ein multifunktionales lyrisches Ich

 

„Vaterland der Ruhelosigkeit“ – unter diesem Titel bildet das letzte Gedicht in dem vorliegenden Band der renommierten rumänischen Autorin Ana Blandiana ein Leitmotiv, das den Willen zur Veränderung in einem leidgeprüften Land ebenso zum Ausdruck bringt wie die Bereitschaft, auf etwas Unbestimmtes zu hoffen. Doch die Spuren zur Entzifferung sind, so das vorläufige Ergebnis dieser Suche, unsichtbar: „Wird es mir jemals gelingen,/ die unsichtbaren Spuren zu entziffern,/ von denen ich weiß, dass es sie gibt und sie darauf warten,/ ins Reine geschrieben zu werden, / in mein Vaterland A4?“ (S. 143).

Auf der Suche nach möglichen Spuren dieser Ruhelosigkeit begibt sich ein multifunktionales lyrisches Ich in vielschichtige Sphären von imaginären, irdischen und kosmischen Räumen. Schwalben, dem Glauben gleich, werden von Glocken aufgescheucht, Engel entziehen sich ihrer Berührung durch den Menschen, der Planet ist vom Todesgeheul eines unbekannten Tieres erfüllt, die Sanduhr ähnelt dem Traum vom Stehenbleiben vor dem Tod, während der Jagd auf die Zeit wird das lyrische Ich zu einer Beute, ohne zu wissen warum.

Zeichnet sich Rettung vor dieser Flucht in einen real empfundenen Raum ab? „Draußen auf den Hügeln findet die Seele / ihren Atem wieder,“ – hier im mittleren Abschnitt des Gedichtbandes unterwirft sich die Seele dem Gras, das es von ihrer Unruhe erlöst, keine Ruhe findet. Im Gegenteil, Horizonte wickeln sich wie Bandagen um eine nun verkörperte Seele, der gefürchtete Mob bedrängt sie, betatscht ihre Wunden, bedrängt ihren Körper, und die Freiheit lässt sich machtlos ersetzen, denn, so klagt das leidende Ich, der Natur graut es vor der Leere.

Die Hinweise auf das sich quälende Ich häufen sich bereits im ersten Teil des Gedichtbandes. Im „Exorzismus“ heißt es: „Wenn ich barfuß durch das Gras gehe, fließt Elektrizität durch mich hindurch / in die Erde, / genau wie der Teufel / in die Erde verschwindet …“ (S. 31) Und welcher Ausweg bietet sich dem Ich in dieser Situation an? Es unterwirft sich dem Gras. Doch dieser Unterwerfungsprozess läuft auch, wie Ana Blandianas Gedichte über beseelte Naturräume verdeutlichen, zwischen Tannen und in Laubhölzern ab, bestimmt die natürlichen Abläufe in  den Einöden, erfüllt selbst Stoffwechselprozesse am Riemen eines Rucksacks (!) (vgl. S. 45). Eine besonders intime Studie über die wechselhaften Beziehungen von psychischen Stimulationen zwischen Mensch und Natur enthält die „Biografie“, in der ein kindliches Ich beobachtet, „wie die Blätter /im Rhythmus meiner Gedanken zitterten“ (S. 49). Selbst Vögel reagieren auf von Menschen erzeugte Laute. Es ist ein von hoher gegenseitiger Wahrnehmung erfüllter Vorgang, der von der phantasiegeladenen Sensibilität der Dichterin zeugt. In der folgenden Vision folgen selbst Tiere ihren lautmalerischen Artikulationen, ein Vorgang, der das kindliche Ich mit Angst erfüllt.

