Nach spektakulärem Hype und raschem Verglühen der 1990er-Jahre-Popliteratur in Deutschland hat sich die Kulturwissenschaft dieses Phänomens überraschend schnell bemächtigt. Seriöse und auch weniger seriöse Betrachtungen haben versucht, Popliteratur als Genre zu verstehen, bzw. diesen Begriff überhaupt erst einmal zu etablieren. Dazu war es nötig, die Traditionen zu begreifen und nachzuvollziehen. So kam man zwangsläufig auf Rolf Dieter Brinkmann, jenen früh verstorbenen Lyriker, der als Erster den deutschen Literaturbetrieb kulturell zu subvertieren suchte.
Von „Popliteratur“ sprach in den Neunzehnhundertsechziger Jahren – mit Ausnahme Leslie A. Fiedlers, der auf etwas ganz anderes damit abzielte – allerdings niemand. Rolf Dieter Brinkmann und sein Kölner Kreis, insbesondere Ralf Rainer Rygulla und Rolf Eckart John, waren stattdessen maßgeblich von jener widerständigen „Sub-Literatur“ beeinflusst, die sich in den USA zeitgleich im Umfeld unabhängiger Verlage und Zeitschriften ausbreitete. Brinkmann, John und Rygulla schleusten mit diversen Anthologien und Einzelpublikationen den US-Underground in den literarischen Diskurs Deutschlands ein. Vor allen anderen ist hier natürlich die Anthologie ACID zu nennen , die 1969 von Brinkmann und Rygulla herausgegeben wurde und „mit einer Startauflage von 20.000 Exemplaren und mehreren weiteren Auflagen rasch zum wichtigsten Dokument der literarischen Subkultur der späten sechziger Jahre wurde“. Dieses Buch strotzt vor provokativen Texten und Zeichnungen, vor teilweise offen pornographischen Inhalten.
Brinkmann selbst war entgegen seinen oft vulgären Attacken auf das Establishment, dennoch immer, zumindest bis zum „Maschinengewehr“-Eklat, Teil des Overgrounds, veröffentlichte alle seine größeren Gedichtbände ebenso wie den Roman „Keiner weiß mehr“ im renommierten Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Doch auch im Deutschland jener Jahre explodierte die Szene unabhängiger Editionen: Selbst verfertigte Little-Mag’s, mehr oder weniger seriöse Literatur-Fanzines ebenso wie Heftchen mit allgemein kulturellem oder politisch-satirischem Inhalt schossen aus dem Boden.
Ein literarisches Zentrum des deutschen Untergrunds war das Rhein-Main-Gebiet, wo die einflussreichsten Verlagshäuser für die rebellische Literatur der Umbruchzeit residierten. Der wichtigste unabhängige Verlag der damaligen Zeit, der auch die ACID-Anthologie herausgab, war der Darmstädter März-Verlag. Er war, als Gründung des begabten Impresarios Jörg Schröder (geb. 1938) , 1969 durch eine „Sezession“ aus dem Melzer Verlag hervorgegangen, dessen Geschäftsführer Schröder von 1965 an gewesen war. Schröder hatte das Programm des Melzer Verlags durch die verstärkte Berücksichtigung von Untergrundliteratur so sehr umgekrempelt, dass der Verleger Joseph Melzer die Reißleine zog und ihn entließ.
Schröder gründete nun seinen eigenen kulturrevolutionären Verlag, der mit unverwechselbaren Covers, „MÄRZ“ in den signalroten Lettern einer Plakatschrift auf knallgelbem Grund gedruckt , in den Endsechziger bis Mittsiebziger Jahren geradezu omnipräsent war.
