auswege aus dem kapitalozän?

 

eine der qualitäten dieses buches ist es, daß die autoren technologische entwicklungen historisch und gesellschaftlich einordnen und damit technokratischen denkweisen, die komplexität verweigern, etwas entgegensetzen. technik wirkt immer in prozessen und zusammenhängen. die »Einleitung« der herausgeber zitiert den maler leonardo da vinci, der auch ein technischer erfinder war und etwa hydraulische maschinen, einen selbst fahrenden wagen, ein gepanzertes fahrzeug, die vorform eines hubschraubers, fallschirm, unterseeboot, taucheranzug, automaten und roboter entwarf: »Diejenigen, welche glauben, an der Praxis ohne Wissenschaft Gefallen zu finden, sind Schiffer, die ohne Kompaß und Steuer fahren. Sie wissen nie wohin die Fahrt geht.« altgriechisch kybernétes bedeutet steuermann, kapitän eines schiffes, kybernētiké téchnē = steuermannskunst. der flugzeugpilot ist ein steuermann in den lüften. wohin steuern wir die digitale technik? oder steuert sie uns? georg christoph lichtenberg, physiker, mathematiker, aufklärer und aphoristiker, kannte »Mythen der Physiker«. der russische dichter ossip mandelstam formulierte: »Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee.«

peter brödner, wirtschaftsinformatiker, verweist darauf, daß téchnē auch die list bezeichnete, wirkungen der äußeren natur für eigene zwecke zu nutzen. man denkt hier an den listigen, findigen und technisch begabten odysseus. der computer, der rechner heißt, verbindet mathematik und technik, wie die uhr. joachim paul, biophysiker sowie technikundmedienexperte, erklärt, bereits in der neolithischen erfindung der sonnenuhr sei die digitale rechenmaschine angelegt gewesen. rainer fischbach, informatiker und software-experte, betont die bedeutung der uhr für die gesellschaftliche entwicklung.

allerdings sind uhren, die das leben strukturieren, auch symbole der abhängigkeit der menschen, nicht nur in der industriellen arbeit. friedrich nietzsche beobachtete schon im späten 19. jahrhundert: »Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, − man lebt wie einer, der fortwährend etwas „versäumen könnte“.« »das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer.« und: »Das ist nun freilich ein böses Zeitalter für den Denker: er muß lernen, zwischen zwei Lärmen noch eine Stille zu finden, und sich so lang taub stellen, bis er es ist.«

sich nach der uhrzeit richten bedeutet disziplin und ordnung. zeittaktbindung ersetzt in der moderne und postmoderne die gottesbindung. fünf minuten vor der zeit ist des teufels pünktlichkeit. wer nur seine eigne zeit sieht, bleibt hinter seiner zeit zurück. egon friedell äußerte, in psychologischen belangen sei die uhr kein kompetenter zeitmesser, vielmehr wär hier das wahre maß die zahl der eindrücke und assoziationen, und, ergänze ich, deren tiefe, die ein verweilen verlangt und ermöglicht.

karl marx schrieb »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen, überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.«. alle autoren greifen auf gedanken von marx zurück, um sie, die herrschenden dogmen des kapitalismus, also der ökonomieform der modernen technologien, und der technokratie ergründend, auf die gegenwart und zukunft anzuwenden. viele kritisieren die einseitig gewinnorientierte nutzung der computertechnik sowie das fehlen einer finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen demokratie, zumal im globalen maßstab.

dem internetidealismusundoptimismus folgte die internetkritikundskepsis. alex demirović, sozialwissenschaftler, erläutert, das internet, von dem in den neunziger jahren erwartet wurde, daß es zu mehr kommunikation und austausch sowie zur bildung solidarischer gemeinschaften führen würde, habe die kontrolle und manipulation der einzelnen menschen noch verstärkt und sie abhängiger gemacht, und damit unfreier, auch durch die praktisch ununterbrochene erreichbarkeit.

arthur schopenhauer notierte: »Genialität ist Objektivität.«, egon friedell: »Die Moral des Naturforschers ist seine Objektivität.« mehrere autoren hinterfragen die worte rationalität und rationalisierung. der titel des beitrags von paul lautet: »Eine Krise unserer Rationalität? / Zur Dialektik der Beziehung zwischen Ökonomie, Umwelt und Technik«. das wäre stoff und thema für ein buch. ratio bedeutet im lateinischen berechnung, erwägung, einsicht, theorie, vernunft. allein berechnung jedoch ergibt noch keine vernunft. brödner schreibt, häufig bezeichne rationalisierung in einengender weise ein bündel von maßnahmen zur kostensenkung und reduktion lebendiger arbeit.

jürgen daub, industrieundarbeitssoziologe, macht deutlich, die logik der unterstützung der mehrwertgenerierung sei ein wesentliches element der wissenschaft, so auch bei der entwicklung der digitalisierungstechnik. digitalisierung unterwerfe die arbeitenden menschen aber der logik von maschinen. »instrumentelle Vernunft« wirke »bis in die Alltagsbereiche fort, indem sie dort durch Digitalisierungstechniken Lebensvollzüge strukturiert und Abhängigkeiten schafft.« und faßt zusammen: »Es gab noch zu keiner Zeit eine Gesellschaft, die derart von ihrer technologischen Basis abhängig wurde wie die Digitalgesellschaft.« und: »Diese Beherrschung der Natur qua Technik ist zugleich Herrschaft des Menschen über die Menschennatur, sowohl der äußeren wie der inneren Natur.« elias canetti sah: »Je mehr wir von uns abspalten, je mehr wir leblosen Instanzen anvertrauen, desto weniger sind wir Herren über das, was geschieht. Aus unserer wachsenden Macht über alles, Unbelebtes wie Belebtes und besonders über Unseresgleichen, ist eine Gegenmacht geworden, die wir nur scheinbar kontrollieren.«