Es gibt viele andere Beispiele für das schwebende Spiel des Ich mit Tieren, die von einer göttlichen Einsicht erfüllt sind. Wie zum Beispiel in dem Gedicht „Gebet“: „Gott der Libellen, der Nachtfalter, / der Lerchen und der Eulen, / Gott der Würmer und Skorpione, / und der Küchenschaben, / Gott, der du jeden anderes gelehrt hast, / und im voraus alles weiß, was jedem passieren wird,“ (S. 83) Doch dieser Gott erweist sich schuldig, „weil du einige zu Opfern, andere zu Henkern gemacht hast“. Er ist deshalb ein Gott der Schuld, „der ganz allein bestimmt hat, das Verhältnis zwischen Gut und Böse“.

Wenn es ein weiteres Beispiel für die vielschichtige dialogische Poetik Ana Blandianas gibt, dann ist es das aus zwölf Gedichten bestehende „Requiem“ (vgl. S. 114-127). Es ist ein imaginäres Gespräch zwischen einem mit irdischen und transzendentalen Wahrnehmungen erfülltes Ich und einem vielschichtigen Du, das einen Dialog mit „Niemand“ führt. Es ist ein raffiniertes Verfahren, in dem der Dialogpartner mit Eigenschaften ausgestattet wird, die das Ich gerne besitzen würde. In diesem intensiven Gespräch werden sowohl Zeugen aus der antiken Philosophie wie Plotin als auch der Romantiker Novalis bemüht.

Ebenso auffällig ist, dass in den meisten Texten die zerstörerischen Kräfte der Weltgesellschaft benannt werden. Gegen sie richten sich die Bemühungen der Dichterin, die dünne zivilisatorische Schicht zu unterstützen, Sie hat vor allem in den jüngsten Jahrhunderten den Dialog mit der Natur wieder aufgenommen, indem sie deren schwere Verwundungen zu heilen versucht. Ob dieser Heilungsprozeß gelingen wird, ist in dem Gedicht „Wunde“ nachempfunden:

„Jemand hat um den Stamm des Kirschbaums / einen Draht gewunden / und ihn ohne Mitleid tief verletzt, / weil er nicht wusste, dass auch ein Kirschbaum verwundbar ist …“ (S. 111). Rettung aber für den schwer verletzten Baum ist in Sicht, weil der Kirschbaum den helfenden Bemühungen der Menschen „Glauben schenkt“. Zeichnet sich da ein Lichtschimmer in dem Prozess einer Sinnlosigkeit ab, die der Tenor im Spätwerk von Blandiana ist?

Es ist das hoch zu lobende Werk der drei Übersetzer*innen Katharina Kilzer, Horst Samson und Maria Herlo, die diesem Gedichtband eine deutschsprachige Klangkraft verliehen haben, in der die vielschichtige Dialogizität und die poetische Eleganz von Ana Blandiana zum Tragen kommt. Die dem Gedichtband beigefügten Lebens- und Schaffensdaten der aus Timisoara stammenden Dichterin und Prosaistin verdichten sich zu einem in sich geschlossenen Eindruck einer renommierten Vertreterin einer europäischen Literatur, in der die rumänische poetische Stimmkraft immer deutlicher zu vernehmen ist. Sie gewinnt nicht zuletzt an Gewicht, weil Ana Blandiana bereits in den dunkelsten Stunden der rumänischen Nachkriegsgeschichte ihren poetisch hoch aufgeladenen Widerstand hörbar machte und nach 1989 zu einer weltweit präsenten Zeugin der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte wurde. Die zahlreichen Veröffentlichungen in renommierten deutschen Verlagen, im Anhang des vorliegenden Gedichtbandes abgedruckt, verdeutlichen, dass das Werk von Ana Blandiana nunmehr auch ein immer breiteres Lesepublikum erreicht, dank der Bemühungen vor allem der Übersetzer*innen, die aus dem Banat und Siebenbürgen in den 1970er/80er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ausgewandert sind.

 

 

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Mein Vaterland A4 Patria mea. Gedichte von Ana Blandiana. Deutsch / Rumänisch. Ludwigsburg (Pop Verlag) 2020


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Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.