Den Geist eines Buchs verkörpern

Ein Dichter, der liest, ist ein Anblick wie ein Kellner, der speist.

Karl Kraus

András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

Das in der Edition Das Labor erscheinende Hörbuch Gedichte faßt die langjährige Studioarbeit von Tom Täger und A.J. Weigoni einerseits zusammen, gab aber auch einen Ausblick auf das nächste Buch. Die am 18. Januar 2015 erscheinenden Schmauchspuren sind ein erneuter Beweis der sich immer noch steigernden Gedankenschärfe und Ausdruckskraft dieses Poeten. Buchstaben formen sich zu Wörtern, mehrere davon ergeben Strophen, Strophen lassen zwischen den Zeilen Platz. Genau dort setzt Weigonis Stimme an. Die schriftliche Lyrik und ihre Klanggestalt sind für diesen Lyriker gleichrangige Größen. Wenn man seine Gedichte hört, wie er sie spricht, merkt man Wortverbindungen, Wiederaufnahmen, Anspielungen, die in erster Linie dem Rhythmusgefühl geschuldet sind. Weigonis Gedichte sind konzentrierte Miniaturen, seine verdichtete Sprache bildet ein System, das sich aus dem Leben bezieht und in dieses zurückwirkt. Der Wortklang ist ein starker Katalysator für dieses Hörbuch, da bereits ein Wort beim Hörer eine Klangassoziationskette auslösen kann. Mit seiner Stimme werden die Nuancen hörbar, zwischen Rezitation und Partitur liegen keine Abgründe. Dieser Poeta ludens ist ein Entdecker der Poesie unbesetzter Räume und der lyrischen Langsamkeit, er lauscht dem Atmen der Worte nach.

Sprechen ist immer zitieren.

Sophokles

Man hört auf Gedichte die Entschlossenheit zur Deklamationskunst. Deser Rezitator ist ein Lautschöpfer und Sprachbastler, er bringt die Buchstaben in eine neue Un-Ordnung und die Bedeutungen zum Schwirren. Es kobolzen Vokale ins Mikrophon, stets aufs Neue jongliert er mit Lettern, Silben, Wörtern und Sätzen. Seine Stimmbildung hat Weigoni als reine Physik verstanden, da wurden Muskeln trainiert – seine Stimmbänder – und es ging ihm um Physiologie und Raumakustik; er vergleicht die solcherart geschulte Stimme mit dem Resonanzkörper eines Instruments. Diese stilisierte Alltagssprache macht den Unterschied zum privaten Sprechen, in den Gedankenimpulsen, die sich den Zuhörer über die Prosodie vermitteln, also über Rhythmus, Melodie oder Sprechgeschwindigkeit, es ist ein Gedanken verdichtendes, zielgerichtetes Sprechen in normaler Sprache. Weigoni benutzt Wortspiele und ungewöhnliche Wortkombinationen, er verfremdet das Sprachmaterial, indem er phonetisch notiert oder einzelne Silben lautmalerisch wiederholt. Er stellt die Lyrik nicht lautlich aus, um schönes Sprechen geht es ihm dabei nicht. Um Verständlichkeit schon.

Ganz im Gegensatz zu den anderen „experimentellen“ CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.

Dr. Dieter Scherr, Literaturhaus Wien

Auf dem Hörbuch Gedichte mischt sich die Körperrede mit der Klangrede, die orale mit der gutembergeschen Tradition, geschriebenes Sprechen verwandelt sich in gesprochenes Papier und so fort. Es sind kunstvoll komponierte Kostbarkeiten, ein unendlich abwechslungsreiches Nebeneinander verschiedenartigster Sinneseindrücke. Bei seinen Rede– und Suchgedichten konzentriert sich Weigoni seit der Letternmusik beim Rezitieren auf die nackte Stimme. Die stimmliche, sprechtechnische sowie akrobatische Virtuosität, mit der er zu Werke geht, erzeugt gleichsam ein  Textkonzert, die Partitur ist Sprache. Tom Täger stellt sie bei den Aufnahmen zum Hörbuch Gedichte im Tonstudio an der Ruhr in den Vordergrund. Gleichzeitig löst sich die Sprache in den Gedichten in ihre Einzelheiten auf.

Als geformte Performance bezeichnete Thomas Kling das Hörbuch, hier trenne sich kurz und schmerzlos die Spreu vom Weizen. Deshalb solle den Mund halten, wer nicht ‚vorlesen‘ kann, oder zu faul zum Üben ist.

