gedanken über das denken

 

»Was ist eigentlich ein Essay, wenn er keine wissenschaftliche Abhandlung, kein Traktat, kein Pamphlet und kein Roman ist?« »Der Verlag weiss nicht, ob er den Essay in der Sachbuch- oder Belletristik-Vorschau ankündigt. Der Buchhändler weiss nicht, in welches Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch Exemplarisches meint.« das will ich hier in gedanken über das denken aus unterschiedlichen perspektiven erkunden.

SYSTEMDENKEN

der wissenschaftliche essay ist gewöhnlich ein akademischer und damit, teils prinzipiell, etwas anderes als der literarisch freigeistige. wissenschaftliche essays folgen meist einem theoretischen kanon. zugleich sind sie ebenfalls freier und offener als ausschließlich wissenschaftliche schriften. heraklit erklärte, überfluß an wissen lehre die menschheit nicht, weise zu sein. karl kraus ahnte, in einen hohlen kopf gehe viel wissen. ambrose bierce schrieb, wissen würden wir jenen teil unserer unwissenheit nennen, den wir geordnet und katalogisiert haben, georg christoph lichtenberg, es wäre unglaublich, wieviel regeln verderben können, sobald einmal alles gut geordnet ist, das gesetz sei ein gar kalter körper und auch ein systematischer freidenker ein systemdenker, heinrich heine, der geist habe seine ewigen rechte, er ließe sich nicht eindämmen durch satzungen. friedrich nietzsche, der wußte, weisheit ist unabhängig vom wissen der wissenschaft, fragte, ob eine überzeugung erst dann in die wissenschaft eintreten dürfe, wenn sie aufhöre, überzeugung zu sein, was er sicher bejahte. heinrich von kleist, der spürte, wissen mache weder besser noch glücklicher, stellte die frage, ob nicht der anfang und das ende jeder wissenschaft in dunkel gehüllt seien. stanisław jerzy lec bemerkte, daß »Definition« und »Finis« die gleiche wortwurzel haben, und meinte, präzises denken sei eine einschränkung der schöpferischesn freiheit.

lec erkannte auch, menschen hätten eine spätzündung, sie begriffen alles erst in der nächsten generation, währenddessen erobere unser unwissen immer weitere welten, egon friedell, ein universaler mensch erscheine unserem kategorisierenden, etikettierendem zeitalter der spezialisten und fachgelehrten ganz unbegreiflich, unerklärlich, ja verdächtig. das größte denkhindernis ist das leben. sobald menschen lebensinteressen haben, halten sie für richtig, was sie sofort ablehnen würden, wenn es außerhalb ihres lebens geschähe.

erich fromm, der aus der psychoanalyse kam, siehe »Haben oder Sein« und »Vom Haben zum Sein«, zählt zu jenen wissenschaftlern, die durch essayistische formen und denkweisen das akademische denken überwunden haben, über das der ethnopsychoanalytiker mario erdheim, gemeinsam mit maya nadig, in »Die Zerstörung der wissenschaftlichen Erfahrung durch das akademische Milieu − Ethnopsychoanalytische Überlegungen zur Aggressivität in der Wissenschaft« nachdachte.

wer mit essays vorgefaßte meinungen vermitteln will, argumentiert schnell einseitig. das systemische kann einer repressiven und regressiven ordnung und denkart entsprechen. wer das denken vereinheitlicht, vereinfältigt es. journalistische und politische formen wie traktat, pamphlet, kolumne, glosse, leitartikel oder rede können gleichfalls merkmale des essay aufweisen, sind jedoch gemeinhin eher populärformen der meinungsindustrie, die in ihrer black box häufig in klischees denken läßt, herrschaftsgesten und legitimationsphrasen inbegriffen, dadurch einem imperialismus der sprachregelungen dient und unterm druck der eignen zwänge und des geldmacht mehr polarisiert als differenziert. c.g. jung wies darauf hin, die meisten urteilten, weil denken schwer sei. paul virilio nannte journalisten »Soldaten der Information«. heute betrachten viele die schattenspiele und überblendungen an der höhlenwand der medien, als wären diese die realität selbst. medien sind umso erfolgreicher, je weniger man sie als solche wahrnimmt. je leistungsfähiger die wahrnehmungsinstrumente, umso perfekter verflüchtigt sich die wirklichkeit. wo es an substantieller systemkritik fehlt, macht die grobe systemkritik karriere.