Pikanterweise finanzierte Schröder dieses Unternehmen weitgehend mit Geldern eines Parallelverlags, der Olympia Press, der sich auf (mehr oder weniger) literarische Pornographie spezialisiert hatte. Im März Verlag erschienen Pop-Autoren der damaligen Zeit, neben Brinkmann und Rygulla etwa Peter O. Chotjewitz oder Bernward Vesper, aber auch überaus erfolgreiche Sachbücher zu Themen wie Sexualität, Drogen, emanzipatorischer Pädagogik, bis zum Konkurs 1974 brachte es der März Verlag mitunter auf siebenstellige Umsatzzahlen.
In Frankfurt lebten aber auch die wichtigsten Autoren des deutschen Untergrunds, Jürgen Ploog (geb. 1935), Paul Gerhard, ab 1969 nach Übertritt zum Islam: Hadayatullah Hübsch (1946-2011) und Jörg Fauser (1944-1987), die über direkte Kontakte zu späteren Generationen Bezugspunkte und Zeugen des literarischen Aufbruchs dieser frühen Jahre wurden. Auch der wichtigste Übersetzer amerikanischer Undergroundliteratur Carl Weissner (geb. 1940) stammte aus Frankfurt, er war 1966 für zwei Jahre mit einem Fulbright-Stipendium nach New York gegangen, wo er engen Kontakt zur Beat- und Undergroundszene unterhielt, er übersetzte William S. Burroughs, Nelson Algren und Charles Bukowski, insbesondere Letzterer gewann in den Siebziger Jahren eine enorme Popularität in Deutschland. Doch auch andere Beat-Poets, Mary Beach, Claude Pelieu, Charles Plymell, Allen Ginsberg und Harold Norse, wurden von Weissner übertragen, dazu Bücher von Andy Warhol und J. G. Ballard.
Man kann ohne Umschweife sagen, dass Weissner der wichtigste Brückenkopf US-amerikanischer Gegenliteratur in Deutschland war, mehr als Brinkmann, zumal er diese Funktion noch bis vor kurzem ausübte (er verstarb am 24. Januar 2012). Weissner hatte inzwischen zum Beispiel auch sämtliche Songtexte Bob Dylans und Frank Zappas ins Deutsche übertragen.
Gemeinsam mit Jörg Fauser und Jürgen Ploog rief Weissner die legendäre Untergrundliteraturzeitschrift Gasolin 23 ins Leben , von der 1973 bis 1986 acht Ausgaben erschienen , die sich explizit als Sprachrohr für ein ZITAT „unabhängiges, nicht zensiertes Schreiben“ sah, und das meinte: Beat- und Cut-Up-Literatur. Ab der zweiten Ausgabe zeichneten für Gasolin 23 Ploog und Walter Hartmann verantwortlich, unter Mitarbeit von Weissner und Fauser. Die Zeitschrift enthielt Texte ihrer Herausgeber und der amerikanischen Vorbilder Bukowski, Burroughs, Neal Cassady, Ginsberg, Brion Gysin, Jack Kerouac, Norse, Plymell, aber auch junge deutsche Autoren veröffentlichten hier, teils eher epigonaler Provenienz, teils solche, die wie Michael Buselmeier, Helmut Eisendle, Bodo Morshäuser oder Wolfgang Welt hier erste literarische Gehversuche unternahmen und inzwischen für ganz andere Konzeptionen stehen.
Ploog, Fauser und auch Hübsch rezipierten also unmittelbar die Literatur der US-amerikanischen Beat-Generation, so dass die Traditionslinie, die hier verhandelt wird, im Grunde sogar noch bis in die Fünfziger Jahre hinein rückzubeziehen ist. So wie Hübsch deutlich beeinflusst war von Allen Ginsberg, so waren es Jürgen Ploog und Jörg Fauser in seiner Anfangszeit von William S. Burroughs und seinem Cut-Up-Verfahren.
Ploog , der sich als Langstreckenkapitän der Lufthansa häufig in New York aufhielt, war mit Burroughs gut befreundet. Er veröffentlichte 1969 im Melzer Verlag denn auch das erste deutsche Cut-Up-Buch Cola-Hinterland , das heute nur noch antiquarisch erhältlich ist und als die erste, originäre Einzelpublikation des deutschen Literaturuntergrunds gelten kann.
