Ist die Zeit ein Planet?

Zeitwörter, Tätigkeitswörter.
Zeit, Phantomschmerz der
Ewigkeit.

Das einzige Thema für den Schriftsteller, bei dem seine Bedingungen, seine Form und sein Inhalt schlichtweg ineinander fallen und untrennbar zusammengehören, ist die Zeit. Das Wirken mit, in und aus ihr ist mindestens so alt wie das Menschengedenken. Und wenn ich auf diesem „mindestens“ bestehe, so, weil in ihrer Thematik begründet ist, dass zu allen Zeiten versucht wurde, über ihre Grenzen hinauszugelangen, auch und gerade deshalb, weil der Mensch, während er dies versuchte, unerschütterlich in ihr gefangen blieb, auch, wenn die Menschen auf vielfältigste Weise Methoden, Rituale, Systeme, ja, Stoffe entwickelt haben, ihr zu entfliehen. Oder: gibt es eine andere Erzählung?

Kürzlich fand ich in meinen frühen Notizen zu einem Projekt über die Sichtbarmachung von Zeit den Satz: „Erarbeiten, dass Zeit ohne Ausdehnung im Raum unerfahrbar ist.“ Ich suchte nach der entsprechenden Ausarbeitung, aber ich fand sie nicht. Stattdessen befand sich in der Mappe eine Stoffsammlung von Begriffen, die in unserer Sprache mit Zeit eine Verbindung eingegangen waren: von Zeitarbeit bis Zeitzünder, Worte, die die Zeit benutzten, um die begrenzte Dauer von etwas anderem auszudrücken, angefüllt mit einer Fülle von Aktionen, Behauptungen und Ergebnissen. Hatten wir nicht gelernt, dass die eigentlichen Zeitwörter die Tätigkeitswörter sind, Wörter, die sich im Raum ausdehnen, indem wir unser Tätigwerden in Worte fassen?

Man nannte sie wohl Zeitwörter, weil unser Tun mittels der Sprache zeitlich gebeugt werden kann, dachte ich. Aber ich wusste von Sprachen, deren Substantive, also „Hauptwörter“ ebenfalls in entsprechende Zeitformen gebracht werden können, je nachdem, in welchem Zustand sie sich befanden:so gibt es z.B. für das Wort Blume minimale sprachliche Abweichungen für die verschiedenen Stadien ihres Wachstums in ihrer Ganzheit (also nicht „Knospe“ oder „Blüte“), ohne ein Adjektiv vorzuschalten und noch einmal minimale Abweichungen, ob diese Blume in der Wirklichkeit des Sprechenden in der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft wahrgenommen wird – und doch traute ich den Übersetzern, wenn sie betonten, dass es sich dabei um Worte der reinen Gegenwart handelte, Worte, die auch die augenblickliche Befindlichkeit des Sprechenden ausdrückten.

Welches Wort meiner Liste ich auch näher unter die gedankliche Lupe nahm, ob Zeitbild, Zeitdruck, Zeitgeist, Zeitschrift, Zeitvergleich: immer galt es, die Vorschaltung des Wortes Zeit als eine Eingrenzung des nachfolgenden Wortes herauszulesen, und ich empfand unsere Sprache zum ersten Mal als eingegrenzt, zusammengesetzt und arm.

Zeit, Planet, der einen anderen streift?

Wie kommt es, dachte ich, dass ich mir immer eine Landschaft vorgestellt habe, wenn ich lange genug über Zeit nachdachte, eine Landschaft, die unbegrenzt ist, also etwas Räumliches, das jedoch an keine Grenze stößt? Und auch jetzt trat ich ans Fenster meines Arbeitszimmers und ließ meine Augen wandern über das im gleichmäßigen Nachmittagslicht ausgedehnte frisch gepflügte Feld, das an unseren Garten grenzt, das einfach da war, ohne eine sich aufdrängende Symbolik, bewacht an seinem Rand von einer kleinen Kiefergruppe, die vom Grundstück des Nachbarn her so in den Blick hineinragt, dass die Tiefe der Landschaft dort ihren Anfang zu nehmen scheint. Eines meiner ersten Gedichte fiel mir ein, das ich einem Landschaftsmaler, meinem ersten Kunstlehrer, gewidmet hatte, und das, weil ich sehr lange daran gearbeitet hatte, meinem Gedächtnis eingeschrieben war, es handelte von der Zeit, es hieß:

Landschaft im Stundenglas

Wenn Zeit sich von den Dingen scheidet,

zerbricht ihr Klang in Nichts.

Und feine Stäubchen

ihrer alten Stille

verharren in den lichten

Bildern unseres Tuns.