der kluge mensch denkt vertiefend und überindividuell, während der schlaue bloß an der oberfläche eigennützig handelt. menschen nutzen nahezu perfekt realitäten für sich aus, die sie nicht verstehen wollen. je mehr das denken der menschen manipuliert wird, umso stärker tritt egoismus an die stelle der individualität. politiker und journalisten, die gegen relativierungen wettern, sind bloß andere päpste ratzinger. lichtenberg sah, daß die beherrscher des menschlichen geschlechts den lehrern desselben sehr an rang überlegen seien. hieraus sehe man, was für ein sklavisches tier der mensch ist. egon friedell notierte, wer künde, habe nichts zu verkünden, wer weisen wolle, beweise nicht. die öffentliche meinung wäre der lärm, der entstehe, wenn die bretter, die leute vor ihrem kopf tragen, ineinanderschlagen. kraus stellte fest, nur wer ein problem nicht durchlebt habe, werde imstande sein, einen leitartikel daraus zu machen. ein agitator ergreife das wort, der künstler werde vom wort ergriffen. einer idee sei weit mehr gedient, wenn sie nicht so gefaßt wär, daß sie den geraden weg in die massen nehmen könne. nehme sie ihn durch das hindernis der persönlichkeit, so komme sie weiter, als wenn man sie populär mache. wollen wir es hoffen.

der geschwindigkeitsmediensimulationsundentwirklichungsanalytiker virilio dachte essayistisch in die zukunft hinein. dadurch wird er immer wieder neu aktuell, etwa mit büchern wie »Die Eroberung des Menschen / Vom Übermenschen zum überreizten Menschen«, »Die Sehmaschine«, »Krieg und Kino / Logistik der Wahrnehmung« oder »Ästhetik des Verschwindens«. virilio wurde häufig als kulturpessimist bezeichnet. inzwischen erkennt man, daß er mit seinen analysen und mahnungen oft recht behielt, so wenn er erklärte, die globalisierung sei die geschwindigkeit des lichts. geschwindigkeit aber rufe die leere hervor, und die leere treibe zur eile.

BEGRIFFE

unabhängige essayisten mißtrauen mechanischem und zweifellosem denken, terminologien, definitionen und gewißheiten sowie dem glauben an deren dauerhaftigkeit. sie sind skeptisch gegenüber begriffen und überhaupt abstraktem denken. friedrich hebbel, der annahm, wenn die sprache ein produkt des begrifflichen geistes wäre anstatt des poetischen, würden wir nur eine sprache haben, meinte, mein lieblingssatz von ihm, abstrahieren heiße die luft melken, lec, auf dem maskenball der begriffe gefalle sich der slogan als definition.

nietzsche sprach von »Begriffelchen« und »Winkel-Bekenntnissen« kleinbürgerlicher systemdenker. lec bemerkte: »Uns deformieren die Formeln.«, »Gipfel von Schablone: Vorbild bleiben.«, »Am Anfang war das Wort − am Ende die Phrase.«, »Analphabeten müssen diktieren.«, und forderte: »Hört auf, geistige Dürre fruchtbar zu machen.« friedell schrieb: »Begriffe, sagte Hobbes, sind Rechenpfennige. Er meinte damit, daß sie nur eine Art Auskunftmittel seien, Zeichen und Marken, Symbole. Aber man könnte das Bild noch erweitern und sagen: Sie sind auch nicht viel mehr wert als Rechenpfennige. Sie sind armselige, dünne, dürftige Dutzendware, gerade gut genug, um törichten Kindern oder leichtfertigen Spielern zu dienen. Denn ein Begriff ist, das lernt man schon in der Schule, immer sehr viel weniger als eine Wirklichkeit.«

lichtenberg nahm wahr, wir tun alle augenblick etwas, das wir nicht wissen. diese fähigkeit wird immer größer. schließlich werde der mensch im eigentlichen verstand ein denkendes tier. vernunft nähere sich der tierheit. nietzsche, der die europäischen völker die zahmen nannte, durchschaute: »Der Europäer verkleidet sich in der Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Tier geworden ist.« und »die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit sich, daß die Welt, derer wir bewußt werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt − daß alles, was bewußt wird, eben damit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird, daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewußtsein eine Gefahr, und wer unter den bewußtesten Europäern lebt, weiß sogar, daß es eine Krankheit ist.«