Michael Opitz

A.J. Weigoni bei einer poetischen Performance, Galerie Waschsalon, Frankfurt

Der Sprechsteller Weigoni hat beim Schreiben das Hören im Blick und beim Sprechen das Auge im Ohr. Der Modus des Sprechens wird zu einer Operation, die die Sprache als Werkzeug nutzt, seine Gedichte verlangen nach wachen Rezipienten und goutieren sie folgerichtig. Wir hören die Essenz, nicht den Effekt. Dieser VerDichter ist ein Meister der Wortschöpfung, der es versteht, die Phraseologie des Alltags subversiv aufzuladen, auf eine Art, die sprachwitzig ist, ohne sich auf die Pointen draufzusetzen, und umso betörender, je tiefer er sich in die irrwitzigsten Gedankenspiele hineinschraubt. Er läßt die Distanz zwischen Sprache und Gedanken schrumpfen, dass die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubt, dass sich die Unterschiede zwischen Gattungen aufheben. Seine ruhige Stimme verleiht dem Text eine bitter nötige, beiläufige Eleganz. Man kann ein Kompositum wie Dichterloh als Polyphonie hören, eine Art Wortkonzert, ein auf– und abschwellender Klagegesang über den Verlust des Individuums. Es geht um Stimmen, ein Spachspiel, das in einen Sprechspiel übergeht, ein Aus-Atmen, das zu einem Aus–Sprechen wird, das die Kulturgeschichte von Klang und Ton gleichsam mitatmet.

Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte. Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre. Dieses „Nachtstück“ besticht nicht nur durch seine souveräne sprachliche Meisterschaft, sondern auch durch eine gedankliche Tiefe, die dichterisch facettenreich ausgelotet wird.
Axel Kutsch

Als ein Höhepunkt des Hörbuchs ist sicherlich die Hörspiel-Produktion Señora Nada zu bezeichnen. In diesem Monodram provozieren die Artisten mit einem ‘stream–of–consciousness’ durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround, die Sprach– und Lautverschiebungen werden zu Verschiebungen der Bedeutungsebenen, alles ist dynamisch, alles ist im Fluß, nichts steht still. Interpreten aller Art – Regisseure, Schauspieler, Instrumentalisten – sind re-kreative, also nachschaffende Künstler im Dienste der kreativ-schöpfenden Autoren und Komponisten. Das ist nicht weniger als die Conditio sine qua non der Kunst. Ioona Rauschan hat dies in der Regie des Hörspiels sinnfällig umgesetzt.

Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.

Ioona Rauschan

Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels Señora Nada

In der Inszenierung von Ioona Rauschan begleitet Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Er öffnet mit seinen rhythmischen und melodischen Ideen dem Hörspiel neue Horizonte, in denen die gedanklichen und emotionalen Impulse quasi ihre eigene Dramatik und Form zu definieren scheinen. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Dem Zuhörer verlangen sie in erster Linie ein gewisses Mass an Geduld ab, die aber auch oft belohnt wird, mit unvergleichlich atmosphärischen Sequenzen, die poetische Dichte und interpretatorische Offenheit auf geradezu beglückende Weise miteinander verbinden. Die Widersprüche der Señora Nada sind Ausdruck einer geistigen Unruhe, die sich mit der herrschenden Wahrheit nicht versöhnen will. Das Zuhören führt an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Dieses Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.
Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century

Folgt man den Gedanken Weigonis, ist die Hörspielfassung von Unbehaust ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben als Held. Jo Chang, die Heldin, mißtraut diesem Traum. Sie führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Das Leben bietet andere Realitäten. Und mehr noch – andere Traumata. Das Formganze dieses Monodrams wird nicht durch metronomgenaues Durchschlagen der Poesie von außen übergestülpt, sondern entwickelt sich bruchhaft und widerspruchsvoll gerade aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile. Das Hörspiel ist gleichsam ein Wassertropfen, in dem sich die Welt spiegelt. Erfahrung einatmen, Gedichte ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Stenografische Spontaneität und szenografisches Geschick sind in diesem Stück kein Widerspruch.