der begriff der instrumentellen vernunft stammt von max horkheimer und meint eine einseitig technisch rationale vernunft, die zum machtinstrument wird und menschen zu werkzeugen macht, siehe die analysen hierzu bei horkheimer und theodor w. adorno in »Dialektik der Aufklärung« und adorno »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«. vorstellungen vom optimal programmierten menschen entsprechen kaum dem ideal des selbstbestimmten individuums. aus technokratischer sicht wirkt der mensch im vergleich zu moderner technik antiquiert, unzuverlässig und weniger berechenbar. karl kraus ahnte, die technische entwicklung werde nur noch ein problem übriglassen, die hinfälligkeit der menschennatur.

was techniker erst erfinden und erproben und wissenschaftler oft länger erforschen müssen, können schriftsteller fiktiv und phantastisch schneller beschreiben. in der literatur hat das motiv des künstlichen menschen viele facetten. ovid ließ vor über 2000 jahren den künstler pygmalion eine elfenbeinerne statue kreieren, die lebensecht aussieht und zur lebendigen frau wird, lukian vor knapp 1800 jahren ein gerät erschaffen, das man in menschenkleider stecken und, durch zaubersprüche belebt, zu menschenähnlichen handlungen bewegen kann. dies ist ein früher vorläufer von goethes zauberbesen, der seinem benutzer entgleitet und dadurch unheil bewirkt. der golem, ein künstlicher unfertiger mensch, entstand aus einem erdklumpen und stück holz. der mensch suchte lange nach einem perfekten technischen diener. goethes faust, oder mephistopheles, der verneinende und schöpfende geist, seinem hebräischen namen nach der zerstörer, verderber, erschafft den homunculus, der durch menschliches denken und chemisch entsteht, doch keinen menschlichen körper und keine seele besitzt.

bei julien offray de la mettrie, der behauptete, der mensch selbst sei eine maschine, erscheint zur mitte des 18. jahrhunderts ein sprechender automat. in der literatur des 19. jahrhunderts finden wir, vor allem in der romantik, automaten und marionetten, symbiosen aus mechanischen und lebendigem, insbesondere bei e.t.a. hoffmann, aber auch clemens brentano, achim von arnim, bonaventura, daneben jean paul, karl philipp moritz, georg büchner und heinrich heine. man fürchtete eine herrschaft der maschinen und apparate. technische automatisierung und seelenlose menschen wurden zusammengedacht. jean paul fragte, ob automaten menschen ersetzen könnten.

zu beginn des 20. jahrhunderts wird das thema in der literatur erneut relevant. karel čapek beschrieb gefühllose arbeitende wesen in seinem theaterstück »R. U. R.« = »Rossums Universal Robots« von 1921, in dem roboter, die sprechen können, letztlich die menschheit vernichten. die firma »Rossum« stellt arbeitssklaven her, die man, humanoide roboter, androiden nennt. das wort roboter geht auf čapeks stück zurück, siehe tschechisch robota = schwere, mühsame arbeit, fronarbeit, knechtsarbeit, untertanenarbeit. tschechisch rozum bedeutet vernunft, verstand, intellekt. instrumentelle vernunft führt zu einer pervertierten intelligenz, und umgekehrt. bei ray bradbury werden marionetten herren über die menschen. im ambivalenten film »Metropolis« von fritz lang arbeiten menschen als sklaven in einer zweiklassengesellschaft. »Metropolis« weist parallelen zum roman »Die Zeitmaschine« von h.g. wells auf, der 1895 erschien und wo die sozialen unterschiede zwei gänzlich verschiedene menschenrassen hervorgebracht haben. die oberirdischen eloi, kindlich naiv, leben paradiesisch, während die affenartigen morlocks unterirdisch für sie schuften müssen. doch die menschenfressenden morlocks brauchen die eloi als ihre nahrung.

inzwischen wurde über anthropotechnik und biotechnologien im menschenpark diskutiert. derzeit muß man eher die kontrolle von menschen durch digitale technik befürchten als daß künstliche intelligenz mit menschlichem bewußtsein und menschlichen gefühlen entsteht. bisher können roboter soetwas höchstens simulieren, erkennen und darauf reagieren, nicht aber selber ausprägen, auch die japanischen nicht. nur wissen ist noch keine bildung. und von denkmaschinen mit Ichbewußtsein oder gar empathie sind wir weit entfernt. in den usa wurden schon computer mit waffen erschossen.

technik; die fähigkeiten der natur steigert und erweitert, hat dem menschen vieles erleichtert. durch mehr bequemlichkeit wurden allerdings viele gehirne faul. voltaire bemerkte: »Wir leben in einer Welt, in der wie nie zuvor das Wissen die Weisheit verdrängt hat.«, kraus: »Das sind die wahren Wunder der Technik, daß sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputt macht.« und: »eines Tages wird sich die Menschheit für die großen Werke, die sie zu ihrer Erleichterung geschaffen hat, aufgeopfert haben.«

es gibt in jeder neuen epoche der technik die gefahr der entmenschlichung, aktuell etwa, wenn menschen nach oder von algorithmen beurteilt werden. technologien führen nicht automatisch zu einem besseren leben, ja können zwänge und belastungen hervorrufen, die menschen deformieren. friedrich dürrenmatt schrieb zu seinem stück: »Die Physiker«: »Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.«, »Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.« und: »Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.«

cicero riet: »Um lange zu leben, lebe langsam.« canetti stellte fest: »Besser will es nicht werden, aber vielleicht langsamer?« die autoren des hier besprochenen buches wollen die technologische entwicklung nicht rückgängig machen oder aufhalten, manchmal vielleicht etwas bremsen, damit über auswirkungen länger nachgedacht werden kann, sondern menschlicher gestalten. dafür braucht man geistigen vorlauf, den sie anbieten. sie fragen, welche gesellschaft die menschen wirklich wollen und regen zum diskurs darüber an.