Das Buch ist mit Illustrationen versehen, ähnlich wie Rolf Dieter Brinkmanns Essays, Versatzstücke, alte oder verfremdete Fotos (etwa von Mata Hari) tauchen ebenso auf wie Nacktbilder aktueller Grazien. Der Text selbst spart nicht mit sexuellen Konnotationen und Kraftausdrücken, sie stellen vielmehr eine prägnante Spur im stark geschnittenen Sprachstrom dar („Ich bin in Cuntsville in ihr Kommunikations-System geraten// atomare Fotzen-Medien“ ). Es sind dies die zeittypischen Provokationen, bewusst dem bürgerlichen Literaturbetrieb entgegengeworfen, im prüden Deutschland der Sechziger Jahre war das die effektivste, daher bevorzugte Angriffsfläche, sexistische Tendenzen sind dennoch unübersehbar („im Inneren des Planeten Orte trocken-heiß wie eine beschnittene Vulva mit dem Gefühl als seien Hoden explodiert“ / „mittags in Antipolis ekstatische Ehemänner an überdimensionalen Fotzen…“ ).
Michel Foucault hat solche Ansätze 1976 ebenso treffend charakterisiert wie kritisiert: Wenn Sex als Faktum verschwiegen werde, quasi mit einem Tabu belegt sei, „so hat die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen, etwas von einer entschlossenen Überschreitung. Wer diese Sprache spricht, entzieht sich bis zu einem gewissen Punkt der Macht, er kehrt das Gesetz um und antizipiert ein kleines Stück der künftigen Freiheit.“
Dies markiert recht eindeutig die strategischen Absichten der sexuell aufgeladenen Texte Ploogs (und vieler anderer Autoren der Endsechziger, Anfang Siebziger Jahre), die Grenzen dieser Strategie zeichnen sich hingegen ebenso klar ab – wenn nämlich die Gesellschaft das Tabu als solches aufhebt, verlieren die subversiven Reden von einst postwendend ihre Sprengkraft. Wie bei Cut-Ups üblich, ist der Text überaus sprunghaft, eruptiv, mit sprachlichen Bildern in Serie geschaltet, einem Experimentalfilm gleich:
schraffierte Vorstellungen menschlicher Wirklichkeit in schwankender Musik des sphärischen WIEDER: verloren unbekannt erschlagen überm Oxford Circus damals in anonymer Kif-Atmosphäre aus Gehirn-Zellen vegetativer Fauna gefärbten Nachrichten & undurchschaubaren Dimensionen
Die Schnitte sind auch orthografisch gekennzeichnet, Spiegel und Gedankenstriche, im späteren Verlauf treten (die von Louis Ferdinand Céline bekannten) drei Punkte als Endmarker der jeweiligen Cuts in Erscheinung, sie wirken dann noch atem- und rastloser, sind häufig tatsächlich nur mehr Bruchstücke von Sätzen („Fieber-Kif-Fêten in der Hitze… Mädchen für die Deutschen… Veränderung der Planeten… Mafia der Erde…“ ).
Einer linearen Lektüre entzieht sich dieser Text, aber das ist gerade die Intention der Cut-Up-Methode , will sie doch – als spezifischer Abkömmling der surrealistischen écriture automatique – unterbewusste Inhalte auf diese Weise ans Licht bringen.
Auch deshalb wahrscheinlich präsentiert Ploog hier so ausgiebig sexuelle Inhalte, da diese nach Freud als verdrängt galten, sein Cut-Up-Text entspricht insofern einer Theorie der sexuellen Revolution im Gefolge Wilhelm Reichs, der bekanntlich gerade für William S. Burroughs’ Auffassungen eine zentrale Rolle spielte. Ploog ist seinem Cut-Up-Stil bis heute treu geblieben, praktiziert ihn in fortgeschrittenem Alter – nicht ohne „Western-Romantik“, auch abzüglich der schwerpunktmäßig sexuellen Ausrichtung – als eine Art Partisanenschreibweise am Rande eines Literaturbetriebs, der immer stromlinienförmiger und mainstreamhafter wird. Mittlerweile hat er über zwanzig Bücher veröffentlicht, vornehmlich in kleineren und/oder alternativen, oft nur kurzlebigen Verlagen.
