1.
Es giebt in Deutschland einen Dichter, einen echten Dichter; aber, fragt man einen aus der Menge nach ihm, so bekommt man entweder ein langes Gesicht oder ein ironisches Lächeln zu sehen. Dieser echte Dichter ist Detlev Freiherr von Liliencron. Er ist vorwiegend Lyriker. In seinen Gedichten schlägt der Pulsschlag des Lebens, warmen Lebens, das reichste Herz und der feinste Kopf spricht aus ihnen; in ihnen ist Natur, die vielfarbige, vieltönige, vielduftige Natur. Aber der Durchschnitt kennt ihn nicht, und viele, die darüber stehen, kennen ihn auch nicht, oder wollen ihn nicht kennen; nur eine kleine, ich möchte sagen, erlesene Schaar sucht ihn auf und ehrt ihn und schwärmt für ihn. Und einen giebt es, der den Namen Detlev Liliencron in die große Welt trägt, und das ist Otto Julius Bierbaum in München. In einem kleinen, dürftigen Bändchen hat er sich seine echte Begeisterung, seine ganze Liebe zu Meister Detlev vom Herzen weggejubelt. Vor kurzer Zeit veröffentlichte er bei Wilhelm Ißleib in Berlin einen ziemlich dickleibigen, prächtig ausgestatteten Band: „Erlebte Gedichte“. Alles in diesem Buche verräth den Einfluß Liliencron’s; aber ich will nicht mißverstanden werden: Einfluß, im guten Sinne zu verstehen. Nichts ist anempfunden, nichts angelernt und anerzogen, nichts gekünstelt und gemacht. Seine Weltanschauung ist ganz die seines Detlev: einzige Befriedigung im Naturgenusse, Verspottung des plumpen Philisters, des kläglichen Heerdenmenschen mit seiner platten, seichten Durchschnittsmoral. Nur eines, das bei Liliencron immer wiederkehrt, erinnere ich mich nicht, bei Bierbaum gefunden zu haben: feste Anhänglichkeit an die heimathliche Scholle, gesunde Vaterlandsliebe, obwohl sich das bei dem durch und durch Deutschen Bierbaum von selbst versteht. Liliencron aber hat in drei Schlachten wacker mitgefochten und wurde in zwei Feldzügen (66 und 71) verwundet.
Manche werden ihn verkennen und seine echte, heiße Vaterlandsliebe für Hurrahpatriotismus, wie ihn ein Wildenbruch zur Schau trägt, nehmen.
Liliencron und Bierbaum, Meister und Schüler, sind begeisterte Naturpropheten, gesunde Realisten. Und gemeinsam haben sie auch den liebenswürdigen Leichtsinn, die reizende Naivetät – andere werden es Fehler nennen –, mit der sie oft die Form vernachlässigen. Auf dem Titelblatt der „Erlebten Gedichte“ sehen wir einen Centaur, halb Rind, halb Mensch, und auf seinem Rücken sitzt ein kecker Schalk, der den Leib des kläglichen Menschthieres unaufhörlich geißelt; Heerdenmensch! lacht und neckt der winzige Amor. Ein Widmungsbrief an seinen lieben Detlev: „Deine Gedichte haben mir gezeigt, daß es noch eine deutsche Lyrik giebt, werth des großen Namens: freie Kunst; dein reiches, quellhelles, nicht freilich jedem schnell quellendes Wesen hat mir gezeigt, daß es nicht blos freie Köpfe, sondern auch noch freie Herzen giebt u.s.w. u.s.w.“ Dieser Brief ist ein Gedicht. Man braucht nur in dem Buche zu blättern, und man athmet Frühling und es lacht einem die Sonne entgegen. Die große, weite Natur, sie jubelt aus dem Buche, mit tausend Klängen, mit tausend Farben. Ach, das ist Idealismus, ihr Pensionsgänschenlitteraten, ihr Familienblatt- und <Gänseblümchenromanciers>, ihr Dichter für „höhere Töchter“. Ein Realist, hört ihr, der von euch verfehmte Realist lehrt euch, Idealisten zu sein. Ja, Realismus und Idealismus gehen eben bei gesunden Naturen Hand in Hand.