fischbach erklärt, die ökonomische diskussion lokalisiere technologische Innovation meist im zusammenhang der konkurrenz von unternehmen um kostenvorteile, also in dem kontext, den die marxistische tradition als kampf um den »relativen Mehrwert« charakterisiert. paul sieht, technik sowie das vermögen, technik treiben zu können, gehören als fester bestandteil zur conditio humana. doch die technik sei von der kunst, altgriechisch téchnē = kunstfertigkeit, kunst, handwerk, lateinisch technicus = lehrer der kunst, techniker, zum instrument zur steigerung des mehrwerts geworden, dessen sicherung und erweiterung sie dient, und damit zur dienstmagd der kapitalistischen ordnung, die kapitalinteressen befriedigen soll.

brödner erkennt, während die intelligenz jeweils in den tätigkeiten der modellierung und formalisierung sozialer praxis und der aneignung der softwarefunktionen für den praktisch wirksamen gebrauch stecke, führe das computersystem lediglich die algorithmen des so gewonnenen berechnungsmodells aus, rudi schmiede, ökonom und soziologe, die technischen tatsachen zwängen uns, beschreibungen, abbilder, vorgänge, verfahren und prozesse so und nicht anders zu handhaben, da es keine technologische alternative dazu gäbe. so soll es jedenfalls scheinen. worte wie »Digitalisierung« und »Künstliche Intelligenz« werden heute wie unanfechtbare begriffe benutzt, die dabei fast etwas sakrales bekommen.

technische innovationen wirken jedoch nur, wenn strukturen und mittel für ihre nutzung vorhanden sind. fehlen sie, bleibt die praktische wirkung ein postulat. florian butollo, soziologe, und patricia de paiva lareiro, arbeitssoziologin, schreiben, neue digitale ansätze könnten nur dann aufgegriffen werden, wenn der mehraufwand durch investitionen, die umstellung der produktionsprozesse, ausbildungskosten undsoweiter für produktivitätsundprofitsteigerungen sorge. heinz-j. bontrup, wirtschaftswissenschaftler, schreibt: »Fallen die beiden Finanzierungsarten aus Profit und / oder Kredit aus bzw. sind sie nicht ausreichend, dann findet auch keine Technikumsetzung statt. Viele Unternehmen leiden mangels Finanzierungsmöglichkeiten darunter, aber auch ganze Volkswirtschaften. Sie können die Technik und damit den Fortschritt schlicht nicht bezahlen.« brödner kommentiert: »mehr oder weniger ist in großen Teilen der Software-Entwicklung inzwischen ein Zustand „rasenden Stillstands“ erreicht, in dem viel Aktivität ohne substanziellen Fortschritt entfaltet wird.« »Rasender Stillstand« ist ein buchtitel des geschwindigkeitsmediensimulationsundentwirklichungsanalytikers paul virilio, der etwa schrieb: »Die Geschwindigkeit ruft die Leere hervor, und die Leere treibt zur Eile.«

die analyse der digitalisierung führt notwendig zur analyse der finanziellen und ökonomischen verhältnisse, die das buch teils sogar dominiert, da praktisch alles von geld und ökonomie abhängig ist. die macht im kapitalismus hat das kapital. und das braucht permanente expansion. marx sah, die herrschenden ideen einer zeit waren stets die ideen der herrschenden klasse. benjamin erläuterte, die errungenschaften der technik kämen zuallererst den führenden klassen zugute. das gelte ebenso für die fortgeschrittensten denkformen und die modernen fortbewegungsformen, und auch kommunikationsformen. marx analysierte, das kapital habe nur »einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon ansaugt.« und gegen geldvampire hilft kein knoblauch.

die kritik des geldes ist alt. jesus soll bekanntlich nach seinem einzug in jerusalem im tempel die tische der händler und geldwechsler umgestoßen haben. bei matthäus sagt er: »Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein. Aber ihr macht daraus eine Räuberhöhle.« die luther-bibel ermahnt: »Geldgier ist die Wurzel allen Übels.« in der antike galt die arbeit, die man heut dem banker zuordnet, als banausisch. bei cicero lesen wir: »Nichts ist nützlich, was rücksichtslos ist.« »Von Natur aus gibt es kein Privateigentum.« »Keine Staatsform ist entstellter als jene, in der man die Reichsten für die Besten hält.« »Nichts verrät so sehr einen beschränkten und kleinlichen Geist wie die Geldgier.« »Es steht aber schlecht, wenn versucht wird, mit Geld zu erreichen, was durch Leistung erreicht werden sollte.« ciceros satz »Am meisten bewundern die Menschen denjenigen, der von Geld nicht beeindruckt wird.« war sicher nicht als behauptung, sondern utopie gemeint. heute schafft der zwang zum unbedingten übertreffen der konkurrenz ständig neue opfer. wer also stoppt das maßlose und die maßlosen?

