Nonkonformismus, ein Ausprobieren von Gegenpositionen

Als Nonkonformismus bezeichnet die Soziologie persönliche Haltungen oder Einstellungen, individuelle Handlungen oder philosophische Positionen, die nicht in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Ansichten, der gültigen Etikette, dem vorherrschenden Lebensstil oder dem kulturellen Mainstream stehen.

Nonkonformismus erzeugt meist Subversion. Der Grad der Abweichung reicht von bloßen Modifikationen bis zu ausdrücklichen Gegenpositionen. Das moderne Subjekt wird im 18. Jahrhundert krisenhaft geboren, in der Romantiker-WG in Jena. Im kulturellen Kontext spricht man von Romantikern, der Zugehörigkeit zu einer Gegenkultur oder „Underground“-Bewegung, im politischen von Dissidententum. Einzelne nonkonforme Handlungen, die gegen Rechtsnormen verstoßen, jedoch aus Gewissensgründen vollzogen werden, um symbolisch auf eine Unrechtssituation hinzuweisen, werden als Akte des zivilen Ungehorsams bezeichnet. In der restaurativen BRD wurde Kreativität nicht sehr geschätzt. Bevorzugt wurden angepasste Leistungsträger, die sich einfügen und nicht durch eigene Ideen hervorstechen wollen. Dabei sind es gerade die originellen Nonkonformisten, die mit innovativen Veränderungen der Kultur neue Impulse geben.

Wider den geistigen Verfall wenden sich die Kulturnotizen (KUNO), weil sie in der Bundesrepublik im kulturellen Mainstream die Sehnsucht nach einfachen Denkmustern erkennt.

Angelika Janz, die Fragmenttexterin lässt sich Zeit damit, den Punkt zu setzen

Jede Kultur hat ihre Ursprungsmythen, von denen sie sich herleitet und damit verbundene Rituale und Ideen. Auch wenn es altmodisch klingt, es braucht eine Haltung, die individuelles Denken nicht nur erlaubt, sondern geradezu einfordert. Nonkonformisten stehen in einer permanenten Rebellion gegen Eltern, Schule, Armee und Gesellschaft. In ihrem absoluten Freiheitsdenken fordern sie: absolute Selbstverwirklichung, Gleichberechtigung und sexueller Befreiung. Sie reflektieren das Leben und haben keine Zeit haben zum Ausstieg aus dem Elfenbeinturm und betreiben die Unabhängigkeit ihres Schreibens, entwickeln die Möglichkeit fiktionale Welten zu, die komplexer sind als die Realität und legen zugleich schonungslos deren blinde Flecken offen. Was sie aus der Sprache herstellen, ist nicht weniger als ein Spiegel der modernen Kulturkrise. Skandale sind ihre Kommunikationsphänomene: Sie beginnen mit einem öffentlichen Akt der Skandalisierung, mit dem ein literarischer Text, ein bestimmter Aspekt seines Inhalts oder Stils oder auch das Verhalten seines Autors als Normbruch definiert wird. Nonkonformistisch, ironisch und nachdenklich wird auch in diesem Online-Magazin gedacht. Kein Thema wird ausgespart. Nichts ist tabu! Und immer soll es um Wahrhaftigkeit gehen.

Das analoge Internet ging von dort per Schneckenpost in die Vernetzung, seine Name: Ulcus Molle Info. Es wurde herausgegeben von Biby Wintjes… Und es war immer ein kleines Fest, wenn eine Ausgabe des Ulcus Molle Info im Briefkasten lag. So hatte man selbst in der tiefsten Provinz den Eindruck an eine Szene angeschlossen zu sein.

A.J. Weigoni

The Notorious RDB

Um Änderungsprozesse in Gang zu setzen, braucht es Reibung, durch sie werden Schwachstellen sichtbar. Das Ausdrucksspektrum der Literatur wurde 1969 von Josef „Biby“ Wintjes erweitert, er gründete in Bottrop das Nonkonformistische Literarisches Informationszentrum. Wintjes strahlte etwas Großzügiges, Überschwängliches, sprudelnd Mitteilsames aus. Mit dem Ulcus Molle Info schuf er eine Plattform, die dieser Szene eine Stimme gab. In der BRD kreiste eine Gesellschaftsschicht so sehr um ihre primären Hochkultur-Bedürfnisse, dass sie nie dazu kam, sie zu befriedigen. Den Nonkonformismus der 1960ger und 1970ger Jahre belebten Jugendszenen mit literarischen Ambitionen. Sehr zum Ärger des Establishments, sie beschimpfen die Keller-Poeten als Nonkonformisten. Autoren Hadayatullah Hübsch, Tiny Stricker und Rolf-Dieter Brinkmann verstanden das als Ehrentitel und begannen, laut und deutlich gegenzureden. Ihnen war es wichtig, sich kommerziellen und gesellschaftlichen Zwängen ganz zu entziehen, man versuchte sie in der Schublade „Underground-Literatur“ abzulegen. Ihr Schreibstil, den die Autoren als spontane Prosa bezeichnen, wurde von der Literaturkritik als „Geschreibsel“ abgetan.