In der Form sind Bierbaum’s Poesien, wie gesagt, zuweilen mangelhaft. Zumal ein Umstand, der bei Liliencron nicht in dem Maße bemerkbar ist, fällt ungemein auf: seine Neigung zu Gedanken- und Gefühlsbombast, der seinen formalen Ausdruck in Wortschwulst findet. Man liest da oft wahre Ungeheuer von Neubildungen, die wirklich ganz unnöthige Sprachbereicherungen sind.
Aber überall, auch in den Gedichten, die von solchen Geschmacklosigkeiten wimmeln, bricht das Talent des echten Dichters sieghaft durch und alle Sünden werden reichlich wettgemacht durch viele, viele Dichtungen, die in ihrer bezaubernden Schlichtheit und lieblichen Natürlichkeit wahre Prachtwerke genannt werden müssen. Ich will einzelne Proben hersetzen. Ein frisches, sonniges Lied ist „Jeanette“ (S. 9):
Was ist mein Schatz? – Eine Plättmamsell.
Wo wohnt sie? – Unten am Gries,
Wo die Isar rauscht, wo die Brücke steht,
Wo die Wiese von flatternden Hemden weht:
Da liegt mein Paradies.
Im allerkleinsten Hause drin,
Mit den Fensterläden grün,
Da steht mein Schatz am Bügelbrett,
Hoiho, wie sie hurtig den Bügelstahl dreht,
Gott, wie die Backen glüh’n!
Im weißen Röckchen steht sie da,
Ihr Busen blumig bunt;
Kein Mieder schnürt, was drunter sich regt,
Sich wellenwohlig weich bewegt,
Der Brüste knospendes Rund.
Vorüber geh‘ ich allmorgens früh,
Schau‘ tief ihr in’s Auge hinein,
Da liegt meine Lust, meine Liebe, mein Glück,
Die lachende Kunde: Komm Abends zurück, –
Das Wäschermadl ist dein!
Eine prächtige Skizze (der Form nach, aber nur der Form nach Prosastück) ist „Gottesdienst“ (S. 13), heller Lenzluft voll, die aus plastischer Detailmalerei, aus den feinsten Stimmungsnüancen zu uns spricht. Man braucht eigentlich nur diese herrliche Dichtung zu lesen und man weiß dann, wer Bierbaum ist; aber man muß sie ganz kennen lernen. Ich kann hier nur den Schluß mittheilen. Also, unser Dichter ist im Mai mit seinem Freunde Hanns von Gumppenberg in Dachau. Hier kann sich sein schönheitsdurstiges Herz satt trinken. „Stille, Still . . . . die schweigende Schönheit athmet leise, voll. Da hebt aus der Tiefe der kleinen Stadt empor sich ein Singen, hell und schlicht: „Der Mai ist gekommen“ . . . von Kinderlippen. In enger Stube sitzen die Kleinen. Ich sehe im Geiste die frischen rothen Mäulchen sich gleichmäßig öffnen, sehe den Lehrer die Fiedel streichen, sehe die lustig mitsingenden Augen, – Kindheit, Kindheit, fröhliche, frische singende Unschuld!“ Und er geht dem Gesang nach.
„. . . Da verscheidet der Sang. Vor einem großen, grauen Hause steh ich still. Durch offene Thore weht wie Weihrauch kühl mildherziger Duft. In die Kirche tret‘ ich . . .
[188] Da starb meiner Schönheit Bild. Häßliches, freches Bunt an den Wänden, grausam thörichter Spott mit dem Leide eines gewaltigen, liebedurchloderten, göttlichen Menschen. Knieende Weiber, mit dumpfen, blöden, ängstlichen Zügen murmeln Gebete. Klappernd gleitet durch die harten, gekrümmten Finger die abgeriffene Perlenschnur des knöchernen Rosenkranzes. Ein dickes Priestergesicht aus Speckstein neigt sich und nickt und wackelt und wendet sich vorn am Altare.