siegfried kracauer äußerte, der bestand des gegenwärtigen systems, das als das beste gelte, werde »auf bestimmte naturale Eigenschaften der führenden Schicht gegründet; nicht auf den ausdrücklichen Willen dieser Schicht, die Ansprüche der Massen zu befriedigen.« gustav bergmann, wirtschaftswissenschaftler mit den forschungsundlehrbereichen wirtschaftsethik, wirtschaftsdemokratie und mitweltökonomie, schreibt, eine relativ kleine gruppe von menschen bestimme über die produktionsbedingungen in der welt, die energievergeudung, urwaldrodung, kinderarbeit und lohnsklaverei. der zurückgetretete französische umweltminister nicolas hulot, genannt »Minister für ökologischen und solidarischen Umgang«, antwortete 2018 auf die frage, bontrup verweist darauf, warum er sein amt aufgebe, er habe gemerkt, daß die politik entmachtet sei durch die finanzwelt, und er wolle nicht mehr lügen.

das geld ist vom mittel des wertvergleichs zum alles beherrschenden bewertungsmaßstab geworden. bergmann konstatiert: »Vor allem kapitalmarktorientierte Unternehmen können kaum andere als Profitziele verfolgen, da sie von den Investoren und Kapitaleignern zu einer Kurswert- und Dividendensteigerung getrieben werden.«, »Hedgefonds und andere Investoren mit gigantischen Kapitalressourcen im Hintergrund erkämpfen sich wachsenden Einfluss auf das produktiv angelegte Kapital, so daß heute eine Großzahl der Kapitalgesellschaften von diesem maßgeblichen Gewicht der Shareholder-Interessen mehr oder weniger geprägt wird.«, fischbach: »Was sich so in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, ist ein parasitäres Kapital, das nichts zur Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft beiträgt, sondern lediglich die Renten extrahiert.« überdies stärkt die schuldenökonomie den finanzsektor und läßt ihn umso mehr zu einer macht unabhängig von und gegenüber der materiellen Produktion werden.

heine formulierte, der kaufmann habe auf der ganzen welt dieselbe religion. giorgio agamben bemerkte zu walter benjamins textfragment »Kapitalismus als Religion«: »Der Kapitalismus ist also eine Religion, in welcher der Glaube ‒ der Kredit ‒ an die Stelle Gottes getreten ist. Anders ausgedrückt: Da die reine Form des Kredits das Geld ist, ist der Kapitalismus eine Religion, deren Gott das Geld ist. Das bedeutet: Die Bank, die nichts anderes ist als eine Maschine zur Vergabe und Verwaltung von Kredit, hat die Stelle der Kirche eingenommen, und indem sie über Kredit verfügt, manipuliert und regelt sie den Glauben, den unsere Zeit noch in sich trägt ‒ das knappe, unsichere Vertrauen.«

filme über die finanzkrise ab 2007 zeigen gejagte und zerrissene banker, die ebenfalls vom finanzsystem abhängig sind, freilich exquisit bezahlt, so »Arbitrage ‒ Macht ist das beste Alibi« von nicholas jarecki, ein komplexer film, der mehrere geschichten und handlungsebenen verbindet, mit dem hedgefonds-manager robert miller als hauptfigur, gespielt von richard gere, und »Der große Crash ‒ Margin Call« von jeffrey c. chandor, ein nüchternes kammerspiel. hier ist die figur des bankers sam rogers, dargestellt durch kevin spacey, besonders interessant, der skrupel kennt, sie in entscheidenden momenten aber jeweils, nach anfänglichen bedenken, aus treue zur firma, wie er sagt, unterdrückt, und darunter leidet. doch wer fragt schon wirklich, auch anderswo, woher sein geld stammt und wieviel blut daran klebt?

was und wer auf der waage liegt, ist meist bereits verloren. je ideeller eine arbeit, umso weniger finanziellen wert hat sie oft. geistige und kulturelle beschränktheit sind zu permanenten modeerscheinungen geworden. und moden dienen der kapitalvermehrung. in einer gesellschaft, die alles verwertet, ist es ehrenwert, nicht verwertbar zu sein. vielleicht führt am ende die zerstörung des werts der lebendigen arbeit zum zusammenbruch der verwertungssysteme.

die globalen konzerne verhalten sich meist wenig verantwortlich. ihre vorstände denken offenkundig nicht allzu weit über ihre eigenen interessen und interessengruppe hinaus. und die politik unterwirft sich ihnen, wenn sie, parallel zu ihren hilfsundreparaturmaßnahmen, ihre ohnmacht gegenüber ursachen von problemen und konflikten zur profession macht. medien helfen dabei, indem sie endlos über probleme diskutieren lassen, die nicht gelöst werden. so entsteht der eindruck, der streit der meinungen ersetze die problemlösungen. man hat halt, mal wieder, darüber geredet. paul nennt das »Scheindebatten zur medialen Demokratiesimulation«. die tatsache, daß propaganda in der vorherrschenden mediensprache immer nur bei andern propaganda heißt, zeigt, die eigene propaganda wirkt.

fischbach hebt hervor: »Unter dem Aspekt der Herrschaft gibt es keine harmlose Technik und insbesondere keine harmlose IT.«, denn technologien hätten stets auch herrschaft zur folge, bergmann: »Heute muß man von einer Machtwirtschaft sprechen, da die Märkte von einzelnen Konzernen beherrscht werden.« eine kapitelüberschrift bei bergmann lautet: »Autoritärer Liberalismus: Renaissance der Strenge und Ausbeutung?« die technokratische gesellschaft agiert in arbeitsprozessen wieder, oder noch, autoritär, früher sagte man herrisch, weil dies vermeintlich effizient ist, indem es das funktionieren zu garantieren scheint. die parlamentarische demokratie, eine weiterentwicklung der antiken demokratie, aber keine vollendung, ist verbunden mit einer (finanz)wirtschaftlichen nicht-demokratie. zugleich macht, wie es aussieht, ein bestimmtes und stabiles wohlstandsniveau eine entwickelte demokratie überhaupt erst möglich.