Andrascz Jaromir Weigoni stellt mit einen Hörspiel unser Zeitempfinden und unsere Vorstellung von Identität auf die Probe. Der vielfach ausgezeichnete ungarisch-deutsche Schriftsteller und  Medienpädagoge Weigoni schafft mit seinem Text, Papiergeräuschen und der Stimme von Bibiana Heimes  eine Atmosphäre, die uns einem Gedanken ganz schnell auf den Pelz rücken lässt: wir sind alle Gefangene unserer selbst.

Radio Bremen

Dieses Langgedicht schraubt sich wie Tunnelbohrer durch zeitgenössische Erfahrungsräume. Ob dieses Monodram etwas bedeuten soll, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie sich ereignet. Diese Lyrik ist ein Sprachgeschehen, das die Leser synchron miterleben können, vorausgesetzt, er ist bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Weigoni liefert in seinem Monodram ein subtiles Kammerspiel eines inneren Monologs. Die Schauspielerin Bibiana Heimes ist Silbe für Silbe auf der Suche nach dem Kern und sieht darin eine Metapher zu den Bekleidungen der eigenen Identität. Sie gestaltet feine Zäsuren im Redefluss mit einer freien, reinen Gelenkigkeit als Sprecherin, eine locker schraffierte Haltungen, überhaupt das Skizzenhafte, die hingehauchte, nie vollends auserklärte Figur. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Als ich dieses Hörbuch hörte, war ich schlichtweg begeistert. Bei Hörbüchern und Hörspielen wird oft der Begriff „Kunst“ verwendet. Ich rede eher vom „Handwerk“. Als ich Gedichte von A.J. Weigoni lauschte, war für mich sofort klar: Das ist wirkliche Kunst! Dieser Mensch ist ein wahrer Wortakrobat, ein Liebhaber der Sprache, ein Kenner des Mediums. Weit weg vom Mainstream ist Gedichte von Weigoni für Liebhaber der „Sprachkunst“ und für intellektuelle Unterhaltung DER Geheimtipp. Solch eine liebevolle Inszenierung hat eine Auszeichnung verdient, deswegen: ‚Beste Lesung‘.

Simeon Hrissomallis, Begründung für den Hörspielpreis Ohrkanus

Tom Täger im Tonstudio an der Ruhr. Photo: Andreas Mangen

Lyrik als Klanggebilde wird oft vernachlässigt, weil das Schreiben eine lautlose Disziplin ist, eine, mit der man, um buchstäblich Gehör zu finden, sich immer erst ans Notenpult stellen und das Geschriebene mit erhobener Stimme vorlesen muß. Die Performance ist in der Literatur lediglich ein sekundärer Akt, es gibt ein anderes Medium, das deutlich direkter auf das Gehör zielt: das Hörbuch. Das plurimediale Potenzial der Schrift wird erst auf diesem Medium zur Gänze ausgeschöpft. Das Hörbuch Gedichte stellt die Gesamteinspielungen des Lyrikers vor, die zwischen 1995 – 2015 im Tonstudio an der Ruhr  in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Tom Täger entstanden sind. Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 seine LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht erfunden) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Er erscheint im Nachgang fast logisch, daß diese Artisten sich über den Weg laufen mussten. Beide Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, beide haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, der Verbindung von Melodie und Experiment, der Offenheit und das In–der–Schwebe–Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen. Synthese und Synästhesie liegen offensichtlich nicht nur lautlich nah beieinander, die Erfindung der Aufnahmetechnik wird von ihnen als ein Moment der Befreiung gedeutet. Die Zuhörer werden Zeugen bei der alchemistischen Verwandlung von Gedanken in gesprochene Worte – also in Poesie.