Eine tiefe, schneidende Bitterniß grub ätzend sich in mein Herz. Was der Natur hold heilige Schönheit mir geschenkt, verdarb vor dem Menschenkram, vor dem Menschenbettelvolk, das sich vor fremdem Sein in den Staub winselnd wirft, statt freudig hinauf, jauchzend, freudig mit vollem Herzschlag, hoch hinauf sich zu heben zu seliger, lebender Schönheit.“
Ich nenne auch die „Prosastücke“: das prachtvolle „Golgatha“ (S. 19), „Frühling“ (S. 1), „Ernte“ (S. 17), „Aus einem Herbste“ (S. 25), „Erntelied“ (S. 28), „Ich freue mich auf morgen“ (S. 49), „Abend“ (S. 80), ein grandioses Gemälde, „Fin de siècle„, zwei Phantasiestücke an Hermann Bahr (S. 103), „Dämmerungszauber“ (S. 128), „Fieberlied“ (S. 131), „Genesung“ (S. 132), „Erste Blüthen, erster Mai . . .“ (S. 133), „Josephine“ (S. 137), „Zu einer Jubelfeier“ (S. 150), „Meine Sonne a.D.“ (S. 154), „Epistel an Detlev, geschrieben im Rathskeller zu München“ (S. 156), „Fabel für zukünftige Kritiker, die jetzt noch Kinder sind“ (S. 161), ein köstlicher Scherz, „<Cantus Lyriculorum>“ (S. 181), „Gebet“ (S. 186), „Die Römerschanze“ (S. 192), „Brunnenständchen“ (S. 207); und ich könnte noch viele Gedichte erwähnen, Beispiele noch mehr für beide Arten, in denen Bierbaum Meister ist, für das volksthümliche Lied und für die feine nuancensatte Stimmungsmalerei. Aber überall ist er Naturmensch, ein wahrer Prachtkerl, gesund durch und durch, im Hassen und Lieben. Was er haßt? Nun, wie sein Vorbild Liliencron, vor allem die deutschen, skatledernen Bierphilister und alle andern Philister, Zopf, Pfaffenthum und Militarismus, unsere süßlichen Durchschnittslyrikerchen, die er mit beißendem Humor haßt, den Undank der Deutschen gegen ihre wahren Dichter. Einige Verse noch, die in ihrer bittern Wahrheit so recht bezeichnend sind:
„Die Sittlinge müssen sich immer geniren,
Wenn einer recht herzhaft von Liebe spricht,
Sie denken halt immer an’s – Amusiren,
An des Räthsels Heiligkeit denken sie nicht!“ (S. 115.)
Und:
„Natur, mein Freund, ist immer sittlich.
Der Staatsanwalt freilich ist unerbittlich.
Jüngst hat er ein Andachtsbuch konfiscirt,
Weil sich zwei Fliegen d’rauf kopulirt.“ (S. 116.)
Auf Seite 150:
„Den guten Deutschen sind völlig wurstig
Ihre Poeten; sie sind nicht durstig
Nach der Schönheit schillernden Quellen
Und nach dem hellen
Tranke der Wahrheit;
Sie fordern nur Klarheit
Von ihren guten,
Malzwürzigen Suden.
Wer bei ihnen dichtet,
Der ist gerichtet;
Und wäre sein Dichten wie Sonnenschein golden,
Sein Herz ein Liebestempel der Welt:
Hat er kein Geld,
Wird er ein Narr gescholten.
Im Lande der Dichter und Denker nämlich
Mißt man bequemlich
Auch die Poeten,
Nach den Moneten.
Wem voll der Kopf und der Beutel leer,
Der trägt in Deutschland sein Leben schwer;
Blicken die Sache umgekehrt,
Der wird mit <Tsching!> und Bum! geehrt.“
Und was er liebt? Nun, neben der Natur die drallen Landmädel und Göthe. Und, wenn er liebt, so möchte er es gern in die Welt hinausjubeln, der Menschheit die Kunde von seinem Glück und sein Glück mittheilen.
