erinnerung an innige momente

oder zwischen ich und du, krieg und frieden

 

den knappen, präzisen, leisen, behutsamen und unaufdringlichen gedichten von philipp létranger, der in münchen lebt, merkt man lebenserfahrung an, so als hätte er schon jahrzehnte lang gedichte veröffentlicht. je mehr man sieht und weiß, umso einfacher schreibt man meist. und auch das lesen wird dann leichter. der name létranger, der auf den roman »Der Fremde« von albert camus zurückgeht, originaltitel »L ´Étranger«, meint hier gefühle, häufig vage, der fremdheit und distanz der wirklichkeit gegenüber.

der lyriker schreibt von lebensfrüchten und traumtagen. »wenn die tage reif sind / lese ich die früchte aus sonnigen tagen / in weite körbe«, heißt es in »oktober«. vielfach spricht er ein du in innigen partnerschaftlichen momenten an. »juli« beginnt mit: »blicke senken sich / und weiden sich auf der haut / ich flechte dir ein band aus hellen stunden um den hals.« in »flüchtig« lesen wir: »manchmal sehe ich deine spuren / bist du barfuß / durch ein gedicht / gewandert.« es ist sensibel, wenn gedichte nicht mit schuhen betreten werden.

mitunter kann das du auch das lyrische ich sein, das sich so im dialog mit dem blick von außen erkundet, wie in »brache«: »nur selten erinnerst du dich an die tage / als das netz der worte / dicht geknüpft die träume fing.« oder »vom glück«. in »unter sternen« vergleicht der lyriker die eigenen jahre mit gehüteten schafen. wenn manche menschen schafe zählen, um einzuschlafen, so leben sie demnach umso länger, je später sie schlaf finden. das ist wie beim früher im volksbrauch verbreiteten orakel, die anzahl der lebensjahre, die einem bleiben, anhand der rufe eines kuckucks zu ermitteln.

manche texte trauern und nehmen melancholisch abschied.  »vom glück« endet mit »wenn du einmal aus gezogen sein wirst / aus deiner zukunft, /     und die türen zu / geschlagen sind    zur vergangenheit, / die leere        eingezogen, / dann schau, wer spricht    vom glück?«. im leben entspricht die stärke der schmerzen häufig der intensität der hoffnungen, erwartungen und verheißungen, die man hat, oder hatte. man erkennt dann, vieles ist umso schöner, je weniger es der mensch unbedingt braucht.

im zyklus »Gespräche mit den fünf Elementen« schreibt er über holz, feuer, erde, metall und wasser. das gedicht »erde«, an die mutter gerichtet, endet mit »fürchte nicht den kalten wind der zeiten / sagst du leise // deine wurzeln sind tief / und halten dich fest / bis an dein ende / in mir«. wurzeln sind das gehirn der pflanzen. und dichter haben oft etwas vegetarisches. metalle werden dem körper der erde, embryos oder herzen gleich, von menschen zum profanen gebrauch entrissen, um sie in produkte, geld und gewinn zu verwandeln. dichter der deutschen romantik, die den erdinnenraum symbolisch als einen seelenraum sahen, verbanden dieses motiv mit dem des kalten herzens. das gedicht zum feuer ist ein partnergedicht. doch bei feuer bleibt vorsicht geboten. denn züngelnde flammen können auch die form der hörner des teufels haben. das element luft, das man nicht sehen kann, sondern nur seine wirkungen, fehlt hier. im gedicht »gift« lesen wir: »das wort ist ein brüchiges gefäß / für die fragen der zeit«, in »sprach:los«: »schatten schlüpfen / in die falten der lichter // leben unter die haut geritzt / von den scherben der träume / im narbigen gewebe / nie verheilt«. das gemahnt an die zerbrochenen gefäße der »Kabbala«.