Ich schulde dir schon lange

eine Landschaft, die fern

von der Verwesung in dir wächst

und traumverlässlich

deine Wirklichkeit

beschwört.

Ich hatte dieses Gedicht in der Gegenwartsform geschrieben, obwohl es auf Zukunft hin orientiert war und sich durch das Wort alt in Verbindung mit Stille auf etwas Vergangenes zurückbewegt. Ich hatte das Wachsen als die Urform alles Lebendigen und als die Wahrnehmbarkeit von Zeit seiner Vergänglichkeit entbunden. Ich hatte die Zeit als etwas angesehen, das Klang erzeugt, als eine unsichtbare Ausdehnung im Raum, die wahrnehmbar wird immer dann, wenn sie an die Dinge stösst und die, wenn sie sich von ihnen abwendet, dennoch etwas zurücklässt: feine Stäubchen ihrer alten Stille, Worte für eine Zeit vor der Zeit, die für uns Menschen, die die Dinge gemacht haben, das Nichts bedeutet. Und, ich hatte zum Schluss das menschliche Dasein umgedeutet, indem ich den Traum als verlässlich benannt hatte, von dem wir wissen, dass in ihm eine andere unberechenbare Zeit wirkt, hatte die magische Kraft des Traumes hineinreichen lassen in eine menschliche Wirklichkeit, die eine bewusste geworden ist durch die Wahrnehmung der Lichtheit, des Erhelltseins unseres Tuns, das nicht anders als: in Bildern gedacht werden kann, denn die Bilder sind wandelbar.

Und während ich dies alles dachte und zum ersten Mal nach 30 Jahren Schreibarbeit ein eigenes Gedicht zu deuten versucht hatte, legte sich der frühabendliche Vorfrühlingsdämmer über das Feld, an dessen Rand die Gruppe der 3 alten Kiefern mit ihren geschälten, gekrümmten Stämmen das letzte Sonnenlicht wie ein Spiegel einfing. Die Stämme glühten sanft in diesem Bild, alles, was sie umgab, lag vom Glanz dieses Lichtes unberührt schon im Dämmer, und mit dem nicht sichtbaren Untergehen der Sonne von der Rückseite des Hauses wanderte dieses Rotglühen entlang der Stämme, erzeugte schattig  bewegte Regionen, um sie sofort wieder aufzudecken, um jenes Licht auf ihnen noch zu vertiefen, bis…ohne Übergang plötzlich alles erloschen war. Nichts war angekündigt, kein Schwächerwerden, kein Verblassen in Allmählichkeit, für ein vorbereitendes Bewusstsein: Gleich ist es vorbei, wie es sich der Romantiker wünscht, um sentimental die Vergänglichkeit zu beklagen, – nein, die Stämme lagen unvermittelt im Dunkeln, und noch dunkler setzte sich das gepflügte Feld vor einem feinwattig- grauen Horizont ab, in den die frostig werdende Vorfrühlingsnacht schon eingeschrieben war wie auf einem Schwarzweiss-Foto, das durch seine ins Dunkel hinein gestufte Tiefe der Farbe nicht mehr bedarf. Und während ich noch eine Zeitlang in diesem Zwielichtspiel zwischen drinne und draussen stand, wurde mir klar, dass ich dieses alte Gedicht nur hatte für mich deuten können, weil es dieses Bild gegeben hatte, ja, dass es dies Landschaft gewesen war, von der ich gewusst haben musste, als ich dieses Gedicht geschrieben hatte, eine Gegenwärtigkeit, die über viele Jahre hinweg in mein Heute hinübergereicht hatte, um mich in diesen stillen Augenblicken zu berühren. Zeit, dachte es in mir, Phantomschmerz der Ewigkeit, ausgelöst durch einen Infekt der menschlichen Vernunft, und es war einer nur von vielen möglichen Gedanken, die mir die Poetik der Zeit ins immer Gegenwärtige hinein signalisieren würde.

Doch bevor ich zum Schreibtisch zurückkehren konnte, zerriss ein Klingelton meine aufs Neue beginnende Nachdenklichkeit; da stand das sechsjährige Nachbarkind, das viel Zeit mit Bildermalen und Erzählen bei mir verbringt, klein, zitternd, weinend im düsteren Geviert der Haustür: sein Kaninchen war gestorben. Wir umarmten uns und gingen wortlos die Treppe hinauf ins warme  Arbeitszimmer – und nachdem wir uns lange im ruhigen Licht der chinesischen Tischlampe darüber unterhalten hatten, wie eigenwillig dieses Kaninchen gewesen war, sagte das Kind: Tot ist man am längsten.

Wenn dies die Wahrheit ist, dann ist die Zeit ein Planet.

 

 

Weiterführend →

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