Etwas mehr Aufmerksamkeit hat inzwischen Jörg Fauser auf sich gezogen. Schon zu Lebzeiten war er mit seinen späten Büchern, einer Marlon-Brando-Biografie sowie den Kriminalromanen Der Schneemann (1984) und Das Schlangenmaul (1985), die teilweise sogar verfilmt wurden, bei einem größeren Publikum erfolgreich gewesen, galt aber eben weitgehend als Krimiautor. Inzwischen wurden aber zwei Gesamtausgaben seiner Werke realisiert.
In seinen Anfängen hatte auch Fauser sich unter Einfluss William S. Burroughs’ an Cut-Ups versucht, speziell in seinen Debütbänden Aqualunge und Tophane . Und es war nicht nur ein literarischer Einfluss, den Burroughs ausübte, sondern ebenso sein Lebenswandel, die Existenz mit der Droge, färbte auf Fauser ab. Wie Burroughs, der lange Jahre in Tanger verbrachte, zog es auch Fauser in den Orient, zumindest an die Schwelle dorthin, nämlich nach Istanbul, wo er – schwer heroinsüchtig – ein Jahr verbrachte.
Tophane, so auch der Name des Istanbuler Stadtteils, in dem Fauser wohnte, erschien 1972 im Maro Verlag. Auch diese damals im bayrisch-ländlichen Gersthofen, später in Augsburg angesiedelte, kleine Edition, entwickelte sich in den Siebziger Jahren zu einem wichtigen Alternativverlag, feierte insbesondere mit der deutschen Erstveröffentlichung zahlreicher Titel Charles Bukowskis große Verkaufserfolge.
Fausers Buch verbirgt sein zentrales Thema nicht lange, gleich auf der ersten Seite von Tophane wird sehr wirklichkeitsnah und detailgetreu geschildert, wie sich jemand auf der Toilette des Frankfurter Club Voltaire – einer Lokalität, die noch heute existiert – eine Spritze setzt. Fausers Cut-ups, das merkt man von Beginn an, sind „welthaltiger“ als die Ploogs oder Burroughs’, die realistische Schreibweise, die Fauser in seinen späteren Büchern bevorzugte, deutet sich hier trotz aller Schnitttechnik unmissverständlich an:
Auf der Rolltreppe erbrach ich mich – kotzte einem Computergesicht den Gabardine voll und der wollte die Schmiere holen und wieder mußte ich wetzen
Drogenjargon und Gossensprache erhöhen den Authentizitätscharakter seines Textes, der neben Schlaglichtern auf Suchtszenarien auch Dialogpassagen enthält, welche die Spießerwelt – quasi naturalistisch – in ihrer eigenen, stereotypen Sprache dekuvrieren:
„`Erinnerse sich noch an damals das Mädel vom Bethanienkrankenhaus – die blonde Schwester dies nicht lassen konnte – son flottes Mädel – tat mir direkt leid – aber Dienst bleibt Dienst und Schnaps´“.