wir finden rückblicke, bis in die eigene kindheit hinein, mit maikäfern und eisenbahnen. in »ich übe vergessen« erfahren wir: »da winken kindgestalten aus fahrenden zügen / wie reisende aus bunten lebensträumen.« diese gedichte können beim leser eigene erinnerungen wecken. ich winkte, teils mit andern kindern gemeinsam, an der schranke stehend zum zug hin. und manchmal winkten reisende, auch kinder, und gelegentlich sogar lokführer, zurück. bewegung stimuliert bewegung. an zügen fasziniert kinder, zumal sofern sie darin sitzen, wohl vor allem die geschwindigkeit, auch wenn sie noch nicht an ihre lebensreise denken. als die ersten eisenbahnen im 19. jahrhundert fuhren, wurden die lokomotiven teils mit feuerschnaubenden drachen verglichen. manche reisende, insbesondere frauen, sollen damals bei ihrer ersten bahnfahrt wegen des tempos und der vorbeirasenden orte und landschaften ohnmächtig geworden sein. kinobesucher sind vor der ersten lokomotive, die auf sie zufuhr, entsetzt geflohen. was erwachsene ängstigt, begeistert, historisch betrachtet, später kinder.

einige gedichte beziehen sich auf den ukraine-krieg. »[in diesen tagen sehe ich nach dem osten]« beginnt erschüttert und entsetzt: »in diesen tagen sehe ich nach dem osten / und rufe das licht / doch das echo kehrt blutbefleckt zurück«, und endet mit der leisen hoffnung: »in diesen tagen sehe ich nach osten / und rufe das licht.« der buchtitel »zwischen die kriege geworfen« läßt mich an das buch »Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen« von helmut lethen denken, worin der autor denkundverhaltensweisen zwischen erstem und zweitem weltkrieg beschreibt und bedenkt. über vorfahren, die selbst noch kriege erlebten, schreibt létranger in »nachkommen«: »die lebten / haben sich ans Leben geklammert / und wollten nicht wissen / was fehlte«, also ertragen und verdrängt. doch kriege können psychisch 100 jahre nachwirken, vor allem unbewußt durch traumatisierungen, die, und deren belastungen, dann über mehrere generationen weitergereicht werden.

der kalte krieg, der nun aufs neue zu beginnen scheint, war keine kriegsfreie zeit. die kriege fanden bloß woanders statt. aktuell erleben wir die zunahme stereotyper, einseitiger und grober denkweisen mit entsprechenden ressentiments, die nie verschwunden waren, die denkatmosphäre vergiften und die gesellschaft ideell und geistig zurückwerfen können. theodor w. adorno dokumentierte in seinem sozialpsychologischen buch »Studien zum autoritären Charakter«, das 1949 erschien, siehe auch elias canetti »Masse und Macht«, wie entweder/oder-raster, vorurteile und intoleranzen in feindbilder mit verachtung und haß übergehn und tödliche gewalt verursachen. eine, zumal öffentliche, und (vor)herrschende, meinung, die nur nach freund und feind, gut und böse sortiert, und man sieht weltweit solche muster, kann ebenfalls gewalt legitimieren. auch demokratien können, wie wir derzeit sehen, von autoritären weltbildern und strukturen unterwandert und sogar regiert werden.

die gedichte sprechen in metaphern. die bilder von eleonore gleich aus regensburg, die auch auf destruktionen hinweisen, so auf seite 75 und 99, sind farbcollagen. der leser und betrachter sieht sie jeweils am anfang der neun kapitel des buches. das bild auf seite 89, kapitel »die nacht trägt wieder uniform«, scheint einen magier, schamanen, priester mit runenähnlichen zeichen am feuer darzustellen. das bild seite 75, kapitel »ein wildes tier tanzt auf meiner haut«, zeigt feurig rote oberflächen und blaue tiefen, das bild seite 99, kapitel »die schwere des himmels«, das erfahrene verletzungen und ängste beschreibt und mit dem wort »stille« endet, licht, das aus dem dunkel kommt, wie leben aus dem tod, und in eine dunkle welt mit schattengestalten fällt, was mir gnostische bildwelten assoziiert. manche bilder haben die leuchtkraft von glasmalerei. das bild seite 41, kapitel »komm zeit bleib stehen«, wirkt mit seinen formen dekorativ. lateinisch decorāre bedeutet zieren, schmücken, ehren, verherrlichen, also das schöne zeigen, decor anmut, liebreiz, zier, schmuck. menschen suchen immer nach schönem, das sie ersehnen und lebensreal zu selten finden. in der kunst und im gedicht werden sie fündig.

 

 

 

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Zwischen die Kriege geworfen, Gedichte von Philipp Létranger. Mit Bildern von Eleonore Gleich. Edition offenes feld dortmund, 2022

Weiterführend Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

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