Unlust am Leben, Angst vor’m Tod

A.J. Weigoni ist ein genialer Decouvreur von Alltagsmythen, ein Demonteur von Sprache auf hohem Niveau.

Wolfgang Schlott

Schlechte Zeiten sind gute Zeiten für Satiriker. Und die Zeiten der Bankenkrise ist nicht gerade rosig. Der große literarische Satiriker der Gegenwart ist aber noch zu entdecken. Sein Name, dieser Verdacht mehrt sich zumindest im deutschen Sprachraum, ist wahrscheinlich A.J. Weigoni. Er hält in seinem Werk der Gesellschaft das entgegen, was sie in ihrem alltäglichen Wortgebrauch unterschlägt. Ein guter Einstieg in sein Werk ist Zombies, das unter Weigoni-Aficionados als zugänglichstes Buch gilt: „Diese Erzählungen sind voller Humor und streckenweise so schwarz, daß sie unter der Kohlenkiste noch einen Schatten werfen würden.“

To Cut A Long Story Short: Die Zombies sind das Produkt eines literarischen Experiments. Weigoni tritt den Beweis an, dass es nach wie vor einen direkten Draht zwischen dem Zombie-Genre und dem politischen Unbewussten gibt. Untote als Metapher des verdrängten Bösen im Menschen sind nur der Anfang im narrativen Muster des Autors. Es geht hier nicht um die Angst vor dem drohenden Biss, der daraus resultierenden Verwandlung in einen Untoten ­und die Verwesung, sondern vor allem um die moralische Wandlung des Menschen im permanenten Ausnahmezustand. Die Vermessung der menschlichen Abgründe werden zur Grundfrage des narrativen Gesamtwerkes.

 

Plakat des ersten Zombie-Films von 1932

Es gibt da einen tollen Film von 1932 ‚White Zombie“. In Haiti führt Bela Lugosi jemanden durch eine Fabrik, in der er ausschließlich Zombies für sich arbeiten lässt. Lugosi erklärt, wie wunderbar das funktioniert: Die Zombies sind immer wach, beschweren sie nie über Überstunden und bilden keine Gewerkschaften. Das führt direkt zu meiner Theorie, dass im Horrorfilm eigentlich ein Klassenkampf zwischen Vamipiren und Zombies inszeniert wird. Vampire sind ja meistens Aristokraten, leben mitten in der Gesellschaft und alles funktioniert normal, bis darauf, dass sie nachts ein bisschen Blut trinken. Erst wenn die Zombies kommen wird das alles anders: das ist die Revolution.

Slavoj Žižek

Hier liegt ein Band mit komplexen Erzählungen vor, die in die Düsternis unserer Existenz vordringen, sie sind haarsträubend, abstoßend, rührend und voll grimmigen Humors, man liest in diesem Ellipsenfeuerwerk von Dystopien und Alltagskrisen, Tragödien und Peinlichkeiten, bis man das eine kaum noch vom anderen unterscheiden kann. Diese Erzählungen beschreiben das Verschwinden der Menschlichkeit in einem deformierten System. Ein kühler Materialismus durchzieht die von Weigoni beschriebene Selbstverspeisung der Gesellschaft. Der Zombie sind wir selbst, er lauert in uns allen und er steht für den Rückzug von Individualität und freiem Denken. Mit photographischer Präzision sortiert dieser Romancier sonst übersehende Wahrnehmungsspliter und beschreibt ein Dasein an der Front menschlicher Verachtung. Literatur ist stets auch ein intellektuelles Laboratorium, die Monster, die dort geboren werden, vermögen dem Leser im Zweifelsfall mehr über ihn zu verraten, als jede politische Grundsatzdebatte es je könnte. Zwar verbergen sich poetische Deutungen politischer und sozialer Vorgänge in diesen Sätzen, doch vermeidet Weigoni, sich auf moralische Urteile festlegen zu lassen. Seine Sprache ist geschliffen wie ein gutes Tranchiermesser, das seine Funktion wie nebenher erfüllt: das Literarische dient dazu, Geschichten so zu erzählen, daß sie den Leser bei der Stange halten.

Mit „The Walking Dead“ ist das Trash-Genre Zombies seriell geworden. Die Frage ist, kann man daraus gute Literatur machen? Die Antwort lautet ja. Und zwar A.J. Weigoni, der in seinen neuen Erzählungen „Zombies“ zeigt, dass es keinen Virus oder Totenkult braucht, um aus uns allen Zombies zu machen.