Es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. Vor zweihundert Jahren stellte Friedrich Schlegel das „Athenaeum“ mit der Begründung ein, dass diese Zeitschrift erst in der Zukunft verstanden werden kann. KUNO erinnert daran mit der Begründung des Redakteurs, der im 18. Jahrhundert der modernen Journalismus erfunden hat.

Modelle zur unabhängigen Herausgeberschaft waren für die Literatur immer von zentraler Bedeutung. Die Beteiligten agierten oftmals im Verborgenen und entgingen so einer möglichen staatlichen Zensur. Vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten der 1950er- bis 1980er-Jahre boten selbstgestaltete Bücher und teils von Hand kopierte Texte die einzige Möglichkeit, nonkonformistische Literatur zu lesen und zu verbreiten. Solche Texte wurden mit dem russischen Begriff „Samisdat“ beschrieben, was so viel wie „Selbstverlag“ bedeutet. Sie galten als Inbegriff unzensierter Literatur. „Man schreibt selbst, redigiert selbst, zensiert selbst, verteilt selbst und geht dafür selbst in den Knast“, formulierte einmal der Publizist und ehemalige sowjetische Dissident Wladimir Bukowski. Neben Foren für literarische Texte waren die Samisdat-Blätter und -Zeitschriften, allen voran der Berliner telegraph, auch eine wichtige Plattform für oppositionelle Journalisten in der DDR.

Jeder Nonkonformist ist eine Insel, ein unabhängiges Land, das nach seinen eigenen Gesetzen lebt, unter seiner eigenen Fahne.

Dmitri Krasnopewzew

Wer so gut erzählt wie Daniil Charms, braucht die Künstlichkeit nicht zu fürch­ten, und er beglaubigt auch das Unwahrscheinliche.

Die russischen Nonkonformisten bildeten keine festen Strukturen, sie agierten dezentral und für ein zahlenmäßig sehr kleines, gleichgesinntes Publikum. Was die Protagonisten miteinander verband, war ihre nonkonformistische Haltung gegenüber dem sowjetischen System und dessen künstlerische Präferenzen, den Sozialistischen Realismus. In der russischen Sprache werden ihre Werke auch als Inoffizielle Kunst, Zweite Avantgarde, Andere Kunst, Alternative Kunst oder U-Bahn-Kunst bezeichnet. Die Untergrund-Künstler der Sowjetunion waren oft eng verbunden mit ebenfalls illegalen Bewegungen wie den Moskauer Konzeptionellen, der Leningrader Vereinigung für Experimentalkunst und der Mitki-Gruppe in Leningrad sowie den „Hippies“ und den „Rockern“. Sie wehrten sich gegen den „Sozialistischen Realismus“, den das Zentralkomitee der KPdSU unter Stalin als Richtlinie für die Produktion von Literatur, bildender Kunst und Musik in der Sowjetunion bestimmte. Nach Stalins Willen sollten die Künstler die Helden des Aufbaus der sowjetischen Gesellschaft und deren technische Pioniere im besten Licht darstellen. Als Gegenentwurf zu dieser staatlich konformen sowjetischen Kunst entstand 1954 der Russische Nonkonformismus. Nach dem Tod Stalins wurde der Weg frei für eine zaghafte, zeitweilige Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft in der kurzen Tauwetter-Periode. Diese währte aber nur kurz und die Künstler wurden bis zur Perestroika und Glasnost 1986 wieder ideologisch zensuriert und politisch verfolgt. Die Russischen Nonkonformisten verzichteten auf gesellschaftliche Anerkennung und nahmen stattdessen viele Entbehrungen in Kauf. Sie wurden aus den offiziellen Kunstverbänden ausgeschlossen und verloren dadurch jede Möglichkeit zum legalen Broterwerb. Vielfach lebten sie über Jahrzehnte im Untergrund oder eingesperrt in Gefängnissen, Straflagern und in der Psychiatrie.

Get your kicks on route sixty-six.

Bobby Troup

In der Bundesrepublik führten derweil Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder Jörg Fauser – inspiriert durch die Beat-Literatur Nordamerikas – die Schwere des Alltags, den Frust und die Enttäuschung der unteren sozialen Schichten in den Kanon der westdeutschen Literatur ein. Sie befanden sich in der Bremsspur des ersten Popstars der Literatur, dem Beat-Poeten Jack Kerouac, der gemeinsam mit Allen Ginsberg, Ruth Weiss und William S. Burroughs zu den führenden Stimmen der Beat Generation, die in den 1950ger eine der prägendsten subkulturellen Bewegungen der USA begründete. Kerouac wurde zum gefeierten Initiator der sogenannten „Gegengesellschaft“, mit seinen Romanen drückte er das Lebensgefühl einer Generation aus, denen der american way of life suspekt war. Im Fokus seines Schaffens standen Themen wie existenzielle Entwurzelung, Freiheitsdrang, Lebenshunger und die Suche nach Erleuchtung. Besonders mit seinem Roman On the Road hatte er einen großen Einfluss nonkonformistische Literatur. Deutschsprachige Autoren sahen in seiner Erzählweise ein Vorbild wie Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Nicolas Born, Ludwig Fels oder Wolf Wondratschek. Sie schreiben von Lust auf Leben in absoluter Freiheit und Überdruss angesichts der Enge des bürgerlichen Mittelstands – aber all das ist hier abgefedert in einem existenzialistischen Kontext. In jedem dieser Beatniks steckt ein Nonkonformist.

