I
Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber:
„Ihnen kann man die Beine nicht abtreten.“
Ich sagte: „Wieso.“
Der Herr sagte: „Sie haben keine Beine.“
Ich sagte: „Merkt man das.“
Der Herr sagte: „Natürlich.“
Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken mitgenommen.
Der Herr sagte: „Was ist das?“
Ich sagte: „Meine Beine.“
Der Herr sagte: „Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen dennoch nicht weiter.“
Ich sagte: „Leider.“
Nach einer Pause sagte der Herr: „Was gedenken Sie ohne Beine eigentlich zu tun.“
Ich sagte: „Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht zerbrochen.“
Der Herr sagte: „Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne Schwierigkeit Selbstmord begehen.“
Ich sagte: „Das ist aber ein fauler Witz.“
Der Herr sagte: „Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen, müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der Schuß davon läuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto nehmen und sich von einer Tragbahre von zwei Pflegern in den Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer befördern soll.“
Ich sagte: „Das ist doch wohl meine Sorge.“
Der Herr sagte: „Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick? Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das ästhetische Gefühl ihrer Mitmenschen erheblich.“
Ich sagte: „Ich bin ordentlicher Professor für [280] Ethik und Ästhetik an der Universität. Darf ich mich vorstellen.“
Der Herr sagte: „Wie wollen Sie das machen? Sie können sich selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie sind.“
Ich betrachtete melancholisch meine Stummel.
II
Alsbald sagte die Dame gegenüber: „Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.“
Ich sagte: „Ja.“
Die Dame sagte: „Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat, nicht anfassen.“
Ich sagte: „Ich bin sehr sauber.“
Die Dame sagte: „Ich muß einen großen erotischen Abscheu überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie anzusehen.“
Ich sagte: „Nanu.“
Die Dame sagte: „Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.“
Ich sagte: „Man gewöhnt sich an alles.“
Die Dame sagte: „Daß einer keine Beine hat, verursacht bei dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen hätten.“
Ich sagte: „Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir in der Aufregung abhanden, als ich zum erstenmal meinen Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer Disziplin führte.“
Die Dame sagte: „Wie heißt dieses Gesetz?“
Ich sagte: „Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist, muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so bucklig und entstellt sein.“
Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem saftigen Leibe ragten.
Unterdessen sagte die Dame endgültig: „Sie mögen recht haben, obwohl man ebenso gut das Gegenteil behaupten könnte. Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes als einer ohne.“
Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend.
***
Zuerst erschienen in: Die Aktion : Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 1915
„Er ist nun abseits, wie alle, die Wesentliches zu sagen haben, (…) während geschickte Mittelmässigkeit in bunter Kulissenbeleuchtung paradiert. (…) Aber er wird, wenn alle glänzenden Augenblickspropheten (…) längst zerstäubt sind, noch Menschen aufreissen mit seiner brennenden Wahrhaftigkeit.“ (Carl Zuckmayer)
Neben der Lyrik verfasste Alfred Lichtenstein verfasste stark groteske Prosa. In seinen Prosastücken macht er sich über einige seiner Bekannten und auch über sich selbst im Stile Alfred Jarrys lustig. Dazu kreiert er Phantasiefiguren, die für Freunde und Vorbilder wie etwa Georg Heym, Gottfried Benn und Jakob van Hoddis stehen. Als Freiwilliger nimmt er von Beginn an am Ersten Weltkrieg teil und schreibt unter dem Eindruck der Kriegserlebnisse in seinem Gedicht »Abschied« die Zeile: »Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot.« Noch im September 1914 fällt Alfred Lichtenstein an der Westfront.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.