Ein hörbar genetischer Code der Poesie

Constanze Schmidt

Als Lyriker hat Weigoni eine moralische Verpflichtung und zwar die den Worten gegenüber, die umsichtig zu plazieren sind. Die Lyrik auf dem Hörbuch Gedichte ist gespickt mit starken Metaphern und drastischen Vergleichen, dieser barocke Überfluss an Sinneseindrücken verschlingen den Hörer von der ersten Sekunde an. Der sprachliche Variantenreichtum überzeugt: Neben Lautmalerischem und zahlreichen Wortneuschöpfungen finden sich immer wieder plastische und einprägsame Bilder. Die Zerlegung von Worten ist bei Weigoni kein modisches Verfahren, sondern sorgt für überraschendes neues Hinsehen und Hinhören. Man will mit beiden Ohren tief hineinhören in dieses sinnliche Sprachgemisch, das zwischen Extase und Abstraktion oszilliert. Diese Produktion durchschneidet den medial gestifteten und determinierten Raum und erkundet seine Grenzen, damit löst das Hörbuch Gedichte das Versprechen ein, die Literatur in der digitalen Barbarei wieder in ein Kulturgut zu verwandeln; es umfaßt mit vier CDs eine Spieldauer von 270 Minuten, das mag in den Ohren derer, die “einfach nur genießen” wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß der Erkenntnis. Weigonis Können und sein künstlerischer Anspruch gehen weit über das Bedienen von naturlyrischen Kommerzstandards hinaus. Dieses Hörbuch ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte. Es handelt von der Wirkmächtigkeit der Sprache und vom geheimen Pakt zwischen dem Sprechsteller und dem Zuhörer, es bleibt im sensorischem Speicher der Hörer, wenn nötig, für die nächsten 25 Jahre.

Der Text löscht seine Schriftlichkeit im Augenblick der Rede aus.

A.J. Weigoni bei einer poetischen Performance, Saxophon: Frank Michaelis

Diese Lyrik funktioniert auf diesem Hörbuch als Klangrede, die Stimme des Sprechstellers ist zuweilen ein Percussionsinstrument. Gerade die sprachlichen Mittel, die Weigoni souverän beherrscht, machen dieses Hörbuch zu einem Hörerlebnis für den, der auch jenseits des Verstehens Spaß daran hat, Gedichte als Lautgebilde wahrzunehmen. Wie Blaise Pascal sieht dieser Lyriker das menschliche Leben als kurzes Aufscheinen zwischen dunklen, leeren Ewigkeiten. Diese Gedichte leben aus dieser Spannung: der Gewissheit des Todes als schwarzem Hintergrund und der fast grell beleuchteten Gegenwart des 21. Jahrhundert im Vordergrund. Diese Sinnlichkeit und Gegenwärtigkeit übersieht, wer Weigonis Gedichte als bloße Gedankenlyrik mißversteht. Die Schmauchspuren sind hermetisch verschloßene Sprachobjekte mit realen Einschlüssen, die sowohl beim Lesen als auch beim Hören optimale Einstiegsluken bieten. Das Gelesene wird von diesem Sprechsteller in einen Sprechakt rückübersetzt. Weigoni versteht es diesem Hörbuch eine Luftigkeit, zuweilen Witz und verläßlich Tiefe zu geben – mit dunkler Stimme, singend, tänzelnd, den Worten hinterherdenkend.

Notate fürs Auge, adressiert ans Ohr. So schreibt kein anderer im deutschen Sprachraum.

Theo Breuer

Der VerDichter A.J. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen. Dieser Lyriker bewegt sich schreibend immer in einem Kontext, allein seine eigene Sicht und Haltung zählt, eine Neubelebung oder VerDichtung des Gelesenen durch eine Verbindung mit der Welt. Die Analyse von Poesie führt ins Denken und vom Denken in die Poesie zurück. Er zeigt er auf virtuose Weise, wie sich eigene Beobachtung, Erfahrung und Erinnerung mit poetologischer Reflexion und einem geradezu enzyklopädischen literarischen Wissen in Gedichten verbinden können. Es sind Gedichte, die man bereits beim Lesen innerlich hört, der Rhythmus der Stimme wird ebenso hörbar wird, wie der Rhythmus der Welt. Als Rezitator inszeniert Weigoni seine Lyrik streng aus der Sprache heraus, er bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

 

 

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Der Schuber. Das lyrische Werk + ein Hörbuch mit den Gesamteinspielungen. Edition Das Labor, Mülheim 2017.

Schmauchspuren. Gedichte. Edition Das Labor, Mülheim 2015.

Parlandos, Langgedichte & Zyklen. Edition Das Labor, Mülheim 2013.

Dichterloh. Kompositum in vier Akten. Lyrikedition 2000, München 2005

Letternmusik. Gedichte. Rospo-Verlag, Hamburg 1995

Der lange Atem. Gedichte & Collagen 1975–1985, Verlag Die Schublade Nr. 19 (Zusammenarbeit Bundensring junger Autoren), Mettmann 1985.

Porträt: Leonard Billeke

Hörproben → Probehören kann man die Prægnarien auf MetaPhon. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni hier.

 → Lesen Sie auch die Würdigung von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters.

Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt. Nachgereicht: A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht KUNO diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn. Und zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.