Als Dichter, der sich dem Wetter aussetzt und im besten Sinne unangepasst ist, war ich immer in Bewegung, irrte sogar umher, und nur die Freiheit mit allen Risiken liebte ich. […] war ich ein Anarcho nach der brillanten Definition des alten Ernst Jünger.
Der 1916 in dem südchilenischen Städtchen Lebu geborene, 2011 in Santiago de Chile gestorbene Gonzalo Rojas gehörte nach dem Bekenntnis seiner langjährigen Bekannten Fabienne Bradu zur Gruppe jener seltenen Dichter, die ihre Poesie aus distanzierter, humorbeladener Perspektive bewerteten und dennoch Beweise der Anerkennung ihres Schaffens „mit ungeduldigem Wohlwollen“ akzeptierten, wie der Cervantes Preis 2003, der Nobelpreis der hispanoamerikanischen Literaturen. Beim aufmerksamen Betrachten des Werkverzeichnisses in dem übersichtlich gestalteten Gedichtband mit den morphologisch ungewöhnlichen Illustrationen von Roberto Matta (1911-2002), einem chilenischen Architekten, renommiertem Künstler und Freund, fällt auf, dass Rojas‘ Werk erst in den 1960er Jahren außerhalb von Chile eine wachsende Anerkennung fand. Die Ursachen für die relativ späte internationale Entdeckung seiner vom lyrischen Mainstream des 20. Jahrhundert stark abweichenden Dichtung beschreibt Fabienne Bradu, Schriftstellerin und Übersetzerin, wie folgt. Es ist „eine Dichtung, dominiert vor allem vom Klang, vom Rhythmus, von einer zerschlagenen Syntax sowie von den ‚palabras esdrújulas‘ (auf der drittletzten Silbe betonten Wörtern), die wie Pauken mitten in eine Symphonie platzen.“ (S. 10) Diese palabras esdrújulas seien Wörter, die schneller sein wollen als die anderen, sie zerplatzen vorzeitig, um uns glauben zu lassen, dass sie eher zu Ende sind als die regulär sterbenden Wörter“, oder „sie platzen früher, um ihr Erlöschen zu verzögern.“ (S. 10). Diese ungewöhnliche Akzentsetzung gehe, so Bradu, leider in der Übersetzung verloren. Eine zweite, nicht minder wichtige Ursache für seine verzögerte internationale Anerkennung sind seine zahlreichen Reisen und erzwungenen Wechsel seiner Aufenthaltsorte, Umstände, die finanziellen und politischen Gründen zuzuschreiben sind. So musste er in den 1970er Jahren nach dem Putsch der chilenischen Militärjunta sein Heimatland verlassen, verbrachte Jahre in der DDR und Venezuela, lebte in den 1980er und frühen 1990er Jahre gemeinsam mit seiner zweiten Frau Hilda R. May von Lehraufträgen und Vorlesungen an nordamerikanischen Universitäten und verbrachte dann die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens in dem südchilenischen Städtchen Chillán.
Der vorliegende Band mit ausgewählten Gedichten beruht, wie die Herausgeber Rodrigo Rojas Mackenzie und Reiner Kornberger anmerken, sowohl auf der Anthologie Gonzalo Rojas. Das Haus aus Luft – Gedichte 1936 – 2005 (Bremen 2005) als auch auf bisher unveröffentlichten Übertragungen aus dem Spanischen. Die einzelnen Gedichte sind sieben Themenbereichen zugeordnet, deren Titel bereits durch ihre semantischen Schattierungen die Aufmerksamkeit des Lesers erregen könnten: Rudernd im Rhythmus, Schöne Dunkelheit, Das Wort Lust oder Der Hubschrauber. Im ersten Themenbereich ist Atemübung, das Titelgedicht des Bandes abgedruckt. „Zufall / mit Gestammel sind Ilions Zeilen/ darin die Welt geschrieben steht ….“ Und der zweite Teil des Siebenzeilers verweist auf ein wesentliches Element des Rojas’schen Weltbilds. Es ist von Chaos, der Suche nach einem Rhythmus und dem Satz: „Homer sah Gott“ gebildet. Troja alias Ilion bündeln sich hier in Homers Odyssee, und ein nicht explizit genanntes lyrisches Ich signalisiert die vagen Vermutungen um den Ort des Geschehens auf dem heutigen Territorium der Türkei, ohne eine von Rhythmus geprägte Antwort zu finden.
