(Ein offener Brief an die Züricher Studenten)
Frischverehrte Herren Studenten!
Am Donnerstag, 11. Juli, werden Sie im Schwurgerichtssaal Herrn Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld in Zürich sprechen hören; Sie können sich auf den Abend freuen. Ich will Ihnen etwas von unserem Doktor in Berlin erzählen. Er ist nicht allein unser Arzt, er ist auch unser Gastgeber; seine Sprechstunden enden in beaux jours, die Kranken vergessen ihre Nerven und dem gesunden Patienten bedeutet der Nachmittag in den freudigen Wartezimmern angenehme Nervenanregung. – Mitten im Tiergarten zwischen starken Kastanienbäumen und hingehauchten Akazien wohnt Sanitätsrat Doktor Magnus Hirschfeld. Er mag nicht, daß wir ihn so titulieren. »Kinder, ich höre lieber einfach ›Doktor‹.« Trotzdem er mir gestand, daß ihn die Ernennung zum Sanitätsrat zu seinem fünfzigjährigen Geburtstag, in Anbelang seiner Ausnahmestellung unter den Ärzten viel bekämpft und bestritten, doch erfreut habe. Er zeigte mir strahlend wie ein Kind alle Geschenke. Wir nennen ihn unsern Doktor. Am Vorabend seines Wiegenfestes brachten ich und meine Spielgefährten unserm Doktor ein auserlesenes Ständchen. Der Wiegenfestliche betrat gerührt seinen Balkon, ließ sich besingen von unsern Liedern zur Harmonika und Trommel. Schluß-Choral: »Ich schnitt es gern in alle Brotrinden ein« … Unsere Ausgelassenheit amüsiert ihn, denn Doktor Hirschfeld versteht Ulk, da er ernst ist, kein ernsthafter Professor etwa im Eichenlaubbart. Nun muß ich, liebe Herren Studenten, Ihnen zu meiner Schande gestehen, daß ich von den vielen berühmten Büchern, die der Doktor geschrieben hat (ich lese prinzipiell nur meine), keines kenne, aber dennoch sie aus seinen unvergleichlichen interessanten Vorträgen beurteilen kann, spannende medizinische, historische Romane, die nie zu Schmöckern vergilben, als Maßgebenheiten bestehen bleiben. Doktor Hirschfeld ist der Bejaher jeder aufrichtigen Liebe, ein Abgewandter jeglichen Hasses. Ein milder Gerichtsarzt, der alles zu verstehen sucht. – Voll Mitleid opfert er seine Kraft, seine Zeit, sein gutes Herz dem scheidenden Soldaten. An den Bahnhöfen sieht man unsern Doktor oft, ganze Tabaksplantagen anpflanzend, aus etlichen Kisten Zigarren und Zigaretten an abschiednehmende Feldgraue verteilen. Er ist der Mensch, der wahrhaft in der Bereitwilligkeit keinen Klassenunterschied kennt. Wer ihn ruft, zu dem eilt er. Ich überfiel ihn selbst, mit Erfolg, mir zu einem verwundeten Freund in Pommern zu folgen, aus seiner großen Praxis. – Liebe Herren Studenten, mich freut es, unserm Doktor Hirschfeld Lob und Preis zu singen. Wenn er nicht in Berlin weilt, fehlt sozusagen unser Beichtvater. Wir sehnen uns alle nach seinem Trostwort, nach den gemütlichen gemütvollen grünen Zimmern, sie sind heilbringend wie er selbst.
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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.