bereits die autoren der »Einleitung«, bontrup und daub, beklagen eine marktkonforme demokratie. schmiede spricht von der herausbildung »monopolistischer oder oligopolistischer Machtstrukturen«, bergmann von »Herrschaftseliten« und »Mehrwertempfängern«. mißbräuche der freiheit liefern zudem autoritären kräften argumente. wir sollten darüber nachdenken, inwieweit auf die strukturen, automatismen und wirkungen der finanzwirtschaft zutrifft, was der begriff »totalitär« meint. wer wirklich freie bürger wollte, müßte die macht des geldes, des größten zwangsinstruments, spürbar einschränken, notfalls durch politischen und juristischen druck, damit geld und wirtschaft stärker den legitimen ansprüchen der bevölkerungen dienen, und zwar weltweit.

zu unternehmen wie google, amazon, facebook, apple, microsoft und ihren chinesischen entsprechungen alibaba und tencent, sowie uber, wirecard, airbnb und zalondo bemerkt schmiede: »Informationskontrolle, Kontrolle des Zugangs zum eigenen Markt, Preiskontrolle und Kontrolle der Leistungen der Beteiligten erlauben, wenn sie durchgesetzt sind, die Etablierung proprietärer Märkte, die ggfs. durch geeignete Akquisitionen kontinuierlich erweitert und abgesichert werden.« bei »Amazon« bewerten inzwischen algorithmen die leistungen der beschäftigten. das hat wirklich etwas vom automaten, der menschen kontrolliert. als gnostiker könnte man sagen, die algorithmen seien die neuen archonten.

schmiede erkennt, durch die geldherrschaft sind soziale chancenungleichheiten bei bildung, ausbildung und berufswahl, sozialem status, einkommen und vermögen größer sowie einfacherklärungen rassistischer, nationalistischer und sexistischer, also populistischer, art häufiger geworden. paul sieht nationalismus als reaktion auf ein neues kosmopolitisches bewußtsein, das künftig die basis politischen denkens bilden muß. vielleicht folgen nationalisten, die hassen und verachten, weil sie sich das andere nicht als (gleich)berechtigt vorstellen können, aber auch zuallererst ihren eigenen vorurteilen und feindbilder. andererseits sind ihre meinungen, bis hin zu verschwörungstheorien, häufig bloß radikalisierte und vergröberte formen normaler und alltäglicher vorurteile. unter menschen gilt: die bösen sind immer die andern. und opfer von ressentiments werden zu objekten gemacht. auch der offizielle begriff »Arbeitsmarkt« bezeichnet abhängig berufstätige als objekte der finanzgesteuerten ökonomie. menschen, die ihre arbeit geben, heißen »Arbeitnehmer«. marx wies darauf hin, der arbeitslohn werde durch dieselben gesetze bestimmt wie der preis jeder anderen ware. geld sei das allen eingetrichterte wesen ihrer arbeit, das sie beherrscht und das sie anbeten. wenn der zweck die mittel heilige, wäre der zweck aber unbillig.

die aktuelle politische korrektheit ist widersprüchlich, einerseits nötig, weil nicht geringe teile der bevölkerung in die gegenrichtung abdriften, zum andern kontraproduktiv, ja eine geistige rückentwicklung, wenn sie dogmatisch und pedantisch auftritt und man wieder glaubt, menschen »erziehen« zu müssen. außerdem benötigt man die inszenierte schickliche moralische fassade, damit das reale unrecht dahinter verborgen bleibt. moral ersetzt im modernen mitteleuropa die religion. und was wurde im namen gottes gelogen. nietzsche, den ich hier gegen illusionen zitiere, meinte, moralität sei »im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit.« marx bemerkte, die forderung, die illusionen über einen zustand aufzuheben, sei die forderung einen zustand aufzuheben, der dieser illusionen bedarf.

nur wer einen gesamtgesellschaftlichen blick hat, kann gerechtigkeit wollen. wer ist heute die arbeiterklasse? gibt es sie überhaupt noch? die arbeiterschaft als geschlossene soziale klasse existiert, zumal postmodern verkleinbürgerlicht, in entwickelten industrieländern sicher nicht mehr wie zu zeiten von marx. doch es gibt millionen billigbeschäftigte auch in europa, die ähnlich ausgebeutet werden. am meisten der marxschen arbeiterklasse entsprechen aber die sozial entrechteten menschen der dritten und vierten welt, wohin man die mehrzahl der menschenopfer des kapitalismus ausgelagert hat. das wort kapitalismus wird von redakteuren und autoren der medien der produzierten öffentlichen meinung, oder meinungen, also meinungsfabriken, eher selten verwendet.

