Jazzrock, wer hats erfunden?

Ich habe vier oder fünf mal die Musik revolutioniert. Und warum sind Sie hier?„, stauchte Miles Davis eine weiße Bankiersfrau zusammen, die sich gewundert hatte, warum er beim Bankett des US-Präsidenten eingeladen sei.

Sorry, Mr. Davis, eher viermal. 1969 erschien das Album Hot Rats von Frank Zappa, das ist das erste Jazzrock-Album. Sein 1970-er Album Bitches Brew ist dennoch  bemerkenswert, die Verwendung elektrischer Instrumente, die exzessive Nachbearbeitung der Aufnahmen im Studio, die Auflösung der Liedstrukturen zugunsten freier Improvisation sowie die lange Dauer der einzelnen Musikstücke charakterisieren das Album. Der Trompeter hat nach dem zuvor ausgestellten Rezept von F.Z. den Rythm and Blues mit dem Jazz fusioniert.

Dann dachte ich an was Größeres, an ein ganzes Gerüst für ein Stück. Ich schrieb einen Akkord auf zwei Beats und die Musiker ließen zwei Beats weg, also eins, zwei, drei, da-dum, verstehst du? Der Akzent lag auf dem vierten Beat. Jedenfalls erklärte ich den Musikern, dass sie jede Freiheit hätten, spielen konnten, was sie hörten, nur müsste das Ganze als Akkord kommen.

In der vom Bandleader beschriebenen Arbeitsweise spielten seine Musiker bei den Proben; schließlich gingen sie im August 1969 für drei Tage in das Columbia-Studio in der 52sten Straße in New Yorks. Miles ließ Teo Macero alles Material mitschneiden, ohne die Band zu unterbrechen und Fragen zu stellen. Davis widerspricht in seiner Autobiographie der Legende, Bitches Brew sei das Produkt von Clive Davis und Teo Macero

Wir fingen an und ich führte die Musiker – wie ein Dirigent. Manchmal schrieb ich für jemanden eine kleine Passage oder erklärte ihm, dass ich seine Stimme anders hörte und die Musik wuchs, wurde immer besser. Sie war luftig und gleichzeitig dicht. (…) Diese Aufnahmesession war also die Entwicklung eines schöpferischen Prozesses, eine lebendige Komposition.

Im Geist des von Ornette Coleman proklamierten „Free Jazz“, hören wir auf Bitches Brew die Kreation eines improvisierenden Orchesters durch den Einsatz der Elektronik. Bernie Maupins Bassklarinette lässt sich nicht nur als Soloinstrument hören, sondern als eine zusätzliche Farbe des Sounds, auch McLaughlin spielte nicht nur Lead-Gitarre sondern ebenso im Ensemble. Bei dieser kollektiven Improvisation setzte die Produzenten die Stücke am Mischpult so zusammen, dass jedes Instrument seinen Beitrag lieferte und alle Musiker zusammen Klangkaleidoskope. Wir hören auf Bitches Brew einen Fusion Jazz der melodisch sehr abstrakt und chromatisch gestaltet, während er rhythmisch auf einem dynamischen und vielschichtigen Rockbeat gegründet ist. Die alte Idee der kettenförmigen Solistik wird bei dessen Aufnahmen durch ein neues Basiselement ersetzt; Miles’ Trompetenstimme steht allein dem Rest des Ensembles gegenüber. Die Hauptachse der musikalischen Interaktion verläuft zwischen diesen beiden Faktoren.

Als ersten Titel des Albums hören wir den fast 20-minütigen Pharaoh’s Dance von Joe Zawinul, der die ganze erste Seite des Albums ausmacht. Das Stück setzt, setzt den flachen Beat  und die Strukturlegung des Konzepts des Vorgängers In a silent way fort, angereichert durch das frei gestaltete und dunkel gefärbte Spiel von Bernie Maupins Bassklarinette. Davis gestaltet sein Solo so aus, indem er eine Variante des Call and Response-Prinzips spielt.

Es folgt das Titelstück. Bitches Brew ist mit 27 Minuten das längste Stück des Albums, es beginnt mit einem als Call and Response angelegten, durchkomponierten Prolog, während das übrige Stück eher sessionartig angelegt ist. Der Prolog setzt mit dem  Groove der Bassgitarre ein, den das Ensemble im freien Kollektivspiel beantwortet. Mit dem Beginn des dritten Ausrufs bläst Miles Davis einen Trompetenton, der über die Echoplex bis zu zwanzig Mal in gleicher Höhe weiterschwingt. Es entsteht eine geradezu hypnotische Atmosphäre, die der Trompeter anschließend in melodramatischer Abwärtsphrasierung mit lang ausgehaltener und schwebender Intonierung wieder abschwächt. Das Stück endet wieder mit den hypnotischen Ausrufen des Bassisten.

Das erste Stück der dritten Plattenseite, Spanish Key, ist von einem schnellen, rockenden Beat bestimmt; mit dem Titel verweist Davis auf die tonale Grundlage seiner Komposition, nämlich auf eine in der spanischen Folklore anzutreffende Tonleiter. Davis stellt das thematische Motiv vor; später entwickeln die Solisten, mit sehr viel Freiheit in den einzelnen Bereichen, ihre Improvisationen, jeweils verkettet durch Miles Davis’ thematische Phrasierungen. Zuerst spielt Wayne Shorter entspannte Linien auf dem Sopransaxophon, gefolgt von funkigen Gitarreneinwürfen durch McLaughlin. Im letzten Drittel des Stücks verdichtet sich der Ensembleklang zu einer perkussiven Ornamentik, die von Bennie Maupins gespenstischem Bassklarinetten-Solo getragen wird. Im anschließenden Titel „John McLaughlin“, dem kürzesten Stück des Albums, setzten der Trompeter und auch Wayne Shorter aus. Das Stück wird von einer Ostinato-Figur des E-Pianos angetrieben, über diese Klangfläche tupft John McLaughlin klangmalerische Einwürfe.

