Eine mediale Spurensuche zwischen 1989 und 2024

Was sind eigentlich die literarischen Kriterien für das Urteil, daß etwas ’neu‘ sei? Doch wohl, daß man es vorher nicht gekannt zu haben vermeint… Wirklich ist ja dieser Neuigkeitsfetischismus auch eine Einübung ins Vergessen, wobei die Geschichte dauernd mit einer Tinte geschrieben wird, die, kaum dass sie trocknet, verschwindet.

Reinhard Lettau

Cover: Georg von der Gathen

Nach all dem was im Annus Mirabilis zur Verfügung stand, hat KUNO die Stunde Null im Jahr 1989 angesetzt. Der Urknall des modernen Romans liegt etwas weiter zurück, für die Redaktion ist er: The Life and Opinions of Tristram Shandy. Eine Hochkulturarroganz, wie sie im Zeitalter der Aufklärung geboren wurde, gibt es nicht mehr. Bücher sind klüger als ihre Verfasser. Mindestens aber 200 Jahre, dann zersetzt sich das Papier. Mit Drucksachen das Unsagbare zeigen allein Künstlerbücher. In 1999 richteten wir den Spot auf eine Zeit, als der der Claim für Klangbücher noch nicht abgesteckt war. „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schrieb Haimo Hieronymus in einem der Gründungstexte der Kulturnotizen (KUNO). In 2009 ging das Projekt Labor in die Edition Das Labor über. Im 30. Jahr erklärten wir, warum das Projekt Labor sich nie zu einem Generationenprojekt verklärte. Das sicherte einen Nachschlag;-)

Das Online-Archiv KUNO denkt im 35. Jahrgang abschließend über die rhetorische Bedeutung von Ausdruck, Intonation und Gestaltung in der Kultur nach, wohlwissend, daß wir uns auf den Schultern von Giganten befinden.

Porträt V.O. Stomps © Minipressen-Archiv

1799 lebten die beiden Brüder Schlegel, August Wilhelms Ehefrau Caroline sowie Dorothea Veit für ein halbes Jahr zu viert zusammen – im Hinterhaus des Hauses An der Leutra 5 in Jena. Diese Romantiker-WG bildete die Keimzelle des Nonkonformismus. Die Autoren brachen mit vielen Konventionen: Sie mischten sie in ihre Romane Gedichte und Balladen, kleine Märchen etc. Dem entspricht Friedrich Schlegels Konzept einer progressiven Universalpoesie, die nicht nur unterschiedlichste Gattungen und Wissensgebiete miteinander verbindet, sondern auch über sich selbst nachdenkt und ihre eigene Kritik enthält. → Wir machen einen Zeitsprung in ein Land, in dem es gelang mehr Demokratie zu wagen. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von einem Klassiker des Andersseins: V.O. Stomps. Der nonkonformistische Geist der Rabenpresse wurde von Josef „Biby“ Wintjes in die BRD transferiert. Noch als Angestellter in der EDV-Abteilung der Firma Krupp gründete er 1969 in Bottrop das Nonkonformistische Literarische Informationszentrum, das er bis zu seinem Lebensende führte. Das Info funktionierte als Versand- und Vertriebsstelle für Zeitschriften und Bücher aus der Nonkonformistischen Literatur. Und die Szene jenseits von Frankfurt-Bockenheim wäre nicht denkbar ohne den Urvater des bundesdeutschen Beat Hadayatullah Hübsch.

Parallel dazu entwickelte sich in der BRD etwas, was sich selbstironisch als Trash bezeichnete.

Cover des ersten Gossenhefts, 1989. Photo: Anka Roth

Das Triviale und Populäre zu Kunst zu machen, ist eine Prämisse des Trash. Die Motive stammen aus Alltagskultur, Konsumwelt und aus den Medien. Die Kennung von der „Ästhetik des Hässlichen“ als charakteristischem Merkmal stimmt als Bewertung ebensowenig, wie die Formel „edle Einfalt und stille Größe“. Diesem Abfallprodukt haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Außenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Die Gossenheftreihe des Krash-Verlags präsentiert eine Ästhetik der Nichtpriviligierten und zeigt die Kehrseite einer Kultur, ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes und Begehrtes. Diese Literatur beschäftigt sich mit dem Anderen in dieser Doppeldeutung und holt etwas in die Kultur zurück, was den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist. Mit dieser Reihe galt es die Senkgrube der Trivialität durchschreiten. Sie nimmt sich dessen an, was eine gegebene Kultur von dem abgrenzt, was sie als Gegenkultur oder Unkultur betrachtet. Diese Literatur macht beobachtbar, was die Normalitäts- und die Alteritätsannahmen einer Gesellschaft sind, sie zeigt uns, was in unserer Gesellschaft und Kultur möglich, kaum möglich und unmöglich ist. Dabei bilden Ordnung und Gegenordnung ein sich bedingendes Gefüge. Diese Heftromane werden geradezu zum Gradmesser für die in der geltenden Kultur herrschenden Beschränkungen und halten uns den Spiegel vor, sie zeigen unsere eigenen verdrängten Gelüste und eine Schmud­delvariante unserer Welt des neoliberalen, rasenden Still­stands. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Daneben sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten eindrücklich empfohlen. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp.

Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile.

Dass moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz und die Multimedia-Artistin Laurie Anderson nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Ein Ansatz, der bei den germanistischen Fliegenschissdeutern keine große Beachtung findet, weil die Rezeption von Literatur im Gegensatz zu der von bildender Kunst größtenteils im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Die Literaturtheorie sollte daher im 21. Jahrhundert zu einer dienenden Rolle zurückfinden und endlich ihre Unterwürfigkeit ablegen.

Unverständlich für KUNO bleibt, warum die Fragmenttexte von Angelika Janz nicht die Beachtung gefunden hat, die ihnen eigentlich zustehen, daher vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay über ihre Arbeit. Irritierend, warum die bildungsbürgerliche Kurzprosa (mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion) von Ulrich Bergmann, etwa Splitter, nicht einmal Fragmente keine gebührende überregionale Beachtung gefunden haben. Gleichfalls mehr Bedeutung steht seit langem Holger Benkel zu, er beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Was seinen Rezensionsessays die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können. By the way, wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

Roland Barthes

Das Hungertuch von Haimo Hieronymus in der Martinskirche, Linz am Rhein

In 2006 verschickte Jack Dorsey den erste „Tweet“ mit dem Inhalt „just setting up my twttr.“. Dies klang ähnlich wie das erste Telefonat von Alexander Graham Bell: „Watson, come here. I need you.“ Technische Neuerungen sind immer auch eine Chance für scheinbar überholte literarische Formen. Bisher bilden die kleinen Formen in jeder Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und selbstverständlich der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der althergebrachte Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form. Twitteratur ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Mikrogramme bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Popmoderne. Was alle Autoren auf KUNO verbindet, ist die Arbeit an der Sprache. Sprache als Material. Eine Sprache, die nicht als Vehikel für den Transport von Plots und Weltanschauungen vernutzt wird. Eine Sprache, die sich marktkonformen Konventionen entzieht. Eine Sprache, die Grenzen erforscht, erweitert, strapaziert. Weiterführend ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, – vor der Übernahme von Twitter durch einen durchgeknallten Milliadär – ein Essay, sowie eine Reflexion über ein nicht ganz uneigennütziges Rettungsprojekt für Twittergedichte von Clemens J. Setz und dem Suhrkamp Verlag, bei dem sich die Frage stellt: „Ist das noch Suhrkamp-Kultur“? -„Wie der legendäre Verlag von Brecht und Hesse von einem Hamburger Baumarkt-Millionär gerettet wurde“, beschreibt Ijoma Mangold die Verlagsübernahme von Suhrkamp in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“.

Ein Buch muss keinen Nutzen haben. In der Zeit des Digitalen erlebt die Frage nach der Materialität von Literatur eine neue Blüte.

Cover: Frühlingel von Peter Meilchen

Wie kaum eine andere Galerie in Deutschland hat ‘Der Bogen’ in Arnsberg immer Wert auf die handwerkliche Erarbeitung von Künstlerbüchern gelegt. Diese Aura der Einmaligkeit reicht von den Materialbüchern des Jürgen Diehl, über die Schland-Box von Peter Meilchen, den Künstlerbüchern von Stephanie Neuhaus, bis hin zu Haimo Hieronymus und A.J. Weigonis Erkundungen über die Möglichkeiten der Linie zwischen Schrift und Zeichnung, der Verstetigung von Schrift, Pinsel und der Drucktechnik. Die Tradition der librophilen Bücher setzt sich mit einer Katalogreihe fort. Die quadratische Form der Kataloge hat sich als praktische Größe für die Abbildungen erwiesen. Dem Alphabetikon Katalog von Haimo Hieronymus folgte  das von Karl Hosse angeregte Gezeitengespräch und die von Stephanie Neuhaus initiierte Super Speed Art Exhibiton Tour. Hier erschien auch die mit dem lime_lab ausgezeichnete Wortspielhalle von Sophie Reyer und A.J. Weigoni. Die „Queen of the Biomacht“ ist die unübertroffene Meisterin der literarischen Verstörung, ihre Bücher sind komplex komponierte, in glasklarer Sprache geführte Gegenwartsanalysen, die aktuelle Fragen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sozialer Klasse aufgreifen und bis in die feinsten Verästelungen des Zwischenmenschlichen hinein verfolgen. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle.