ein nachdenken über soziale ungleichgewichte und konflikte muß künftig mehr den nord/süd-kontrast einbeziehen, zumal aus ökologischen und medizinischen gründen, siehe klimawandel und pandemie. auch in diesem buch dominiert der europäische blick. rosa luxemburg hatte, an marx anknüpfend, über folgen der expansion des kapitals geschrieben: »Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. In Afrika und Asien, vom nördlichen Gestade bis zur Südspitze Amerikas und in der Südsee werden die Übereste alter urkommunistischer Verbände, feudaler Herrschaftsverhältnisse, patriarchaler Bauernwirtschaften, uralter Handwerkerproduktionen vom Kapital vernichtet, zerstampft, ganze Völker ausgerottet, uralte Kulturen dem Boden gleichgemacht, um an ihre Stelle die Profitmacherei in modernster Form zu setzen.«

zugleich drang und dringt die westliche populärkultur vor und zerstört zusammen mit wirtschaftlichen prozessen die identitäten der betroffenen, die so häufig in ein soziales und ideelles vakuum fallen. adorno schrieb, amüsement sei die fortsetzung der arbeit im kapitalismus, günther anders, unterhaltung die tendenzkunst der macht. die ökonomischen analysen der luxemburg, die auch das verhältnis von wirtschaft und demokratie hinterfragen, verbinden sich mit denen der ursachen des ersten weltkriegs, vor dem es eine rasante wirtschaftliche entwicklung gab und der den zweiten weltkrieg vorbereitete. kraus stellte fest: »Sollte „Schlachtbank“ nicht vielmehr von der Verbindung der Schlacht mit der Bank herkommen?«

der bürgerliche mensch meint, wenn er vom einzelnen spricht, fast immer den privilegierten einzelnen. wie lange können noch jene gesellschaften die welt beherrschen, die den größten schaden verursachen? indem die globale marktwirtschaft permanent unrecht produziert, gegen das die bürgerlichen sublimierungen den meisten menschen weltweit wenig helfen, gefährden sich die westlichen kulturen letztlich selbst. wo das eintreten für soziale gerechtigkeit als naiv gilt, denken tatsächlich jene naiv, die glauben, das mißachten sozialer rechte räche sich nicht.

bergmann sieht: »Erfolg individuell zuzurechnen ist ein Missverständnis, denn alle Werte sind Sozialprodukte.« je weniger erfolg oder mißerfolg vom einzelnen menschen abhängen, umso mehr stellen sie das bewertungssystem infrage. aufgrund ungleicher lebensbedingungen, also ungleichwertiger voraussetzungen, ists für viele bloß begrenzt beeinflußbar, ob sie ihren begabungen und fähigkeiten entsprechende erfolge haben oder nicht. nicht wenige erleben vergeblichkeit und herabsetzung. wenn die wesentlichen vermögen leistungslos durch erbe verteilt werden, könne man kaum von einer leistungsgesellschaft sprechen. canetti meinte, was dem reichen das erbe, sei dem armen die hoffnung.

der wert der arbeit gegenüber dem geld ist ebenso gesunken wie der gebrauchswert gegenüber dem tauschwert. daub erläutert, erst das zur »Ware« werden der »Arbeitskraft« für einen »Markt« schaffe »Arbeit« im heutigen sinne. daher der begriff »Marktwirtschaft« für das herrschende gesellschaftsmodell. kreative arbeit ohne markteffekte gilt nicht als arbeit. man muß immer bedenken, welche maßstäbe einer bewertung zugrunde liegen. denn das können genau die falschen sein. der mensch sieht im erfolg an sich mehr ein qualitätsmerkmal als in einer leistung. denn menschen urteilen gemeinhin nach etiketten und nicht kompetenzen. beim wort »Vermögen« denken fast alle an geld und nicht fähigkeiten. man sollte bei erfolgen also stets fragen, womit und wofür. inwieweit ist beruflicher erfolg überhaupt ein zeichen von begabung? muß man nach erfolgen gar darüber nachdenken, was man verkehrt gemacht hat? c.g. jung fragte: »Haben Sie einen Erfolg erlitten?«

canetti äußerte, daß ein großer teil des industriellen und kommerziellen rechts mit der moral in konflikt steht, bertolt brecht, unrecht gewinne oft rechtscharakter einfach dadurch, daß es häufig vorkommt, friedell, die menschheit habe einen großen bedarf an personen, die unrecht als recht ausgeben. recht ist, zumindest in seinen wirkungen, meist das recht der privilegierten. benjamin stellte die frage: »Wie entsteht aus den Widersprüchen einer ökonomischen Situation ein ihr unangemessenes Bewußtsein?«, canetti: »Warum sind nicht mehr Menschen aus Trotz gut?« voltaire notierte: »Sowie man Gutes tun will, kann man sicher sein, Feinde zu finden.« brecht erklärte, der mensch sei gut, aber die verhältnisse erlaubten es nicht, doch auch, bevor sich die welt verändern könne, müsse sich erst der mensch ändern.

bontrup wies darauf hin, daß 2019 bereits 42% der abhängig beschäftigten in westdeutschland keinen tarifvertrag mehr hatten, in ostdeutschland sogar 53%. »In Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, gibt es heute sogenannte „Tafeln“ zur Armenspeisung.« über zwei millionen deutsche gehen dort hin. und die zahl steigt. die »Tafeln« sind widersprüchlich. der idealismus und einsatz der ehrenamtlichen helfer, die bedürftigen menschen helfen und die vernichtung von lebensmitteln verhindern, ist ehrenwert, ja vorbildlich, und verweist zugleich auf verkehrte verhältnisse. außerdem klingt der begriff zynisch. an tafeln saßen einst adlige und vermögende. das wort tafel wurde deutsch dem altfranzösischen la table reonde = tafelrunde des königs artus, wörtlich die runde tafel, entlehnt.

