Poetry is when every line begins with a capital. (Graffito)
„Dichtung ist das Sakrale im säkulären Getriebe, ohne Religionsersatz sein zu wollen … Was genuin gut ist, tief, erlitten und fest, das bleibt …“ und schützt uns vor dem Zerfall unseres Zuhauses, schreibt der Bonner Lyriker Ludwig Verbeek in seiner engagierten Verteidigung des Gedichts als kosmisch-universales Kunstwerk („Die Rolle der Lyrik in der digitalen Gesellschaft“, 2012). Diese Thesen führen in die richtige Richtung. Solche Dichtungen wirken dem Zerfall entgegen, sie behaupten sich und unsere Existenz gegen austauschbare Beliebigkeit und armes Mainstream-Geplapper durch genaue und weitsinnige Analyse der gegenwärtigen Welt, ohne diese nur abzuspiegeln. Sie bewahren das Geheimnis der Sprache, das Verbeek fordert. Die prägnanten und unverwechselbaren Gedichte und Erzählungen unserer Zeit beweisen ihre Schönheit und Wahrheit in den vielfältigen Verfremdungen und in der eklektizistisch gesteigerten Polyvalenz der Worte und Bilder, sie sind sich der Unsicherheit alles Gesagten bewusst, sie tasten nach Sinn und dem Wesentlichen wie alle große Dichtung dies immer schon versuchte.
„Ein Gedicht, das nicht über die Sprache hinausweist, ist keins.“, sagt Verbeek. Eine hohe Forderung, vielleicht nicht gültig und nicht verbindlich für jedes Gedicht, wenn es hinter dieser Forderung zurück bleibt, trotzdem aber schön ist, schön im Sinne von wahr, einfach, self-evident.
Event-Kultur ist nichts Neues. Kunst, die nur der oberflächlichen Unterhaltung dient oder die Welt unreflektiert widerspiegelt, bleibt hohl und leer – wir belügen uns damit. Aber wahre Dichtung wird heute gesucht wie eh und je. Vielleicht läuft die Aneignung von Dichtung heute ehrlicher als in bildungsbürgerlicher Vergangenheit, freiwilliger, kritischer, vorurteilsfreier, fordernder, weil die digitale Gesellschaft informierter und daher kritikfähiger ist. Kunstwerke, die uns tief treffen, bewegen und sogar verändern, gibt es nach wie vor – in unseren Theatern, Museen, Buchhandlungen, in Büchern und Zeitschriften werden sie erfahrbar. Minderwertigkeitskomplexe, Hemmungen und Bildungsbarrieren sind, was anspruchsvolle Kunst (und Politik) angeht, leider oft unvermeidbar, denn die hohe Kunst ist naturgemäß eine elitäre Angelegenheit.
Jede Gegenwart steht dem nur langsam sich vollziehenden Prozess des Filterns, Aussiebens, Bewertens von Literatur und Kunst gegenüber. Die digitale Technik ist ein Instrument in der Hand des Autors. Dieses Instrument ersetzt weder das Hirn noch die Sinne. Selbst automatische Werke sind, so indirekt sie auch entstanden sein mögen, Kunstwerke.
Der vielleicht wichtigste Satz in Verbeeks Essay, der alles relativiert: „Es gibt eine Konstante des Leids in der Geschichte der Menschheit …“ Genau das ist auch die Substanz aller bedeutenden Dichtung. Die digitale Gesellschaft wird die Kunst genauso wenig überwinden wie irgendeine Event-Kultur. Die Kunst wird die Digitalität nutzen. Ein dialektischer Prozess beginnt.
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Ein Rückblick auf: Die Rolle der Lyrik in der digitalen Gesellschaft, Essay von Ludwig Verbeek, 2012
Weiterführend → Ulrich Bergmann nennt seine essayistischen Alltagsbetrachtungen ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.