Die Gossenheftreihe entwickelt sprachtheoretische Konsequenzen aus der Faszination, die das Grauenhafte auf uns ausübt, die Autoren des Krash-Verlag forden einen neuen Realismus, der beweisen soll, dass die Bonner Republik idealistisch gescheitert ist.

Der Begriff „die bleierne Zeit“ entstammt ursprünglich dem Gedicht Der Gang aufs Land von Friedrich Hölderlin. Das „Offene“ des Gedichts bedeutet eine neue Offenheit aller Lebensbezüge. In der „BRD“ wurden die 1950er Jahre oft als bleiern beschrieben, die durch Verkrustung und Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen geprägt war und – vermeintlich – erst durch die sogenannte Studentenbewegung 1968 aufgebrochen wurde; dieser Irrtum wurde später aufgeklärt. Eine Umdeutung erfuhr der Begriff durch die Zeit des RAF-Terrorismus während der 1970er Jahre, bei der das Wort bleiern – vordergründig – auch mit den Bleikugeln assoziiert wurde, mit denen linksterroristische Organisationen töteten. Dann kam eine durch Dr. phil. Helmut Kohl proklamierte „Wende“.

Coverphoto: Anja Roth

Diese Gossenheftreihe ist pures eskapistisches Enter­tain­ment, sie ist aber auch, was man nicht sofort wahrhaben will, eine subtile Zeit-Diagnose der eigenen Post-Historie, sie zeigt auf, wie mit Leseerwartungen und Genrekonventionen äußerst produktiv und ästhetisch anspruchsvoll umgegangen werden kann – und daß es möglich ist, unter dem gleichen Oberbegriff Massen- und Trivialliteratur ebenso wie Avantgarde zu verhandeln. In dieser Werkstatt für potenzielle Literatur herrschte die notwendige definitorische Offenheit von Trash und ein extensiver Begriff des Übrigen zwischen Körper und Zeichen. Der Kriminalist, verkleidet sich als Poststrukturalist. Diese nonkonformistischen Autoren remixten bespielsweise William S. Burroughs, Hanns Heinz Ewers oder Raymond Chandler und verschnitten sie mit postmoderner Theorie, popkulturellen Referenzen und Outlaw-Romantik und destillierten knallharte, dystopische Trivialmythen daraus. Wer neugierig auf bizarre, wilde, schlicht wundersame Literatur ist, kann jenseits kleinbürgerlicher Qualitätsvorstellungen die schönsten Entdeckungen machen, die das nach Abfallprodukt riechende Siegel Trash die „Ästhetisierung des Hässlichen“ nur unzulänglich beschreibt. Man lernt von ihnen, daß Häßlichkeit auch Freiheit und Spielraum bietet: für eine höhere Art von Unschuld. Ihr Schund-Begriff betreibt an der Oberfläche und im Abseitigen Daseinsanalyse ganz ohne eine Inventur der Verluste oder übliche Klagen um einen kulturellen Verfall. Diese Autoren analysieren lakonisch und kühl, und ihre ernsthafte Verspieltheit erinnert den zuweilen an Pater Sloterdijk. Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Groschenromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dieser Gossenheftreihe das hohe ästhetische Niveau. Diese Reihe hält uns den Spiegel vor, sie zeigt unsere eigenen verdrängten Gelüste und eine Schmud­del­va­ri­ante unserer Welt des neolibe­ralen, rasenden Still­stands.

Büchermachen macht viel zu viel Spaß, als dass man es den Bertelsmännern überlassen sollte.

Den sogenannten „Achtundsechziger-Mythos“ unterläuft KUNO mit weiteren Artikeln, die vor Augen führen sollen, wie nonkonformistisch gewisse Aspekte der bürgerlichen Kultur und wie konformistisch ein Teil der Altlinken ist, besonders nach dem Scheitern der real existierenden Sozialismus. „Ist die autonome Kunst  an ihr Ende gelangt, weil an die Stelle kunstimmanenter Kriterien politisch-moralische Gesichtspunkte getreten sind?“ Das Nachdenken über diese Frage soll über die Jahre in diesem Online-Magazin verdeutlichen, daß Nonkonformismus im Kleinen zur Voraussetzung einer Emanzipation im Großen und Ganzen werden kann.

 

 

 

Josef „Biby“ Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Weiterführend

Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.