das wort »Prekariat« ist zusammengesetzt aus prekär und proletariat. prekär geht auf französisch précaire = prekär, labil, unsicher zurück, das basiert auf lateinisch precārius = bittweise erlangt, erbeten, erbettelt, aus gnade gewährt, siehe precātiō = bitte, gebet. das verteilen von almosen ist teil der machtausübung. früher nannte man das »Prekariat« »Lumpenproletariat«, »Subproletariat«, »Unterschicht«, »Der untere Rand« oder »Bodensatz der Gesellschaft«, alles begriffe der verachtung. franz kafkas lieblingswitz war laut klaus wagenbach dieser: »Nach einem Opernbesuch kommt eine feine Dame an einem Bettler vorbei. „Liebe Frau“, sagt er und hält ihr unterwürfig seine Mütze hin, „ich habe seit drei Tagen nichts gegessen.“ Die feine Dame bleibt stehen und betrachtet ihn voll Mitgefühl. „Junger  Mann,“ sagt sie. „Sie müssen sich zwingen.“« voltaire machte klar: »Jedes Land, in dem Betteln ein Beruf ist, wird schlecht regiert.«

verdienst der autoren dieses buches ist es, daß sie sonst eher ungern thematisierte zusammenhänge erklären, das themenfeld aus verschiedenen perspektiven betrachten, wobei ihre erkenntnisse oft einander ergänzen, und den inszenierten eindimensionalen und oberflächlichen öffentlichen meinungen, denen die mehrheit glauben soll und auch wirklich glaubt, interdisziplinäres denken entgegensetzen, wie joachim paul und gustav bergmann, das wir noch viel mehr brauchen, während technokraten, die den ganzen menschen nicht im blick haben und die sozialen und kulturellen folgen ihrer vorstellungen und taten vielfach entweder ausblenden oder als unvermeidlich abtut, einseitig spezialisierung für vorteilhaft halten.

zugleich müssen wir fragen, inwieweit der kapitalismus dem genetischen, sozialen und kulturellen erbe des, zumindest westlichen, menschen entspricht. nietzsche meinte: »Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter nichts.«, aber auch: »Unser Zeitalter, soviel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste: den Geist.«, canetti: »Der Zielbewußte auf seinem Weg empfindet das meiste, was seiner Erreichung nicht dient, als Ballast. Er wirft es von sich, um leichter zu sein, es kann ihn nicht kümmern, daß es vielleicht sein Bestes ist.« muß man den menschen, wie einst figuren in märchen und sagen, immer noch, oder wieder, zurufen: vergeßt das beste nicht? zumindest gebildetes glück braucht ideelle impulse und erfüllungen in der arbeit. die meisten würden auf die frage, weshalb und wofür sie arbeiten, freilich antworten: »Um Geld zu verdienen.«, und wären erstaunt, wenn man sie nach ihrem persönlichen ideal der arbeit fragt. die antwort wäre bei vielen wahrscheinlich: »Sowas brauche ich nicht.«, oder: »Sowas braucht man nicht.«

brödner weist in seinem beitrag »Das Produktivitätsparadoxon der Computertechnik« darauf hin, daß digitalisierung, die sich einer instrumentellen vernunft unterwerfe, vernünftigen menschlichen zielen wie gerechtigkeit, gleichheit der chancen, toleranz und bewahrung der natur häufig entgegenstehe, zumal wenn sie durch formelhafte begriffe, die manche für besonders rational halten, freies dialektisches denken, das immer auch das paradoxe analytisch einbezieht, schwächt oder gar abtötet. demirović schreibt: »Es bedarf, wofür schon Herbert Marcuse argumentiert hat, nicht der Konsumforschung von oben, sondern einer kritischen Neubestimmung der Bedürfnisse in demokratischen Bedürfnisdiskussionen, um festzulegen, wofür die Rohstoffe und die gesellschaftlich zur Verfügung stehende Gesamtarbeit anteilig jeweils genutzt werden. Weder Märkte noch zentralstaatliche Planung können dies leisten.«

technik greift immer weiter in die natur und ihre ressourcen ein. paul fragt nach einer globalen schicksalsgemeinschaft, die noch ziemlich unentwickelt ist. naturzerstörung, ungesunde lebensbedingungen, hunger, bildungsundkulturverachtung sowie diskriminierung von minderheiten und außenseitern haben ähnliche ursachen. wir bräuchten also zugleich eine ökologie der natur, der kultur, der bildung und des sozialen. insbesondere bereiche der gesellschaft wie gesundheit, ernährung, naturschutz und wohnraum gehören nicht unter die herrschaft des geldes und der technokratie. wenn kliniken für kapitalgewinn arbeiten, muß man sich fragen, welches menschenbild dem zugrunde liegt, jedenfalls kein menschenfreundliches.

die klimakatastrophe scheint beschlossene sache. es geht wohl künftig nur noch um die eindämmung der folgen, für jene, die es sich leisten können. cioran konstatierte: »Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie viel mehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selbst.«, kraus: »Die Technik feiert Pyrrhussiege über die Natur.«, voltaire: »Die Menschen diskutieren; die Natur handelt.« die naturzerstörung macht die zivilisation zweifelhaft. gegenwärtig findet das größte artensterben seit 70 millionen jahren, dem sauriersterben, statt. jeden tag sterben angenommen 150 tierundpflanzenarten aus, die der mensch meist noch nicht einmal kennt. die menschheit, die wirkungen eines einschlagenden asteroiden hat, ist zur größten naturkatastrophe auf erden geworden. wir haben bisher keine sprache der empathie dafür, schon gar keine öffentliche. jean paul sah: »Uns greift ein auf der Straße verwestes Vogelgerippe mehr an als eines, das auf dem Teller liegt.«