Jessica Dahlke

Die Zombies heißen: Walker

Diese Erzählungen spielen mit unseren Sicherheitserwartungen und zeigen Mal für Mal, dass die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse trügerisch ist. Weigonis Sensibilität und Wahrnehmungsschärfe, seine sprachliche Phantasie, ätzende Genauigkeit und sein untergründiger Witz scheinen in der konzentrierten Gattung der Erzählung einen besonders fruchtbaren Boden gefunden zu haben. Die Erzählungen machen uns glauben, daß sich das ganze Leben in einem einzigen kurzen Moment der Hellsicht ändere. Als Schriftsteller ist Weigoni ein Sprachspieler. Sein Material ist die deutsche Sprache, er verbindet der Versuch, diese aus der Floskel zu befreien. Die Erzählungen kontern den moralischen Imperativ, daß Erzählen etwas Gutes sei. Mit dem Begriff Erzählung ist hier eine Gattung gemeint, die schnell auf den Punkt kommt, dabei mit anderen Geschichten vernetzt ist. Handlungsverlauf bzw. Entwicklung wird nicht chronologisch und durchgängig aus einer Perspektive vorgestellt, Nebenfiguren tauchen in dieser Verwahrlosungsrevue als Hauptfiguren auf. Damit wird diesem Buch jedoch nicht das restmoderne Etikett „Roman in Erzählungssegmenten“ angepappt: Zombies ist ein komponierter Erzählungsband.

Das ist NEONEUE SACHLICHKEIT, messerscharf beobachtet, haargenau recherchiert.

Theo Breuer

Danny Boyle entwirft in diesem Film ein radikales Endzeitszenario.

In dieser Erzählungen zeigt sich, wie poetisch Boshaftigkeit und schwarzer Humor sein können. Poesie hat für Weigoni immer etwas mit Gesellschaftlichkeit zu tun. Er nutzt das Zeitalter der neuen Unübersichtlichkeit als diskursives Spielmaterial für seine gedanklichen Experimentalanordnungen. Die Multioptionsgesellschaft erscheint in den Erzählungen als grandioses Ablenkungsmanöver, um fundamentale Alternativen aus den Köpfen und dem Streben der Menschen zu verbannen. Dem Anschein nach kontrastreich, vielfältig, individualistisch, wird das Leben in Wahrheit von Monotonie und Konformismus beherrscht, das utopische Bewußtsein ist in der transzendenzlosen Warengesellschaft überwunden. Weigoni legt dar, dass eine reine Binarität aus moralisch vs. amoralisch nie funktionieren kann. Er zerdehnt die Statement–Kultur, bis in den Rissen der Rede die zweiten Absichten und Motive sichtbar werden. Angewidert von der geheuchelten Aufrichtigkeit des glatt polierten Selbstmarketings, attackiert er die Oberflächen–Sprache mit Wendungen, Wiederholungen und Wortungetümen. Das Kapital saugt den Ausgebeuteten den Lebenssaft aus und läßt sie als willenlose Untote zurück. Weigonis Erzählungen lassen sich auf dieser Metaebene auch als Sachbuch der Bürokratisierung lesen.

Jeder Satz muss eine Notwendigkeit haben.

Zoë Jenny

Der moderne Klassiker von George A. Romero.

Das Verrückte ist in diesen Erzählungen das Normale und umgekehrt. Literatur kann ein Medium der Selbstbestimmung sein. Und diese bringt der Literatur neue Werte. Was Literatur kann und darf, wird allein an ihren Abbildungsfähigkeiten gegenüber einer sozialen Situation gemessen, die als Welt verstanden und deshalb als überwältigend empfunden wird. Die Suche nach Identität und Ausdruck zieht sich durch Weigonis Werk. Sie exerziert den Schmerz der Sprachlosigkeit, den Verlust körperlicher und seelischer Integrität in Lyrik, Prosa und Drama bis an den Rand des Erträglichen. Der Schock soll die repressiven Muster zertrümmern. Weigoni sucht das Monströse im Normalen und das Normale im Monströsen, seine Verdichtungen schließen sich in ihrem Gehalt an die Wirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert an. Seine Erzählungen erscheinen wie Kapseln, und in jeder einzelnen davon ist eine ganze Welt enthalten. Es gibt Motive, die wiederkehren: das Verschwinden, die Auflösung, das Vergehen von Zeit, der Schrecken, der sich in den alltäglichsten Dingen verbirgt, die Begegnung mit der eigenen Verlorenheit. Memento mori, allüberall. Die Eindringlichkeit seines Schreibens hängt mit dem tiefen Referenzraum seiner Poethologie zusammen.

