Der Buchkünstler Haimo Hieronymus betätigt sich künstlerisch vielfältig in der Malerei wie der Zeichnung, er erstellt Objekte, Holzschnitte, Radierungen, Collagen und publiziert Künstlerbücher. Die bekannten Formen und Motive unterlegt er poetisch, schafft Verbindungen zwischen Wort und Zeichen, mit einem skeptischen Grundton: Die kräftig–bunten Farben der strahlenden Konsumwelt sind einem gebrochenen Farbspektrum gewichen, ihr Auftrag zeigt sich bewusst unvollkommen, die Botschaften werden der Frage würdig, fragwürdig. Er nutzt die Besonderheiten des Materials, die Lichtführungen von Schellack und Bienenwachs erzeugen ein untergründiges Leuchten, nicht fassbar, raumgreifend, so muss der Betrachter mit den Blicken, wegen der störenden Lichtreflexe, aber auch körperlich, die fragmentarischen Agglomerate erwandern.
Geistesverwandt mit Marcel Broodthaers
Mit kleinen, meist schwarz/weißen Collagen liefert der Künstler schwarze Satire, ohne das vordergründig Lächerliche nutzen zu müssen. Die Bildfragmente – assoziativ kommentiert durch Textfragmente – drehen sich teilweise derart ineinander, daß die Grundmotivik ins Hintertreffen gerät, assoziative Verweise erstellt werden.
Hat der Betrachter den unmittelbaren Text-Bildeindruck verarbeitet, konkretisieren sich die Motivkonglomerate und erkennbar werden scheinbar bekannte Bilderwelten, quasi Ikonen des Alltags. Die verwendeten Allerweltsfotographien und –zeichnungen geraten hierbei zu Auslösern scheinprivater Kontroversen, da die Motive zerlegt, aus dem Zusammenhang gerissen und neu synthetisiert werden. Hieronymus erhebt die hybride Formensprache des Fragmentarischen, Brüchigen, Uneinheitlichen und Diskontinuierlichen zum Gestaltungsprinzip und korrespondiert mit dem psychosozialen Profil des ungebundenen, flexiblen Menschen, dessen Lebensplanung mehr denn je von einem “Würfelwurf” abhängig ist.
Dieser Artist begreift das Papier als Spannungsfeld polarer Gegensätze, die er souverän überblickt. Seine Meisterschaft beruht auf seinen Kompositionen mit der einzigartigen Verbindung von Form und Struktur. Er verzichtet auf Interpretationen von Einzelheiten, beruft sich vielmehr auf die Logik der Komposition und die innere visuelle Freiheit. Er könnte jedes Buch in der gleichen Drucktechnik anfertigen, könnte die gleichen Bindungen anwenden und würde damit dem künstlerischen Impetus Genüge tun, aber genau das erscheint ihm unendlich langweilig. Jedes Buch muss seine eigene Sprache entwickeln – eine andere Technik aufweisen – immer. Hieronymus erreicht mit seiner Arbeitsweise, daß nicht nur der visuelle Sinn des Betrachters angesprochen wird, sondern die synästhetische Wahrnehmung.
Künstlerbücher als Korrektiv
Einen besonderen Raum in der Arbeit von Hieronymus nehmen die Künstlerbücher ein. In der Menschheitsgeschichte ging die Entwicklung der Technik stets mit der des Geistes einher. Man kann nur erahnen, welch große Auswirkung die neue Technik im Buchdruck auf die Gesamtkultur gehabt hat, insbesondere aber auf Literatur und bildender Kunst. Von der Kostbarkeit des geschriebenen Wortes und der Bücher haben die Menschen stets gewusst. Für die Buchtradition bedeutete das letzte Jahrhundert allerdings eine einschneidende Zäsur. Das Künstlerbuch hat es daher beim Betrachter schwerer als das Bild. Das liegt nicht zuletzt daran, dass man es aufschlagen muss und nicht an die Wand nageln kann.
Die Deck-Schutzblätter der Künstlerbücher von Hieronymus spiegeln den Inhalt wider. Der Leser, Betrachter kann so erahnen was zu erwarten ist. Ein Bild ist keine Illustration, es ist ein eigenständiger Informationsträger. Text und Bild ergeben ein sich gegenseitig unterstützendes Gefüge, bleiben trotzdem eigenständig verständlich. Genauso wenig, wie alle Schriftteile sofort ersichtlich sind, erscheinen die diffizilen Strukturen der Grafik auf den ersten Blick nicht lesbar, erst das nähere Betrachten, je eingehender, desto besser – legt geradezu schichtweise die Bild- und Textinformationen frei.
Der Betrachter muss sich den Sinn entschlüsseln, erschließen. Eine Allgemeingültigkeit ist immer fraglich, da alle Bilder zwar im selben Kontext stehen, jedes für sich jedoch seine Eigenständigkeit bewahrt, eine Abgrenzung aber ist nicht unbedingt von vorne herein gegeben, Verzahnungen sind vorhanden.