bergmann faßt zusammen: »Die große Endzerstörungsmaschine rast mit uns in die soziale und ökologische Katastrophe. Sehenden Auges ruiniert die Menschheit ihre Lebensgrundlagen. Die meisten Menschen handeln jedoch im Zwang der Verhältnisse, deshalb ist es auch sicher falsch, vom Anthropozän zu reden, es ist wohl eher ein Kapitalozän, ein durch Kapitalinteressen bestimmtes Zeitalter.« und peter sloterdijk setzt fort: »Die katastrophale Drift der globalen Prozesse macht es heute notwendig, über die Schaffung einer umfassenden Solidaritätseinheit nachzudenken, die stark genug wäre, um dem wehrlosen Ganzen als Immunsystem zu dienen ‒ jenem ungeschützten Ganzen, das wir die Natur, die Erde, die Atmosphäre, die Biosphäre, die Anthroposphäre nennen.« »Die aktuelle Weltlage ist offensichtlich dadurch bestimmt, daß sie für die Mitglieder der „Weltgesellschaft“ keine effiziente Ko-Immunität anbietet.« »Jedes Teilsystem sucht seinen Vorteil, das Ganze aber bleibt ungeschützt den Plünderungen der Kombattanten ausgesetzt.«

die größten irrtümer der gebildeten sind oft ihre hoffnungen. jean paul schrieb: »Verzweiflung ist der einzige echte Atheismus.«, benjamin: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns Hoffnung gegeben.«, dürrenmatt: »Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern.«, doch auch: »Es ist eine schwere Zeit, in der man so wenig für die Welt zu tun vermag, aber dieses Wenige sollen wir wenigstens tun: das Eigene.« sowie: »Das Zukünftige ist immer utopisch.« letzteres antwortet friedells satz »Die Welt ist immer von gestern.«, der sich auf stefan zweigs buch »Die Welt von gestern« bezieht, das die welt vor dem ersten weltkrieg beschreibt.

bergmann postuliert, das wort postulieren ist mit forschen und fragen verwandt, in seinem beitrag »Schöne neue Arbeitswelt durch Digitalisierung? / Ein Versuch zu Agilität, Digitalität und Muße: »Muße erscheint als eine Möglichkeit, den Sinn des Lebens zu entdecken, sich zu besinnen und am sozialen Leben aktiv teilnehmen zu können. Menschen in Muße finden zu sich und zu den anderen. Sie sind liebenswürdiger und kreativer. Langsamkeit intensiviert die Erfahrung, sinnliche Erlebnisse und Kleinigkeiten werden sichtbar.« das eigene freie selbst wird aktiviert und kein manipuliertes ich. »Eine Kultur der Befähigung, Ermunterung und Zusammenarbeit führt zu einer sinnvollen, syntropischen Arbeit, die wirklichen Wohlstand für alle schafft.« »Also schauen, wer sich wie in eine Gemeinschaft einbringt und welche kognitiven, musischen, emotionalen, erfindungsreichen Beiträge jemand leistet.« in der muße lebt und schafft man ohne uhr. friedell notierte, selig seien die stunden der untätigkeit, denn in ihnen arbeite die seele.

doch muße ist unverändert ein privileg und kein recht. kracauer wandte skeptisch ein, die vorstellung, nach der die nachteile der mechanisierung mit hilfe geistiger, das heißt ideeller, inhalte zu beseitigen seien, die wie medikamente eingeflößt werden, wäre selber noch ein ausdruck der verdinglichung, gegen deren wirkung sie sich richtet. sie werde von der auffassung getragen, daß die gehalte fertige gegebenheiten darstellten, die sich ins haus liefern ließen wie waren.

wie kann beschleunigung vertiefung schaffen? bergmann findet zweifelhaft, daß man »kreative Gestaltungsprozesse beschleunigen« könne. »Der weise Häuptling sagt dazu: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Kreativität entsteht eher beim Flanieren und Vagabundieren, beim Abduzieren, also beim Abschweifen, und durch Zufallsfunde, die sogenannte Serendipität.« das ist ein utopischer anspruch. dürrenmatt wußte: »Der Wissende weiß, daß er glauben muß.«

der begriff »moderner Kapitalismus« im buchtitel geht über die postmoderne hinaus und meint einen neuen kapitalismus. man könnte fragen, ob die verhältnisse und verhaltensweisen, die von den autoren als erstrebenswert beschrieben werden, überhaupt noch kapitalistisch sind. einige haben einen demokratischen sozialismus vor augen. gleichviel, namen sind nicht entscheidend. die verhältnisse müssen sich ändern, und die menschen. denn ohne veränderung gibt es keine entwicklung. und wer verändern will, muß listig sein und geduld haben. benjamin sah: »Das kommende Erwachen steht wie ein Holzpferd der Griechen im Troja des Traums.« bei dürrenmatt sagt der urmensch adam in »Porträt eines Planeten«: »Jeder wahre Fortschritt dauert Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende. Lesen Sie Bachofen, lesen Sie Freud.«

 

 

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Digitalisierung und Technik – Fortschritt oder Fluch? Perspektiven der Produktivkraftentwicklung im modernen Kapitalismus. Heinz-J. Bontrup / Jürgen Daub (Hg.) Paperback, 321 Seiten. PapyRossa Verlag, 2020

Weiterführend 

Der Essay „Eine Krise unserer Rationalität?“ befindet sich auf der Seite des Medienpartners vordenker.

 Lesen Sie auch einen Zwischenruf aus dem Maschinenkeller der Digitalisierung von Joachim Paul. A.J. Weigonis Cyberspasz, a real virtuality spiegelt die entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Der ´virtual reality` zieht Weigoni in diesen Novellen die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.