Im weiteren Verlauf berichtet der Autor, wie er durch Bulgarien schließlich in die Türkei gelangt, der ursprüngliche Cut-Up-Stil wandelt sich allmählich zu einer kohärenteren Montagetechnik, die auch experimenteller Literatur anderer Provenienz entstammen könnte, etwa der historischen Avantgarde, bestimmten Sprachspielen der Wiener Gruppe oder der französischen Oulipo-Gruppe, ohne deren konstruktivistischen Unterton allerdings, denn Fauser erlebte tatsächlich, was er hier beschrieb, und seien es auch Visionen im Drogenrausch:
Luft. Regen. Fächer. Blätter. Stille. Sand zwischen Fingern. Sie starren mich an. Die blauen Gesichter. Nüstern voller Rauch. Schwärme durch mein Blut. Jukebox plärrt: COME TOGETHER. Rauch kriecht über mich. Gelächter. Am Boden: SCHAFF MICH SCHAFF MICH SCHAFF MICH. Mein Haar gefesselt. Disteln unter mir. Glotzende Fischaugen. Licht. Kaltes Metall. COME TOGETHER. Yeah, Yeah. Ich krieche. In mich hinein. Zum einen Wunden. Allen Worten. Alles endet auf Angst. Angst Angst. Krank krank krank. Der Fluß wirft Blut über den Sand. Jemand vergaß mich zu töten.
Das Kriterium der Bindung an subkulturelle, teils auch revolutionäre Milieus, das sich insbesondere durch Slangbegriffe, gewissermaßen milieubedingte „Fachsprachen“ einstellt, zeigt sich sehr stark in einem Gedicht des Bandes Die Harry-Gelb-Story , erschienen 1973, ein Jahr nach Tophane. –
Dieser Text thematisiert ein Vielzahl von Anspielungen auf die damalige „Szene“, etwa die berühmtberüchtigte K1 (Kommune 1), landesweit bekannt geworden durch ein Coverfoto der auflagenstarken Illustrierten Stern, auf dem die Kommunarden nackt vor einer Wand posierten. Hier lebten Rainer Langhans und Uschi Obermaier, frequentiert wurde die K1 auch von Paul Gerhard Hübsch und Jörg Fauser, der dort allerdings, wie Hübsch zu berichteten wusste , vornehmlich Drogen nahm und nach einigen Wochen verschwand. Ebenfalls Erwähnung findet eine andere berühmte Gestalt der 68er-Zeit, Dieter Kunzelmann, und es werden Film- und Musikreferenzen eingebaut, („Der Schatz der Sierra Madre“; Lou Reed und das Velvet-Underground-Stück „Run, run, run“ von der legendären ersten LP dieser New Yorker Band, die sich fast ausschließlich mit Heroinsucht beschäftigt). Zudem wird Drogen- und Szenensprache verwendet: „Die RD[Rauschgiftdezernat]-Streife checkt ihre Kundschaft“, „Bonnies Ranch“ (gemeint ist die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin-Reinickendorf), „zuletzt kein Horse [=Heroin] mehr“.
Ähnlich wie Tophane beschreibt Fausers Gedicht in überaus komprimierter Form die alptraumhafte Entwicklung von Sucht und Entzug und vermittelt zugleich viel Zeitpanorama, die Atmosphäre der damals „angesagtesten“ Szenerien Deutschlands.
Wie in diesem Poem jedoch war Fauser nie wirklich Teil dieser Hip-Zirkel, eher außenstehender Beobachter. Später, als er sich vom Heroin befreit hatte, dafür zu einem gewissen Maße den Alkohol eintauschte, wechselte er das Milieu, jobbte am Frankfurter Flughafen und besuchte die subproletarischen Kneipen Frankfurts; auch sein Schreiben passte sich, unter spürbarem Einfluss Charles Bukowskis (bei gleichzeitig schwindendem Einfluss Burroughs’), den geänderten Wahrnehmungsbedingungen an, wurde sowohl in seinen Erzählungen wie in seinen Reportagen strikt realistisch. Ebenso in seinem Roman Rohstoff (1984), vielleicht seinem wichtigsten Buch überhaupt, bleibt die Darstellung auf Tuchfühlung mit der Wirklichkeit, stark autobiografisch zeichnet Fauser hier seine Entwicklung zum Schriftsteller nach.