Die Sinnlichkeit des Buchhandwerks
Jedes Thema benötigt sein individuelles Vorgehen. Alle Platten werden mit verschiedenen Werkzeugen behandelt, die thematischen Unterschiede werden dem Betrachter durch das verschiedenartige Behauen und Kratzen deutlich. Mal wird mit heftigen gestischen Schmissen gearbeitet, mal verweilt der Beitel feinfühlig in kleinsten Strukturen. Mal tanzt der Stichel gerade beim Zeichnen von größeren Zusammenhängen großzügig über die Druckplatte, mal bewegt er sich, bei den Untersuchungen zu Körperteilen beispielsweise, eher zaghaft über das Holz.
Während man seinen Zeichnungen vor allem mit dem Strich assoziiert, hört man hier, bei seinen sehr körperlichen Holzschnitten, fast die Geräusche der Sägen und der Beitel, hört das Kratzen und Splittern und Ritzen während ihrer Herstellung. Das Gewachsene des Holzes wurde zerstört, dem Material brachial Gewalt angetan. Und dachte man bei Hieronymus’ Malerei, nur mit allergrößter Anstrengung sei zu verhindern, dass der Blick abperlt, hat man nun den Eindruck, man bleibt hängen in den vehementen Schnitten, den rissigen Rändern und den Spalten.
Manche Platten werden verworfen, andere werden von Hieronymus hingeworfen und bleiben liegen, zeigen ihre Kraft und werden zu einer Auflage gedruckt. Nach der Bearbeitung ist die Aussage so, dass der Betrachter etwas damit anfangen kann.
Dieser Artist variiert nicht, er wiederholt. Sich, sein Thema, seinen Kunstgestus, seine Typen. Jede Wiederholung impliziert allerdings eine grundsätzliche Befragung und damit Differenzierung. Beim Künstlerbuch Faszikel versuchen seine Blicke oft Geringfügigkeiten und Nebensächliches zu erfassen, zu durchschauen. So wie auch die gesehenen Strukturen ihre Widerstände bieten, muss für ihn durch die Stahlnadel, die sich direkt in das Metall frisst, ein körperlicher Widerstand entstehen. Wichtig ist, dass das Beobachtete im Verhältnis zu dem, was an Gedanken, an Klischees und Vorwissen im Kopf ist, immer wieder in Konkurrenz und Widerstreit tritt.
Hieronymus verwendet korrodierte Zinkplatten aus flach geklopften Dachrinnen, die ihre eigenen Strukturen, ihren warmen Plattenton mit einbringen können. Teilweise sind die Oxidationsschäden für die direkte Überarbeitung zu stark und werden durch Schleifpasten und Dreikantschaber nivelliert. Die Platten werden meist zum Teil mehrmals geätzt. Zu entscheiden, wann eine Platte für seine Zwecke zufriedenstellend erscheint, überläßt er seinem Vertrauen in die Platte.
Wo endet der Strich, beginnt der Buchstabe?
Immerschon hat Hieronymus den Strich einer Zeichnung zwanglos in Buchstaben übergehen lassen. Die kurze Form war ihm einen Versuch wert. Seine sprachlichen »Miniaturen« gehen ins Aphoristische. Als Sprach-Bildner prägt Hieronymus visuelle Sprachskizzen, Polaroids der Erinnerung. Und dies in Form eines Künstlerbuchs. Ein charmantes Vorspiel.
Der Titel „Aquatik“ ist pure Ironie. Wer so ein Misstrauen gegenüber dem Meer hat, wen es dermaßen langweilt, daß er auf die Frage, wie es denn an der Nordsee gewesen sei, antwortete:
„Schwaaaaap – schwaaap -schwaaap“, der kann einfach kein Buch machen, daß frei ist von ironischen Sarkasmen. Bei all dem bleiben seine Texte doch auf sympathische Weise liebenswert und wollen nur ganz nebenbei abrechnen. Zuweilen entglitt meinem stoischen Gesicht ein zunächst zaghaftes, dann aber dauerhaftes Schmunzeln der Selbstertappung. Da erkennt man plötzlich, daß die vielzitierte frische Meeresbrise eigentlich gar nicht so frisch riecht, wenn man nur ehrlich ist, daß der Kaffee in Strandcafes anders als erwartet kommt – oder eben nicht; wie die lieben Mitmenschen sich plötzlich verhalten können und in welche Rolle man sich selber versetzt sieht.
Solange es Menschen gibt, die sich die Mühe machen, mit Worten etwas Unkonventionelles anzustellen, muß einem nicht bange sein um das Beobachtungsfest der „Aquatik“ welches von Hieronymus zu kürzesten lyrischen Texte verdichtet wird. Im Anschluss an das letzte Buch „Miniaturen“ ein konsequenter weiterer Schritt immer ein Stück daneben. Nur eine verletzte Auster produziert eine Perle: Kunst.