Im „Frühling“ steht auf Seite 2:
„Meine Arme breite ich aus: Glück! Glück! O könnt‘ ich es allen, allen Menschen schenken, allen Menschen im drückenden Joch, allen Menschen mit krampfendem Herzen, allen denen, die im Hochflug ihre Flügel zur goldenen Sonne breiten möchten und im Schmutze harter Noth sich mühen müssen – –.“
Göthe betet er in dem Gedicht auf S. 186 an.
„O Göthe, Göthe, ewig Lebendiger,
Du Gott der Jugend, die in Versen athmet . . .“
Und dann weiter unten:
„O Göthe, Gott in meinem Herzen du,
Du Held und Heros, Deutscher und Hellene,
Heiland, der mir das Heidenthum bescheert,
Die große Religion des Dionys,
Die Rosenreligion, die tanzend beten lehrt
Und deren Symbolum die Sonne ist
Vierhunderttausendfach in schönen Mädchenaugen. –“
Dies für die Herren, die uns so gerne mit der Phrase kommen: „Die Modernen werfen alles Alte über den Haufen.“
„Keine Grisette
Aus Paris
Und nicht Müsette
Die Kleine hieß:
Das lustige Katherl,
Ein Münchener Maderl.“ (S. 86.)
Das ist bezeichnend für Bierbaum’s Lieben, noch bezeichnender das etwas derbe Volkslied:
„Von rothen Backen las ich diesen Spruch:
Bauernmädel rundes,
Bauernmädel gesundes,
Bauernmädel schenkelstramm
Haut die ganze Welt zusamm‘.“
Status! – das ist die Religion dieses jungen, gesunden, begeisterungsfähigen Herzens; die freie Gottesnatur ist ein Tempel, in welchem sich’s am andächtigsten beten läßt.
Was soll ich mehr über ihn sagen? Ich wollte mit meiner Kritik nichts anderes, als einmal gehörig meinen Enthusiasmus austoben. Das hab‘ ich erreicht. Ist es mir aber auch gelungen, ein Fünkchen nur von dieser Begeisterung meinen Lesern mitzutheilen, welches sie anregt, Bierbaum zu lesen, so bin ich mehr als zufrieden. Sie werden es thun und mir dann Recht geben: Ein urwüchsiges, ursprüngliches, starkes Talent, das noch im Stadium der Gährung begriffen ist – und, wenn es gährt, da treibt es bekanntlich oft gar sonderbare Blasen – das uns selbst Bürge für seine Läuterung ist, für seine Befreiung von den Schlacken geschmackloser Uebertreibungen, für seinen Aufschwung zu der Sonnenhöhe makelloser Kunst.
***
Erstdruck: Organ des Vereins „Breslauer Dichterschule“. Jg. 18, 1892, Nr. 12, Dezember
Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie wohltuend es mir ist, von Ihnen geliebt und beachtet zu werden. – so Detlev von Liliencron gegenüber seinem Bewunderer.
Karl Kraus ist 18 Jahre alt, als er den 48-jährigen Liliencron mit diesem Essay feiert. Der für sein scharfes Urteil Gefürchtete rückt sein Leben lang nicht von dieser Feststellung ab. Er bekräftigt sie noch: »Ein Dichter! – Das genügt. Man lese ihn!« Kraus liest Liliencrons Gedichte immer wieder vor, bis 1933.
Joachim Kersten beschreibt in seinem einleitenden biographischen Essay die Spielzüge des Lebensvirtuosen Liliencron und legt die Wurzeln von Liliencrons Werk frei. Friedrich Pfäfflin zeichnet die Stationen des Briefwechsels zwischen dem Dichter und dem Herausgeber der ›Fackel‹ nach. Seitenblicke gelten der Entdeckung des jungen Gerhart Hauptmann, Rilkes Liliencron-Enthusiasmus, der physischen Ablehnung des Liliencrons durch Hofmannsthal, der Unterstützung Liliencrons durch Elisabeth Förster-Nietzsche und Harry Graf Kessler oder Richard Dehmels verstümmelnder Redaktion der ersten Briefausgabe.