Den Zenit des Albums erklimmen wir mit Miles Runs the Voodoo Down, mit dem die vierte Seite des Albums beginnt. Das Stück basiert auf einer simplen Bass-Figur und einer eher langsamen Begleitfigur, die in einer kurzen, sich ständig wiederholenden melodischen Abfolge besteht. Darüber bläst der Trompeter einige Phrasen in mittleren Registern, deren Alternierung zwischen Dur und Moll seine Bluestradition erkennbar werden lässt. Die technischen Fähigkeiten von Davis erreichen hier einen ungewöhnlichen Reifegrad. In den tiefen Registern beschwört er in lebendigem Spiel mit gezogenen Noten, Rufen, Raunzen und Schreien in langer, linearer, aber auch in kurzer, abgehackter Phrasierung die ganze rituelle Kraft seines afrikanischen Erbes. Nachdem Solo des Trompeters Solo entspannt sich das musikalische Geschehen, McLaughlins Solo ziehen die Sopranklänge Wayne Shorters herauf, begleitet vom Hintergrundspiel Bennie Maupins auf der Bassklarinette und den Fuzz-Klängen Chick Coreas, das schließlich in ein Simultanspiel mit dem zweiten E-Pianisten Larry Young mündet. Das Album klingt aus mit einer Version von Sanctuary, das Davis mit einer breit angelegten und fallenden Phrasierung beherrscht; dann setzt er rhythmische Akzente, auf die das Ensemble mit hoher Geschwindigkeit reagiert.

So sehr das Klangbild und die Rhythmik von Bitches Brew auch von der Rockmusik geprägt sind, so wenig ist das bahnbrechende Album damit identifizierbar. Dank ihres offenen Gestus‘, ihrer überraschenden thematischen und harmonischen Wendungen und ihrer oft hochkomplexen Polyrhythmik sind die Stücke von Bitches Brew meilenweit vom kommerziellen Pop entfernt und dem Jazz weitaus näher, als es Traditionalisten Anfang der siebziger Jahre wahrnehmen wollten.

, fasst Reinhard Kager für die arte-Reihe „50 Jahrhundertaufnahmen des Jazz zusammen.

Sorry, Herr Kager, aber genauso hat Frank Zappa bereits seit dem ersten Konzeptalbum Freak out von 1966 gearbeitet. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

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Bitches Brew, von Miles Davis, 1970

Das Cover von Mati Klarwein spielte in seinem „Hippie-Surrealismus“ mit „Ideen wie Spiritualität, Urgewalten, Zeitlosigkeit, Utopie und Raum jenseits der Wirklichkeit.“ Es passte damit zu den Songtiteln, in denen sich „Anspielungen auf Hexenmagie und ägyptische Mythologie finden.“

Weiterführend   Der Musikkritiker Ben Watson bezeichnet „Zappas Mothers of Invention“ als „politisch wirksamste musikalische Kraft seit Bertolt Brecht und Kurt Weill“ wegen deren radikalem, aktuellen Bezug auf die negativen Aspekte der Massengesellschaft. So besehen war Frank Zappa neben Carla Bleys Escalator Over The Hill einer der bedeutendsten und prägendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts.

In der Reihe mit großen Blues-Alben hören wir den irischen Melancholiker. Hören den Turning Point, von John Mayall. Vergleichen wir ihn mit den Swordfishtrombones, von Tom Waits und den Circus Songs von den Tiger Lillies. Unpeinlich Deutsche Texte von Ton, Steine, Scherben. Wir ertasten auf KUNO den Puls des Motorik-Beats. War David Gilmour ein verkappter Blueser?

Des weiteren: Eine Sternstunde des Rock’n’Roll. Eine Betrachtung von Both Sides Now. Lauschen der ungekrönten Königin des weißen Bluesrock. Ein Porträt der Gorgeous Queen of Ruhrgebeat-Trash. Warten nach Heavy metal thunder nicht auf den Blitz, um den Göttern des Donners eine Referenz zu erweisen. Thrash Metal ist das Resulthat der Verschmelzung der Energie und Geschwindigkeit des Hardcore Punk mit den Techniken der New Wave of British Heavy Metal. Wir verorten die erste Punk-LP mit dem Bananenalbum. Wann hört der Substance von Punk auf? Wann beginnt der Post-Punk? Ist das bereits New Wave?

The oldest sister with transistors was Laurie Anderson. Ihre jüngere Schwester im Geiste ist ein isländischer Kobold. Charmant an den Ambient Chansons von Mona Lisa Overdrive sind die Stücke, auf denen die Sängerin Nicole Vogt dem Material mit einer etwas fernen, wehmütigen Stimme eine Seele einhaucht. Geschlagene 16 (in Worten Sechzehn) Jahre lang kursierten unter den gewöhnlich gut eingeweihten Szenenkennen diverse Gerüchte um das unveröffentlichte Album Gift aus dem Jahr 2000. Es sollte seinerzeit Pia Lunds zweites Solo-Album nach ihrer Trennung von Phillip Boa & The Voodooclub werden. Lundaland, ihr Solo-Debüt von 1999, hatte die Kultsängerin als elegante Vorreiterin des verspielten Elektrobeats etabliert. Der Pyrolator aus Berlin erhielt in Anerkennung seines Lebenswerks das Hungertuch für Musik 2013. Eigentlich könnte: Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter. (Heinrich Detering)

Inzwischen gibt es: Pop mit Pensionsanspruch. Daher auch schnellstens der Schlussakkord: Die Erde ist keine Scheibe