnenschirm und schweigenden Stimmen in den Wellen nachgezeichnet. Und der Urlaub am Meer, der mit zarten erotischen Details in dieses „ewige Nichts“ aufgenommen wird?
„Mit verdrehten Augen / Laufen wir glücklich über den Strand / In den spitzen Schrei einer Möwe.“
Sehr unterschiedliche poetische Visionen vor dem geographischen Hintergrund nord- und südeuropäischer Küstenlandschaften enthält das Kapitel Gestützt auf lange Schatten. Es wird eingeleitet durch ein Zitat aus Paul Celans Gedicht „Corona“ und einer poetologischen Reflexion über die zeitliche Dimension in einer imaginären Stunde, in der aufgebrochene Nussschalen zu einer Metapher für schwer belastete Erinnerungen und eine gescheiterte Liebe werden. Was dann folgt sind poetisch hoch aufgeladene Visionen über und harte Schnitte durch norwegische Küstenlandschaften wie auch einfühlsame Beschreibungen gleichsam versunkener griechischer und italienischer Küstenorte. Was auffällt sind die unerwarteten Bildwechsel und plötzlichen gedanklichen Umbrüche, wie zum Beispiel eine Reflexion über massenhaft aufgehängte Stockfische, deren Präsenz die reale und traumatische Wahrnehmung des lyrischen Ich erschreckt.
„Der Himmel hängt voller / Geköpfter / Fische, die Leiber aufgeschlitzt / Ausgeblutet im Zwielicht / Der Mitternachtssonne / Auf den Lofoten …“ .
Und diese Fische tauchen dann im Traum, im alter Ego des Dichters, wieder auf, der von Schmerz erfüllt ist, vom Gestank der aufgehängten, sich rächenden Dorsche betroffen.
In einem Gedicht (Die Flut auf Lesbos) wird an die unbarmherzigen Voraussetzungen für das Überleben von Flüchtlingen aus der Türkei erinnert, die kaum an der vorläufig rettenden Küste von Lesbos gestrandet, nicht sofort nach Lebensmitteln verlangen, sondern um Strom für ihre Handys bitten, um die Fortsetzung ihrer Flucht zu organisieren. Was in diesen pointierten Bildern faktenorientiert ist, das vermag in einer touristisch ausgemalten Kreuzfahrt durch das Ägäische Meer nur wenig überzeugen (vgl. Kreuzfahrt, 2017, S. 70). Dort „Verschlägt es dem Ich die Sprache, „… bevor uns / Bei den Kykladen Millionen Sterne überfallen.“
Es ist schade, dass unter den zahlreichen sehr gelungenen Gedichten sich auch einige klischeebeladene Wortfelder eingeschlichen haben. Sie verleihen dem Gedichtband da und dort den Eindruck einer Beliebigkeit, die das Meer nicht zum Rauschen bringt, sondern es in die Zonen des verbrauchten Wortmülls verbannt. Ganz anders in der Ode an die Gefangenen, wo knappe, fast pointierte Visionen von Heiligenhafen (2016) benutzt werden, das Gedicht Versenktes Paradies (2018) die Freuden der Kindheit an der Donau beschwört, und in Sanary-sur-Mer. Am Hafen (2014) an den Ort am Mittelmeer erinnert wird, wo zahlreiche österreichische und deutsche Schriftsteller in den Jahren nach 1933 auf der Flucht vor den Nazi-Schergen Halt machten. Und in Erinnerung an das Gedicht Rückkehr der Schiffe (2019) von Hilde Domin steigen in dem Poem Rauchsäulen über dem Wasser auf, um zu signalisieren, dass der Tod sich im Gespräch mit dem Dichter befindet, für den es, wie für die ganze Mannschaft, keine Rückkehr zu den Lebenden geben wird.
Sehr intime, mit unterschiedlichen Gefühlen aufgeladene Töne klingen im Kapitel Nur Liebesbriefe halten durch an. Neruda der berühmte chilenische Dichter, dient als Metapher für den „Herzschlag des Ozeans“, und das ins Meer abtauchende lyrische Ich fühlt sich vielleicht als „Kind eines Delphins, eines Haifisches, eines Wals“. In einem Gedicht, das den Titel „Atlantik“ trägt, nimmt es sogar die Herausforderung an, „mitzufließen Ins / Verlockende Schaumbad / …“. Das Meer erweist sich aber auch in den folgenden poetischen Bekenntnissen als Kulisse für Liebesbekundungen und überfließende Gefühle. Sie tragen die Namen der Adressaten, sie greifen in den Bekenntnissen des Ich auch religiös aufgeladene Metaphern auf und benutzen das Meer als ozeanischen Inbegriff der Liebe.
Ganz gemischte Themen greift hingegen das abschließende Kapitel Beim Umblättern der Jahre auf. In dem Eingangsgedicht über „Rügen im September“ hilft ein leichter Wind vom Meer (die Ostsee erhält hier metaphorische Dimensionen) beim Umblättern der Jahre. Im „Nirgendwo der Staatenlotterie“ stellt ein kollektives Ich (mit einem Gewissen der Zeitlosigkeit?) vage Überlegungen über das Rad der Geschichte an, von dem das Ich überrollt wird; und im „Das Lied der Wüste“ „Pilotet (der Sand) europawärts und findet / Kein Land, verstaubt vergeblich die Metapher, / Sie leidet am Virus / Poesie. Das Meer ist kitschig und furchtbar/ Blau und leer gedichtet“. Ist dies ein Eingeständnis, dass sich beim Umblättern der Jahre nunmehr eine Unlust am Dichten einstellt? „Der Versuch über Klarheit“ mit San Remo, 2016, unterzeichnet, verweist auf „Sehnsüchte, die in großer Eile im Sonnenuntergang verschwinden“ und „alles sieht danach, als ob es uns nicht gegeben hätte.“
Wie schade, denn vor allem in einem der zuletzt abgedruckten Gedichte klingt die Fähigkeit des Dichters zur ironischen Brechung von kühnen Behauptungen an. Es ist „Die Bewerbung um die vakante Stelle im Pelagos-Projekt“, in der das lyrische Ich in der Verkörperung eines Delphins die wunderbare Eigenschaft rühmt, die dieses überaus intelligente Meerestier aufweist, um damit mit aller seiner Selbstlosigkeit den Menschen als Vorbild zu dienen. Diese Fähigkeit stellt das lyrische Ich in „La Mer – Lebenssinfonie in vier Sätzen“ aus dem Jahr 2019 noch einmal heraus, wo es heißt: „1. Ich kann mit Delphinen reden“. Daran schließt sich der Epilog an: „Ich beherrsche die Kunst des Gehens“. Er schließt diesen so vielschichtigen Gedichtband ab, lässt das Meer noch einmal rauschen und stürmen, und belohnt den Lesenden und vielleicht sogar Deklamierenden mit einer Fülle von eigenen und eigenständigen Empfindungen.
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Das Meer im Rausch, von Horst Samson, POP Verlag 2019
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.