In keiner der sozialen, kulturellen, beruflichen und ökonomischen Parallelwelten, die Weigoni röntgenrealistisch abbildet, will man leben. Vieles schildert Weigoni als Farce und Persiflage, wobei er in seinen Erzählungen ganz nebenbei auch die Attitüden der Genreliteratur persifliert

Jo Weiß 

Jacques Tourneur bediente für diese Verfilmung sich an Motiven aus „Jane Eyre“.

Alles was sicher scheint in der Prosa von Weigoni wird durch Schnitte, Farben, Unschärfen und den treibenden Rhythmus seiner Syntax zur Auflösung gebracht, pulverisiert zu reiner Bewegungsenergie. Erst wenn man den Einsprengseln anderer Wirklichkeitsdefinitionen und Weltverständnisse die Chance gibt, in Erscheinung zu treten, öffnet man Möglichkeitsräume, die durch das Verfolgen nur eines einzigen Pfades systematisch verschlossen bleiben. Die Erzählungen ähneln einem poetischen Schrapnell, abgefeuert, um sich im Hirn festzukrallen und die Gegenwart osmotisch zu durchdringen. Weigoni wendet sich gegen die spitzenbesetzte Intelligenz, seine Hauptfrage ist eine völlig unpopuläre: Was ist der Mensch? Diese Frage erregte Montaigne und Hobbes, Pico della Mirandola und Robert Burton und viele, viele andere, Denker, die alle aus der Mode gekommen sind, so wie auch die Frage selbst aus der Mode gekommen zu sein scheint. Natürlich nicht ganz. Denn Weigoni hat trotzdem und natürlich noch Reisegefährten unter den Zeitgenossen, genauso einsame Wanderer sind wie er selbst. Dichterkollegen wie Patricia Brooks, Theo Breuer, Haimo Hieronymus, Axel Kutsch, Sophie Reyer, Dieter Scherr oder Enno Stahl bewegt bei allen Unterschieden dieselbe Frage, und keiner von ihnen ist willig, seine freie Denkweise dem Rastersystem der akademischen Disziplinen anzupassen.

Ähnlich einem Franz Kafka dessen Werk sich mit der Kraft auszeichnet Dissonanzen zu erzeugen, zeichnen sich auch die Erzählungen des A. J. Weigoni aus. Mit „Zombies“ wird der Leser/ die Leserin in ein abgründiges Reich menschlicher Leidenschaften geführt.

Ju Sophie Kerschbaumer

Muß man sich das 1000jährige Reich so vorstellen?

Meist sind es minimalinvasive Verschiebungen des Rahmens. Geformt ist diese Prosa in einer schlanken und scharfen Expressivität, nach dem Prinzip, klar und kühl zu schreiben und so die Form durchlässig zu machen für neue Erkenntnisse. Es ist der Marginalisierung zu schulden, daß Weigonis Ringen mit den Traumata der untergegangenen BRD, die zugleich die eines ganzen Staates sind, ohne den Rückgriff auf eine zentrale Quelle der Subjektivität auskommt. Das Projekt einer demokatischen Gesellschaft ist spätestens nach der Wiedervereinigung gescheitert, an der Gier und am Hass, die Beziehungen der Menschen sind durch Gewalt und Verrat bestimmt.

Weigoni hält uns den Spiegel vor. Was sehen wir in dem Spiegel?

Im Lauf der Zeit entstand das wuchtige Porträt einer bis in ihre feinsten zwischenmenschlichen Verästelungen barbarisierten Gesellschaft. Und doch weist diese Prosa auch darüber weit hinaus. Da ist eine schmerzlich spürbare Differenz zur dargestellten Welt, die im ganzen Text vibriert und den Gefühlsraum des Lesers in Schwingung versetzt. Der Leser denkt in diesen Erzählungen mit, und so kann diese Literatur niemals abgeschlossen sein. Es sind Geschichten mit Matrjoschka-Charakter, in virtuos ineinander verschachtelten, zwischen historischen Ereignissen springenden Erzählpäckchen führt dieser Romancier sämtliche Schicksale und Handlungsstränge die er in den Zombies ausgelegt hat in Cyberspasz zusammen. Seine eigentümliche Denkweise, konträr zu den gewohnten Assoziationsbahnen, scheint mit ihrem schwarzen Humor passender zur Weltlage als der freudige Triumphalismus der neoliberalen Weltverbesserer, der seit den 1990er Jahren den Vordergrund der Szene beherrscht. Wer Pierre Bourdieus Bonmot, das Kapital kenne keine Erinnerung ausser der Akkumulation, illustriert sehen möchte, der ist bei Weigonis Konzeptalbum bestens bedient.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend →

KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.