Konterkariert werden diese Texte von einigen kleinen Holzschnitten in Pariserblau gedruckt. Die Motive erinnern an Dinge, die man am Strand findet, die man aber doch nicht zuordnen kann. Entstanden sind die Druckstöcke vor 2005, die Texte 2009.
Texte und Holzschnitte sind jeweils zu einem autonomen Buchblock gebunden und finden sich in einem eigenwilligen und haptikbetonten Holzdeckelbuch mit Stift.
Hieronymus verfolgt damit zwei Gedanken: Authentizität des Materials und die Möglichkeit des Fertigmachens. Die Holzdeckel des Bucheinbands stammen von einer Überseeverpackung, die zerschnitten und mit all ihren Mängeln roh verwendet wurde. Die abschließende Kiste wurde aus einem ehemaligen Bücherregal gefertigt und wird so zu einem Individualregal. Der Stift soll den Leser dazu anregen, zum aktiven Nutzer des Buchs zu werden, der ergänzt, bildlich wie schriftlich und erst damit das Werk zu einem Ganzen macht.
Bis zu einer tieferen Unschlüssigkeit vorstoßen
„Liebevolles Verstehen“ möchte man diesem Eigenbrödler gerne unterstellen, doch Herr Nipp würde unwirsch abwinken. Das absichtlose Herumstromern in den eigenen Befindlichkeiten und den Bequemlichkeiten der Anderen ist im Prinzip ein Akt fortgesetzter Selbstvergewisserung. Mit Luhmann’scher Akribie betreibt Hieronymus eine Art von Mikro-Ethnologie, er fügt anschließend die Satz- und Wahrnehmungssplitter in »Die Angst perfekter Schwiegersöhne« zu etwas zusammen, das entfernt einem Handlungsablauf ähnelt. Sich dem Jetzt aussetzend, ohne die dahinter liegende Geschichte zu vergessen.
Einer Welt gegenüberstehend, die nicht immer verständlich ist, einer Gesellschaft angehörig, die gebrochen erscheint. Kommentierend und hadernd, reflektierend und feixend geht Hieronymus daran, in »Die Angst perfekter Schwiegersöhne« diese Welt zu erschließen, versucht er sie zu hinterfragen und zu verstehen. Streut dabei fast schon natürlich Salz in die Wunden und lächelt uns dabei freundlich zu, als könne er keiner Fliege etwas tun. Früher hat Hieronymus die Strukturen der Natur untersucht, über zehn Jahre lang versuchte er die Beziehungen und Fraktale zu verstehen, seit einigen Jahren geht es ihm um die Strukturen der Gesellschaft und auch hier arbeitet er gewissenhaft, geht auch kleinen Verästelungen, geht den Beziehungen zwischen Menschen und ihren kleinen Sorgen nach. Kommentiert mit spontanen Texten, Fragmenten und Wörtern. Zunächst ist diese Prosa ästhetisches Erlebnis, dann sickert langsam ein Erkennen ein. Die Geschichten von Herrn Nipp wollen nichts erzwingen, sie verführen uns zum Denken.
Hieronymus treibt in »Die Angst perfekter Schwiegersöhne« ein vertracktes Spiel. Zwischen Selbst-Befragung und schwarzen Sarkasmus entlarvt er das äußere Bild als Schema, die Oberfläche der Haut als verletzbare Hülle des Eigentlichen. Schreibend sucht er nach den gesetzten Normen und weiß, daß man sie nicht überschreiten muss, um Grenzgänger zu werden. Herr Nipp sucht in einer entgrenzten Welt Grenzen in sich. Es bleibt eine Vorstellung, die betreten werden kann. Man kann diesen Raum durchschreiten, die Welt da draußen vergessen, sich einfach auf die Situation einlassen, mit eigenen Bildern, den Gerüchen und dem leicht gedämpften Klang der Außen- und Innenwelt. Im Zeitalter der kulturellen Globalisierung und Traditionsverschiebungen bleibt der Mensch als strauchelndes Wesen auf den Straßen der Zivilisationen zurück und sucht nach den Bruchstücken seiner selbst. Der allseits flexible Mensch des 21. Jahrhunderts in seiner Geworfenheit ist das Thema von Hieronymus.
Der Band mit den Erzählungen Die Angst perfekter Schwiegersöhne ist kein Künstlerbuch. Was aber, wenn plötzlich Originalholzschnitte auf dem Deckblatt der Vorzugsausgabe zu finden sind? – Und auch bei Unerhörte Möglichkeiten krabbeln Ameisen über das Titelblatt.
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Die Angst perfekter Schwiegersöhne, von Herrn Nipp, Edition Das Labor 2011
Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421