Der Obermieter

In Deutschland ist es, als ob es ordentlich darauf angelegt wäre, daß, vor Lärm, niemand zur Besinnung kommen solle.

Schopenhauer.

Eines möchte ich wohl um alles in der Welt wissen: Was machen eigentlich den ganzen Tag die Leute über mir? Sie poltern, sie spektakeln, sie scharren, sie stampfen; ich habe die Gedankenverbindungen: Reitstall, Kistenlager, Radrennbahn – – was machen diese Leute nur? Geräusche, deren Urheber man nicht sehen kann, geben uns schnell die Vorstellung von Ungeheuerlichkeiten. (Haben Sie schon einmal ein für Sie unsichtbares Liebespaar belauscht? Sie sollten das nicht versäumen.) Das Gehör ist ein unzuverlässiger soziologischer Sinn; das kontrolierende Auge fehlt, und die Resultate sind meistens etwas kümmerlich. Und nun will ich durch die Decke sehen und mit den Augen hören, was mein Obermieter da treibt. „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder …“ Das kann man wohl sagen. Und ob sie waltet! In Berlin haben die Hausfrauen des bürgerlichen Mittelstandes noch den guten, schlechten, alten Reinmachedämon in sich – sie machen nicht rein – „es“ macht rein. Sir Galahad, der europäisch-indische Weise, hat einmal festgestellt, daß man im deutschen Kleinhaushalt noch die seltene Gelegenheit habe, die Arbeitsmethoden der Steinzeit zu bewundern; dem Skandal nach zu urteilen, hat er recht. Das Hausmütterchen fegt in alle Ecken – es bürstet, es tobt, es klopft, es scheint den Teppich abzumähen – es ist unerfreulich, was da oben alles getrieben wird. Und dabei müßten Sie die Frau sehen! Sie sieht aus wie ihr Besen. Denn dies hat der liebe Gott mit Recht so eingerichtet: daß man sich nicht ungestraft an einen solchen Mechanismus wegwirft, wie der Haushalt einer ist. Er frißt einen auf. Ratzekahl.

Ich weiß schon: „die Hausfrauen haben es in der jetzigen Zeit nicht leicht“. Aber abgesehen davon, daß es keine Zeit gegeben hat, in der sie es jemals leicht gehabt hätten: sie machen es sich auch nicht leicht. Sie nehmen es alles viel zu schwer. Nämlich – in Ermangelung eines andern –: als Lebensinhalt. Nimm einer Hausfrau von echtem Schrot den Putzlappen, ihren Kram und ihre Haushaltungssorgen weg: sie geht rettungslos ein. Sie verkümmert langsam, siecht dahin. Und flüstert noch im Erlöschen: „Paulchen soll die Beleuchtung abdrehen –!“ Nun hören Sie nur, wie dieses Geschöpf da umhertobt! Ob sie eine Sitzfläche hat? Vielleicht. Aber sie benutzt sie nicht. Sie schlurcht durch die Zimmer, sie wirtschaftet, daß einem angst und bange wird, sie trägt die guten Möbel von der einen Ecke in die andere Ecke, vielleicht, damit sie noch mehr Ornamente bekommen … Gott allein weiß, was die Frau da oben treibt. Er weiß es. Aber er sieht gnädig fort. Denn sonst führe der Blitz ins Haus. Liest diese Person eigentlich jemals ein Buch? I bewahre, tut sie das! Die Berliner haben für diesen Fall einen wundervollen Fachausdruck: „Sie kommt nicht dazu.“ Wozu kommt sie also denn? Zum Lärm.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: manchmal schweigt der Lärm des Haushaltes (der nur läuft, damit er morgen auch laufen kann) – manchmal ruht sich die Familie aus. Und dann hebt allerdings etwas an, das noch schlimmer ist als der dumpfe Stoß der Besen. Dann machen sie Musik. Nun ist das eine ganz merkwürdige Sache: Es gibt nirgends so viel Gesangvereine wie in Deutschland. Und niemand ist – als Einzelperson genommen – so unmusikalisch wie der Deutsche. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man ein Konzert in sich aufnimmt, oder ob man eine Operettenmelodie vor sich hintrillert, oder gar – unsterbliche Götter! – auf dem Klavier vorspielt. Und das tun sie jetzt da oben. Wenn eine deutsche Hausfrau oder ihr Töchterlein Lehar spielt, dann macht sie Radau. Es ist unbeschreiblich. Gott erfand die Fermaten – aber die sind da oben nicht beliebt. Er erfand die Retardandis, die Abstufungen, die Nuancen – nichts zu machen! Sie paukt – und es ist alles, alles ein Parademarsch. Horch, jetzt hämmert sie. Sie hämmert achtzehn Mal hintereinander die schönen deutschen Volkslieder: „Wer wird denn weinen“ – und „Mein Schiff fährt morgen nach Amerika“ – und eine neue Melodie, die sie jetzt in Berlin mit dem Text singen, den die Lumpenhändler auf den Höfen ausschreien: „Einkauf von Lumpen, Knochen, Papier …“ Mütterchen! Mach lieber rein. Es klingt musikalischer.

Das geht so von morgens sieben bis abends elf Uhr. Ich bin davon überzeugt, daß Frau Obermieterin auch im Schlaf sauber macht; sie träumt gewiß von Staubwischen, von Aufwascheimern, Gaskochern und etwas, was man hier in Berlin „Schrubber“ nennt, eine Art Bürste, die so aussieht, wie Mütterchens Frisur, wenn sie sichs gemütlich gemacht hat … Was machen die Leute da oben bloß? Und ein Gott hält tröstlich die Hand auf meinen Scheitel und antwortet: „Sie leben.“

 

 

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Kurt Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik). Er verstand sich selbst als linker Demokrat und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. „Der niemals zu unterdrückende Drang, die Wahrheit zu sagen“, ist Tucholskys Motiv, und als er erleben muss, dass in Deutschland die Republik versinkt und ein umjubelter Diktator mit ausgestrecktem Arm an die Macht kommt, verstummt die mahnende Stimme Tucholskys im schwedischen Exil: „Man kann nicht schreiben, wo man nur noch verachtet.“

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.