le mot, das Wort

 

Das Nachwort empfiehlt, den vorliegenden Gedichtzyklus noch einmal, dann aber von hinten nach vorne, auch sprunghaft, zu lesen. Damit folgt die Lektüre einer Grundfigur, die vielen dieser Gedichte einbeschrieben ist. Das gilt zuallererst für das letzte Gedicht, das den Untertitel Rondo trägt und dessen Haupttitel El reexilio heißt, frei übersetzt Erneut im Exil. Die in den beiden Titeln enthaltene Figur des Kreises bzw. der Wiederkehr bezieht sich gleichermaßen auf den Kontext des Zyklus wie auf den ihnen zugeordneten Text. Es ist ein ständiges Kreisen um die Themen Exil, Flucht und Zuflucht, Ortswechsel, Fremde, Verlust und Suche nach dem Eigenen, nach Ursprung und Ende, Gezeitenwechsel, ein bewegtes Dazwischen, im Medium des Meeres und der Sprachen, ganz nahe am Ufer der Stille. Des Dunkels auch. Des scheuen Verschweigens eines geahnten, aber nicht bekannten Geheimnisses. Auch des unsagbaren historischen Grauens. Im Zwiegespräch mit einem inneren Du werden Erinnerungen geweckt an Ingeborg Bachmanns und Paul Celans „Wir sagen uns Dunkles”:  „von Fremdland zu Fremdland // zog dich die Ebbe […] das Selbstgespräch // als wir / du und ich // Verdunkelung probten” (na &).

Das ‚Eigene’ des den Zyklus schließenden Rundgedichts El reexilio besteht in der Art und Weise, wie die Fremdheit zwei- und zwiesprachig gebannt wird. Thematisch soll das Fremde zunächst überwunden werden durch die Rückkehr in die Geburtsstadt: „en tu ciudad natal”. Doch die entpuppt sich ihrerseits als Fremde, als Exil, also erneutes Exil – „reexilio”. Die Wege dort erscheinen namenlos und befremdend: „Straßen ohne Namen […] extraño tu paseo”. Die gesuchte „Wiege stand da nicht”. Denn die Wiege wurde einst ausgesetzt im Meer, auf der Flucht aus dem Grauen, ins ultra-marine Exil. Wie die Wiege „im Schlepptau” eines Exodus-Dampfers den Ozean kreuzte, vom Haken schlagenden Kreuz zum Kreuz des Südens trieb (betroffen), so ruft das erneute Exil nun der Geburtsstadt nur neue Fragen  auf – „erneut Fragen im Schlepptau”. Somit öffnet sich der im Schlußvers scheinbar sich schließende Kreis des Gedichts und des Zyklus zu einer weiteren Suche im Sprachen- und „Stimmenmeer” (Flucht).

Eine besondere Eigenart des Gedichts ist seine textmusikalische Komposition. Während die musikalische und lyrische Rondo-Form nur in einem eher lockeren Sinne gehandhabt wird, sticht eine andere textmusikalische Form markant hervor: die fugale und kontrapunktische Motette[1], ein polyphoner Gesang mittelalterlichen und kirchlichen Ursprungs, der sich sehr bald auf den weltlichen Bereich ausdehnte. Die Motette gab es auch mehrsprachig, wobei die einzelnen Sprach-Sequenzen fugal versetzt miteinander dialogierten, z. B. als lateinisch-französischer Kontrapunkt, wie dies schon anklingt in dem Binom motetus-mot[2]. Ganz ähnlich ist El reexilio aufgebaut. Es weist eine durchgehende Abfolge von deutschen und spanischen Versen auf, wobei die spanischen Verse kursiv als Fremdsprache markiert sind, bevor die Leser/innen gewahr werden, daß beide Sprachen sich wechselweise fremd und vertraut sind. Das Gedicht täuscht zunächst eine interlineare Übersetzung[3] vor, erweist sich aber sehr schnell als ein durchkomponierter Wechselgesang, ein integriertes Gespräch der Sprachen, in dem das bilinguale Ich mit sich selbst und seinen Fremd- und Muttersprachen Zwiesprache hält, und zwar auf klanglicher, syntaktischer und semantischer Ebene. Gemäß dem Genre der Motette bilden die deutschen und die spanischen Sequenzen für sich gelesen einen eigenen Sinn und außerdem, indem sie sich zwischensprachlich ergänzen, einen spanisch-deutschen Gesamtsinn. Das Gesagte sei in geraffter Form vor Augen geführt[4]:

dir ward der Ort zur Fremde

aunque la lleves dentro

verblasste Sprache

tu lengua materna

die Urlaute verrät

la pronuncias con temor

[…]

extraño tu paseo

die Wiege stand da nicht

en tu ciudad natal

erneut Fragen im Schlepptau

Mit dem Geburtsort wird auch die Muttersprache als Ursprung und Wiege des Ich gesucht, aber nur als eine ihm fremde gefunden. Letztendlich wird die gemeinsame Fremdheit von Fremd- und Muttersprache zu einer ausgewogenen – indes labilen – Vertrautheit. So wie das Findel in dem gleichnamigen Gedicht, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben, „das Gleichgewicht zwischen den Lauten“ sucht. Anders gesagt: Das Leben wiegt schwer – die Dichtung wiegt es leicht. Im Sprachenmeer.

Der kontrapunktische Wechselgesang des zweisprachigen Gedichts könnte durchaus auch einer der Masken des lyrischen Ich auf der ozeanischen Bühne des Welttheaters zugeschrieben werden[5], am ehesten der Meerjungfrau (den lille Havfru) oder dem Meer selbst (schau mal mira[6]): „jene dichterische Sprache formen  / esa lengua poeta // die das Meer auswirft / que el mar vierte”.

Das Ureigene der modernen Motette wäre folglich eine fugale und polyphone Meer- und Mehrsprachigkeit, die im dichterischen Sprachwechsel und Wechselgesang ein flüchtiges „Stück” Heimat finden läßt (Stück-//werk).

 

 

 

 

 

Weiterführend  Eine Einführung in das Werk von Ines Hagemeyer.

Bewohnte Stille, Gedichte von Ines Hagemeyer. Pop, Ludwigsburg 2007. Lesen Sie hierzu Alfons Knauth Nachwort zu Ines Hagemeyers Gedichtband.

 Fragen im Schlepptau, Gedichte von Ines Hagemeyer. Ludwigsburg: Pop Verlag 2021. Lesen Sie hierzu Kein Ankerplatz, nirgendwo.

 handverlesen: Gedichte von Ines Hagemeyer. Mit 15 Tuschezeichnungen von PAPI. POP-Verlag, Ludwigsburg 2015 – Lesen Sie hierzu ÜBER SCHATTEN UND NEBEL.

 aus dem Gefährt das dir Träume auflädt, Gedichte von Ines Hagemeyer, mit 14 Tusche-Zeichnungen von PAPI. POP-Verlag, Ludwigsburg 2011 – Lesen Sie hierzu Über den Welten.

 

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[1] Das Wort Motette ist abgeleitet vom lateinischen Wort motetus (kleines Wort) im Einklang mit dem französischen Wort le mot (das Wort).

[2] Vgl. Marc Honegger, Dictionnaire de la musique. Science de la musique. 2 Bde. Paris: Bordas 1976. Vol. L-Z. Art. “Motet”, S. 630-631.

[3] So ist der gesamte Dichtungsring 26 (1996) als Interlinear-Version eines spanischen Originals und einer deutschen Übersetzung konzipiert, und zwar in der Art eines Boustrophedon mit einem Wechsel linksbündiger spanischer und rechtsbündiger deutscher Verse (Enrique Gómez-Correa: Las cosas al parecer perdidas / Die verloren geglaubten Sachen, Hrsg. A. Knauth). Ines Hagemeyer hat einen ganzen Unterzyklus des surrealistischen Gedichtbandes kongenial übersetzt: “Cinco poemas secretos – Fünf geheime Gedichte“ (S.107-124).

[4] Der Gesamttext mit Übersetzung der spanischen Passagen ins Deutsche (unter Beibehaltung des Kursivdrucks) lautet: dir ward der Ort zur Fremde / obwohl du sie in dir trägst / verblasste Sprache / deine Muttersprache / die Urlaute verrät / du sprichst sie angsterfüllt / verstört schaust du vorbei / unbewegt blickst du / auf Straßen ohne Namen / du kannst es einfach nicht glauben / mit aufgesetztem Glanz / fremd und seltsam dein Gang / die Wiege stand da nicht / in deiner Geburtsstadt / erneut Fragen im Schlepptau.

[5] Zum dichterischen Maskenspiel siehe insbesondere die Gedichte Expedition, betroffen, Fragment, Commedia, den lille Havru.

[6] Das meer- und sprachenspiegelnde Gedicht schau mal mira steht in Ines Hagemeyers Gedichtband Bewohnte Stille (2007), S.78.