Ausgehend von seiner Istanbuler Zeit bis in die Siebziger Jahre hinein beschreibt er dabei en passant die Mutation der Post-68er-, Post-Flower-Power-Community zu einem leistungsstarken Marktteilnehmer. Gerade aus Distanz als reflektierender Außenseiter gelingt Fauser eine getreue Skizze der damaligen Subkultur, die sich anschickte, auf dem Marsch durch die Instanzen zur „Gewinnerkultur“ zu werden. Den Untergrund-Touch behält und kultiviert der Roman aber gerade deshalb, als (immer noch) Anti-These zur vormaligen, inzwischen längst integrierten gesellschaftlichen Anti-These.
Auch der vor Kurzem verstorbene Hadayatullah Hübsch war bis zu seinem Tod eine Ikone subliterarischer Ästhetik und Kontrapunkt zum Betrieb. Obwohl er über einhundert Bücher veröffentlichte, Lyrik, Prosa, ebenso wie zahlreiche Sachtexte zum Islam, besaß er seine eigentliche Bedeutung als Bühnenautor, als spiritus rector aller Spoken-Word-Aktivitäten in Deutschland.
Schon 1967 startete er mit dem Autor und Zeitschriftenherausgeber Hansjürgen Bulkowski eine denkwürdige Tour unter dem Titel „Beat & Lyrik“, die in mehreren Städten Nordrhein-Westfalens gastierte. In der Forschung ist diese frühe Live-Literatur-Show, die Verse mit Beatmusik einer Band namens Free-Group kombinierte, nahezu unbekannt SOUNDBEISPIEL; der Bestand Pop am Rhein im Rheinischen Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts birgt zahlreiche Materialien, mittels derer diese Pop-Aktion sehr gut dokumentiert ist, unter anderem ein ungewöhnlich detailreicher WDR-Fernsehbeitrag sowie Klangmitschnitte, die die Gruppe selbst realisiert hatte.
Hübsch veröffentlichte seinen ersten Gedichtband mach was du willst 1969 im renommierten Luchterhand Verlag (damals auch der Verlag Günther Grass’). Später jedoch erschienen die meisten seiner vielen, oft sehr schmalen Veröffentlichungen in eher kleineren Verlagen. mach was du willst ist ein formal sehr heterogenes Buch, als roter Faden lässt sich die Begeisterung für die neue Aufbruchsbewegung erkennen, verbunden mit dem Kampf gegen das System der Väter und das Spießertum der miefigen bundesdeutschen Gesellschaft der Sechziger Jahre, gleich das Auftaktgedicht beschwört Revolte und Ausbruch: „es ist soweit, komm pack die siebensachen / und spuck den paukern auf den kopf […] ich lasse mich mit freuden ein- / lullen vom asfalt-gestank und den lang- / mähnigen frauen, die ich so antreffe“.
Der Tonfall der Gedichte ist bewusst anti-seriös, sie schrecken nicht vor Kalauern und Spielereien zurück, wie etwa das Gedicht beweissführung zur rettung des COMIC-STRIPS zeigt: „beweisführe die / meyne fürtröffliche genasführung / blubbte (plab, blap) mynnig sengär- / leyn zu reymen / auf gehodelte spene: scheme / DICH: ach DU meyne göte“.