„Medienkombination“ nennt die Deutsche Nationalbibliothek ein Werk, das sich nicht auf den ersten Blick zuordnen läßt.

630, Collage von Klaus Krumscheid und Peter Meilchen

Daß moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder der Komponist Tom Täger nachdrücklich. Meilchen wirft einen illusionslosen Blick auf das, was bleibt, er verspricht dem Betrachter eine Wirklichkeit, die jene Bildwirklichkeiten nicht mehr benötigt, in welche der Betrachter seit der Renaissance gleichsam durch ein Fenster hineinsieht. Einer der Vorteile von Kunst gegenüber der Wirklichkeit ist die Hemmungslosigkeit, mit der man sie ansehen darf. Alle beteiligten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch als auch interdisziplinär. Es ist ein Spiel. Und die Mitspieler Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni erweiterten es zum multimedialen Projekt 630.

Stehen wir in 2024 vor dem Ende der ästhetischen Weltaneignung?

Seit 1989 hat KUNO versuchte das Kaleidoskop eines Epochenbruchs aufzuzeigen und deutete die Berührungspunkte zwischen den Zeitläufen. Beim Rückblick auf den Fall des „eisernen Vorhangs“ erweist sich die neoliberale Freiheit als Seifenblase. Seit in den 1990er Jahren die Political Correctness‘ nach Deutschland kam, hat es sich um die Meinungsfreiheit und damit auch um die Kunstfreiheit stetig verschlechtert. Die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit steht unter moralischen und politischen Vorbehalt. Die Meinungsführer beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauungen und ihrer politischen Ziele welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Jeder große Begriff hat ausfransende Ränder. Die Zauberformel wokeness dient zur politischen Neutralisierung wie moralischen Befestigung eigener sozialer Privilegien, ihre emanzipative Stoßrichtung ist damit ins Gegenteil pervertiert. In einer wirklich globalisierten Gesellschaft sollte man den Einzelnen gegen den Staat verteidigen, somit eine demokratische Gesellschaft immer vom Individuum aus denken. Digitale Räume entgrenzen die Debatten, die Grundregel von KUNO lautet: Im Zweifel das Gegenteil. Es war eine nonkonformistische Haltung, die reflexartig bestehende Konventionen in Frage zu stellen. Gewohntes in Frage stellen, die Grenze zwischen Außen und Innen aufzuheben, die Fassade, die den Literaturbetrieb aufrecht erhält, wird darauf hin überprüft, was sich dahinter verbirgt. Wahrscheinlich gehört es zu den größten Missverständnissen über die zeitgenössische Kunst, dass sie gesellschaftliche Relevanz besitzt. Es liegt in der Logik des Sichtbarmachens von Minderheiten, dass wir seit 1989 auf die Nonkonformisten in den Fokus rücken. Kritisches Denken erfordert in einer demokratischen Gesellschaft die Hinterfragung verfestigter Ansichten, selbstkritische Überprüfung des eigenen Denkens und nicht zuletzt die Bereitschaft, eigenen Überzeugungen zuwiderlaufende Sichtweisen anzuhören und zu prüfen. Jede Herausgabe

I belong to the Blank gereration
I can take it or leave it each time

Richard Hell

Josef „Biby Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Jeder Herausgeber ist von seiner Zeit und deren Vorlieben geprägt; daher weiss er hat, was er dem zeitgeist engegenzustellen hat KUNO hat sich seit 1989 abseits der Beobachtungsroutinen und Beschreibungsgewohnheiten bewegt. Es war das Generations-Projekt einer anderen deutschen Literaturgeschichte. Dieses Online-Magazin erhebt über die Jahre des „Berichtzeitraumes“ (zwischen 1989 – 2024) nicht den Anspruch fundierter Repräsentativität, es wird weder Reputationsmanagement betrieben, noch findet sich ein konsistenter Gegenkanon, wohl aber ist über all die Jahre der Anspruch erkennen, zumindest punktuell den Blick auf den Reichtum literarischer Welten jenseits des Opportunen, Normierten und Konventionellen zu lenken. Identitätspolitik und Cancel Culture sind Exklusivmechanismen. Diese Dokumente stehen dafür, dass geredet wird, ohne zu handeln. Selbstkritik ist ein Freifahrtschein, so weiter zu machen wie bisher. Die Redaktion verteilt keine Noten für historische Einsichten, in Ermangelung eines Schlagworts nennen wir es im Andenken an „Biby“ Wintjes: „Nonkonformistische Literatur“. Die Kulturnotizen haben über 35 Jahre versucht unprätentiös und so offen, anspruchsvoll und doch bescheiden, so akribisch und doch kritisch und ideenreich zu bleiben. Es gehörte zum poetischen Programm, alle Konventionen konsequent zu unterwandern. Die Redaktion hat immer versucht, dem Klang der Wortneuschöpfungen zu folgen, wir haben jedoch auch kurz vor Toresschluss keine letztgültige Antwort.

