ich lehnte mich an den wind
im glauben auf rettung vor dem tod
griffen meine hände nach stimmen
die herüberwehten
aus einer anderen zeit
in einem früheren leben war ich vogelmensch
und flog durch kristalline gebirge
war schmetterlingsfrau und tauchte
in eine subduktionszone
war fisch der schwamm über geosynklinalen
mächtige klastische sedimente
die falten decken bildeten
und sich schoben über eine frühere zeit
war traum gedicht
und heimwehe in einem wort
war zeuge und verschwand
im siebenten traum erschien mir
eine schwarze libelle die post
kam wieder nicht kam nur
bis in den wald vor der stadt
darin sangen kreisende schwarzstörche
lieder aus deiner kindheit
saß eine alte frau und öffnete die briefe
alle briefe
auch die nie abgesandten
und die zurückgekommenen
(wo der adressat unbekannt verzogen
oder verstorben war)
sogar die nie geschriebenen
und
die noch zu schreibenden
niemand
sonst wollte sie lesen
lange dachte ich nicht
an das grün des waldes
das schwarz der libelle
die mit dem fluss kamen
wie erinnerungen in einem traum
aus dem gebirge
oder aus deinem mund
der sich bewegte
ganz langsam
zwischen den worten
die sommertage schienen
einfach zweifach
schälten sie sich aus dem jahr
wie rinde sich von körpern schält
waren die nächte mineralisch
ruhten zwischen uns blaue streifen
und hielt das licht fest
an spaltöffnungen in die dunkelheit
ich zeigte dir die schneezunge
das ganze jahr
wartete ich auf polarlicht
aus einem süden
der zu mir spricht
vergehen wir
bleiben wir
lemuren
***
heimwehe. gesänge von Werner Weimar-Mazur. Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2022.
Weiterführend → Ein Rezensionsessay von Holger Benkel zu diesem Band findet sich hier.
→ Eine Würdigung von hautsterben durch Ulrich Bergmann finden Sie hier. Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Auf KUNO lesen Sie u.a. einen Rezensionsessay von Holger Benkel über Werner Weimar-Mazur. Wir begreifen den Essay auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.