Unter die Gedichte, die des Dichters entschiedene Abwehrhaltung gegen die Bemühungen der Akademiker artikulieren, gehört sicherlich Die Gelehrten. Ihnen wirft ein explizites lyrisches Ich auf kognitiver und visueller Ebene vor: „Alles erklären sie. Monologisieren / wie öltriefende Maschinen./ Beflecken alles mit ihrem metaphysischen Geifer.“ Und dann folgt eine schreckliche Vision: „Ich möchte sie in den Meeren des Südens sehen, in einer echten Sturmnacht, den Kopf / von der Kälte entleert, riechend / die Einsamkeit der Welt, […]“. Was hier „im Schrecken der Verlorenheit“ den Gelehrten keine Anerkennung zuspricht, das gewährt der Dichter auch seinem Kollegen Juan Liscano (1915-2001) aus Venezuela als Vertreter der schreibenden Zunft nicht. Dreimal betont er in Schriftstück mit L. (1977), dass zu viel Lektüre traurig mache, das Summen des Unsichtbaren töte und auch die Phantasie des Auges älter werden lasse. Und entwirft Rojas Gegenmodelle? Es sind die „wahren Dichter“. „Sie lieben und phosphorisieren, setzen / auf das Sein, nur darauf, haben tausend Augen / und noch mal tausend Ohren, bewahren / sie aber im musikalischen Schädel, wittern / das Unsichtbare jenseits der Zahl, mit ihnen / ist die Prophezeiung, die sind / und lodern blühendes Leben.“
Und was bedeutet blühendes Leben in der Poetik von Rojas? In dem Themenbereich Das Wort Lust ist eine Reihe von Gedichten zu entdecken, in denen die sinnliche Lust in wollüstigen Bildern ausgereizt wird. „Ich küsste dich auf die Bögen der Brauen und die Brustwarzen, ich küsste turbulent dich, / meine Verschämte, auf diese Schenkel / einer weißen Individue, berührte diese Füße, / um noch weiter zu fliegen als das animalische Arom deines Katzenkörpers […], so lauten die ersten Zeilen von Die Fleischeslust. Drei Begriffe erweisen sich beim Vergleich mit dem spanischen Original als interpretierbar: pestañas – eher Wimpern, nicht Brauen; de individua blanca – nur Weißen und fragancia – Duft, nicht Arom!
Es gibt in den rhythmisch aufgeladenen und sinnlich dynamisierten Wortkaskaden so viel zu entdecken. Wie auch in jenen Gedichten, in denen Der Hubschrauber zur Metapher des unnützen, manchmal auch mitleidenden Lebens wird. Im Monolog des Fanatikers, 1974 geschrieben, zu einem Zeitpunkt, als Gonzalo Rojas von dem DDR-Regime politisches Asyl erhielt und an der Universität in Rostock keine Lehrveranstaltungen durchführen durfte, klagt er empört: „Durch meine Adern rast das Blut des unnützen Tieres, / das viermal täglich frisst wie ein Schwein, / das mich duzt und deprimiert / mit aufgeblasener Rede, […].“ Und 1986, als er in den USA von der Selbstverbrennung Sebastián Acevedos‘ vor der Kathedrale in Santiago hörte – Acevedo protestierte gegen die Verschleppung seiner beiden Kinder durch den chilenischen Geheimdienst – ruft er aus: „Immer sehe ich den Geopferten von Concepción, der sein Fleisch / zu Rauch machte und für ganz Chile brannte …“. Im selben Jahr veröffentlichte Rojas das Gedicht Ningunos, in der Übersetzung Keinste, ein Titel, der bewusst die grammatikalische Fehlleistung (es gibt im Spanischen keine Pluralform von ninguno) in Kaufnimmt, um seines Freundes zu gedenken, der 1974 vom chilenischen Geheimdienst entführt und ermordet wurde.
Die aufmerksame und laute Lesart der Gedichte von Gonzalo Rojas wird etwas zu tage bringen, was wir Ahnungslosen immer schon wussten: ´“Wir haben kein Talent […] bestenfalls / hören wir Stimmen […].“ Und die Ahnungslosen werden sich nicht wundern, wenn Gonzalo im vorletzten Gedicht der Atemübung, mit dem Titel Carmen Carminis, das Gespräch mit dem römischen Dichter Catull am Gardasee im Jahre 1995 aufnimmt. Und der bestätigt ihm, dass ein Mädchen aus einer etruskischen Tischlerei vor dreitausend Jahren, quicklebendig und aus Marmor, herauskam, ein Mädchen, „das nicht gestorben ist.“ Er ist und bleibt ein nimmermüder Schelm, ein Geisterseher, ein Kämpfer und ein Anarcho, also ein echter Dichter, dem die Herausgeber und Übersetzer mit diesem Band ein brandneues Andenken gewidmet haben, noch dazu versehen mit klugen Anmerkungen, den Lebensdaten des Meisters und einem ausführlichen Werkverzeichnis. Ein Poesieband also, der allen Ansprüchen gerecht wird, dank einer werkgetreuen Übersetzung und einem kompetenten Vorwort.
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Atemübung von Gonzalo Rojas. Gedichte aus sieben Jahrzehnten. Herausgegeben von Rodrigo Rojas Mackenzie und Reiner Kornberger. Aus dem Spanischen übersetzt von Reiner Kornberger. Mit Illustrationen von Roberto Matta. Gransee (Edition Schwarzdruck) 2017.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.