Als Nonkonformismus werden persönliche Haltungen, individuelle Handlungen oder künstlerische Positionen bezeichnet, die nicht in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Ansichten, der gültigen Etikette oder dem kulturellen Mainstream stehen.

Peter Meilchen bei der Lektüre in seinem Atelier. Photo: Dieter Meth

KUNO beobachtet seit 1989 den Niedergang der Geistesarbeit, den Status des öffentlichen Nachdenkens über Kunst und Kultur, das immer stärker ins Zwielicht der gesellschaftlichen Nutzlosigkeit gerückt wird. Es ist ein trauriges Schauspiel, dass sich liberale Überflussgesellschaften davon verabschiedet haben, auf das ernsthafte öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur zu verzichten. Wenn die Zerstörung der Medien, wo geistreich und mit intellektuellem Anspruch über Bücher, Musik, Kunst, Serien, Film, Theater geschrieben wird, in diesem Tempo weitergeht, wird Kulturjournalismus in wenigen Jahren wieder ein reines Privileg einer Elite von Amateuren sein. Mit jedem kulturjournalistischen Medium, das kaputt gemacht wird, verschwindet auch eine soziale Infrastruktur des Austauschs. Die Zeit der großen Theorien isch over. Eine Vielzahl von kleinen Theorien bezieht sich auf viele Ausschnitte der Realität. Gleichzeitig findet sich das Erbe der europäischen Aufklärung von seiner eigenen wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Konsequenz so bedroht wie nie zuvor. Nur die Aufklärung selbst kann mit ihren Kräften der Vernunft das Unheil abwenden, dessen Ursache sie selbst ist. Literatur dient nun nicht in erster Linie der Auskunftspflicht. Selbstentblößung ist im Zeitalter der sogenannten „sozialen Medien“ kein poetisches Mittel mehr. Es ging KUNO darum, dem Bildungsbürgertum die alleinige Definitionshoheit über die Literatur entreißen. Die Redaktion schaffte Zugänge zur Nonkonformistischen Literatur, indem sie Achtung vor wissbegierigen Menschen hatte. Die Redaktion blickt gleichfalls auf den Beginn der Dirty Speech-Bewegung in der BRD, er ist 1969 mit der Rolf Dieter Brinkmanns „Acid“ zu verorten. Es war eine Anthologie amerikanischer Beatliteratur, gesammelt und damit den Versuch eröffnet, auch in der deutschen Dichtung die bürgerliche Moral zu brüskieren, lyrische Formen zu banalisieren, den Alltag zum Thema zu machen und Sex, Brutalität, Perversion als Sujets zu akzeptieren. Gleichfalls versuchte die Redaktion die Artisten durch die Erfahrung des Werks zu erschließen. Die Nonkonformistische Kunst verfolgt nicht den Anspruch, bewußtseinsbildend zu wirken und der Melancholie eine politische Dimension zu verleihen, sie soll Lesern das Gefühl vermitteln, mit ihrem privaten Leid nicht ganz so allein und unverstanden zu sein, wie es sich häufig anfühlt. Sie legte den Finger auf die Eitergeschüre der Wohlstandsgesellschaft. Es geht weiterhin darum, einen Stein einen Berg raufzurollen, Albert Camus hat empfohlen, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Wir müssen die Bedingungen eines geglückten Lebens trotz Absurdität akzeptieren.

 

 

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Weiterführend → 

Labor-Logo. Entwurf: Peter Meilchen

Eine Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Diese Ausgrabungsstätte für die Zukunft ist seit 2009 ein Label, die Edition Das Labor. Die Edition befand sich in der Situation des Baron von Münchhausen und musste sich mit samt Pferd am eigenn Schopf aus dem Sumpf ziehen. Eine Übersicht über die in diesem Labor realisierten Künstlerbücher, Bücher und Hörbücher finden Sie hier. Vertiefend zum Thema Künstlerbücher lesen finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Weiterführend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.