Das karikiert phonetisch eine besonders vornehme Intonation des Deutschen („fürtröffliche genasführung“, „ach DU meyne göte“). Im letzten Textteil werden dann einige Comic-Titel aufgeführt („BARBARELLA“ , „föbe ßeitgeißt“ , „ficks&phocksi“ ), wobei der letzte, Fix & Foxi, sich als eher harmloses, deutsches Disney-Äquivalent deutlich von den beiden anderen, sexuell drastischen Titeln absetzt. Die Stoßrichtung dieses Gedichts wird sehr klar, wenn man sich ein Zitat des damals sehr einflussreichen Literaturchefs der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, Fritz J. Raddatz vor Augen hält, er schrieb 1968: „Die neuen Heldinnen der westlichen Welt — Barbarella, Jodelle, Phoebe Zeit-Geist — sind Dienerinnen eines modischen snob appeal; entlaufene Vestalinnen, die ursprünglich einem dienen sollten: dem lesenden Analphabeten.“
Das Widerstandsmotiv gegen die Wohlanständigkeitsgesellschaft, ihre Gesetze, Rituale und Diskurskonventionen, zieht sich denn auch durch Hübschs gesamtes literarisches Werk. Noch 1998 in seinem Gedichtband Macht den Weg frei schreibt er, damals also schon 54-jährig, aus der Perspektive der Gegenkultur, nun einer ganz anderen Generation, der Punks und Hausbesetzer der Neunziger Jahre:
Die Wegwerfschlacht in der Pank-Straße zu Berlin
Die Punks in Kiel wollten es ja nicht glauben, als
Ich ihnen erzählte, dass es in Berlin
Eine Pank-Straße gibt und außerdem
Eine Untergrundstation namens Pank,
Aber dann sind wir doch losgedüst, in einem wackeligen
VW-Golf oder so ähnlich […]
Schließlich erreichten wir das besetzte Haus,
Zuerst wollte uns keiner reinlassen,
Es war alles verbarrikadiert,
Wir trommelten uns die Fäuste wund,
Endlich erschein einer mitm Mondgesicht am Fenster
Des obersten Stocks und schrie,
Verpißt euch,
Wir schrien zurück,
Wir sind doch die Punks aus Kiel.
Der Typ brüllte zurück.
Ich kenn euch, alles nur Tarnung, Ihr seid Bullen,
Erst als wir geschlossen im Chor
Anarchy in You-Key sangen,
Glaubte man uns und erklärte nach dem ersten Six-Pack,
Daß sie aus sicherer Quelle wüßten,
Daß heut nacht die Erstürmung ihrer Heimstatt fällig sein würde.
Die Befürchtung bewahrheitet sich und es entspinnt sich eine grotesk anmutende Schlacht zwischen Polizei und Hausbesetzern, bei der Letztere die gesamte Hauseinrichtung als Munition gegen die Angreifer nutzen und auf die Straße werfen.
Die Autoren, die hier verhandelt wurden, sind – vielleicht mit Ausnahme Fausers – bis heute nicht vom Literaturbetrieb anerkannt worden, Szeneberühmtheiten waren und sind sie aber schon. Als solche haben sie nachdrücklich auf spätere Generationen gewirkt. Die Bühnenliteratur etwa, die sich in Deutschland seit Anfang der Neunziger Jahre so ungemein entwickelte , hat stark von Hübsch profitiert, bis fast zu seinem Tod tauchte er nahezu überall auf, wo etwas Live-Literarisches passierte.
Auch literarisch-intertextuell barg die Tradition Fauser, Hübsch und Ploog für eine ganze Reihe jüngerer deutscher Autoren, wenn nicht einen unmittelbaren Bezugspunkt, so doch einen gewissen Einfluss. Das gilt ganz sicher für viele jener Schriftsteller, die in Anthologien wie German Trash oder Trash-Piloten auftauchten. Autoren wie Stan Lafleur, Ulrich Bogislav, Matthias Penzel, Lou Probsthayn, Caroline Hartge, Kersten Flenter oder Jan Off wären hier zu nennen, auch mich selbst will ich hier nicht ausschließen. Selbst bei der jüngeren und jüngsten Riege deutscher Lyrik (nach 1975 geboren), etwa Gerald Fiebig, Björn Kuhligk, Tom Schulz, Jan Skudlarek oder Tom Bresemann sind zumindest Fauser und Ploog keine Unbekannten, auch wenn man ihren Einfluss nicht spüren mag, er existiert. Er zeigt sich im realistischen Zugriff, in der Zuwendung zum Abseitigen, Rückständigen und nicht zuletzt in einem Duktus politischer Widerständigkeit, der die literarische Produktion durchzieht.
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Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.