WAHRHEIT

lichtenberg erkannte, es wäre eine quelle unseres unglücks, daß wir glaubten, die dinge seien wirklich, was wir glauben. ein vorurteil profanen denkens ist die annahme, eine tatsache allein sei eine wahrheit. die moderne hat den begriff der wahrheit problematisiert. wahrheiten kann man sich lediglich annähern und sie nicht besitzen. erst das geistige und ideelle durchdringen von erlebtem und erfahrenem bringt uns wahrheiten näher. hebbel zeigte auf, frühere zeiten wollten von der wissenschaft bestimmte feste resultate, bestimmte aufklärungen über fragen des lebens, der moral, der kunst, mit einem wort wahrheiten. der gebildete von heute denke kaum mehr so. es gäbe keine reine wahrheit, aber auch keinen reinen irrtum. jeder irrtum wär eine maskierte wahrheit. niemand spreche eine wahrheit aus, die er nicht mit einem irrtum verzollen müsse. bierce äußerte, der beweis sei eine aussage, einen grad glaubwürdiger als eine unwahrheit. lec, der wußte, es kann keine ewigen wahrheiten geben, ewige lügen schon, schrieb, es wäre schwer, sich selbst die wahrheit zu sagen, wenn man sie kennt, die wahrheit über das leben könnte in wahrheit nur ein toter niederschreiben, ein irrtum werde dann zu einem Irrtum, wenn er sich als wahrheit zu erkennen gebe, fragte, ob man an der wahrheit vorbeigehen dürfe, antwortete, ja, wenn man ihr vorauseile, und empfahl ironisch, man sollte ein realist sein und nicht die wahrheit sprechen. gotthold ephraim lessing dachte, je größer ein irrtum, umso gerader sei der weg zur wahrheit, kraus, die persönlichkeit habe ein recht zu irren, der philister könne zufällig recht haben. wir kennen auch geistreiche und originelle irrtümer.

DUMMHEIT

lichtenberg erklärte, die menschliche dummheit wäre international, es sei ein glück, daß die gedanken-leerheit keine solche folgen habe wie die luftleerheit, sonst würden manche köpfe, die sich an die lesung von werken wagten, die sie nicht verstehen, zusammengedrückt werden, michel de montaigne, nur die dummen hätten sofort eine überzeugung fertig, friedell, gewohnheiten seien überzeugungen und überzeugungen werden dadurch gewonnen, daß man sie habe, voltaire, bloß die dummen wüßten auf jede frage eine antwort, je mehr die dummheit wiederholt werde, desto mehr bekomme sie den schein von klugheit. hebbel konstatierte, wieviel in dieser welt aufgeboten werde, um dummheit zu beweisen, lec, dessen aphoristische gedanken oft miniatursatiren sind, manchmal zynisch elegant, oder elegant zynisch, ein dummkopf folgere niemals falsch, wortlawinen rollten gewöhnlich von den bergen der dummheit und ein gedankenloch könne man schlecht mit der wirklichkeit vollstopfen, kraus, er hätte einen gekannt, der die bildung in der westentasche trug, weil dort mehr platz war als in seinem kopf, ernst jünger, wenn es gelte, in masse über einen einzelnen herzufallen, seien die deutschen immer dabei, es müsse nur ungefährlich sein.

wer täglich im laufrad sitzt, wird bald zum geistigen hamster. vermutlich empfinden viele geistige leere als erholung vom streß der beschleunigungen des alltags. alle haben jene vorurteile, und damit, voreingenommen, also vereinnahmt, häufig fehlurteile, die ihnen nutzen. werden solche urteile kollektiv, können ganze menschengruppen den verstand verlieren. aktuelle verschwörungstheorien sind eine neue form der alten feindbilder. das gewerbe der lügenundbetrugsberater boomt. da muß man sich über verschwörungserfinder und verschwörungsgläubigkeit nicht wundern. meinungsumfragen fragen ab, wieviel prozent der bürger an die gerad vorherrschenden manipulierten stimmungen, meinungen, ressentiments und aversionen glauben.

die heutige dummheit ist vor allem eine dummheit des privaten, die sich durch medien und meuten vervielfacht. jede generation glaubt, eine veränderung der erscheinugsformen des dummen würde die dummheit insgesamt überwinden, die eben deshalb weiterlebt. geistige und kulturelle beschränktheit sind praktisch permanente modeerscheinungen. und moden dienen der kapitalvermehrung. für manche ist das denken bloß ein hammer oder eine kneifzange.

die meisten menschen wissen nicht, wann und wo sie leben. keine gegenwart hat ein realistisches bild von sich selbst. die gegenwart ist immer von gestern. für die zukunft muß man selber denken. wer nur seine eigne zeit sieht, bleibt hinter seiner zeit zurück. spätere generationen wird nicht mehr interessieren, ob wir heute angenehm leben, sondern viel eher, wie genau wir unsere gegenwart wahrnahmen und künftige entwicklungen voraussehen und entsprechend handeln konnten. und dafür braucht man ein kritisches bewußtsein. wie sehr darf der mensch seine gegenwart durchschauen, wenn er danach noch leben will?

GESCHICHTE

schon die studien des aristoteles könnte man essayistisch nennen. viele frühe essayisten waren geschichtsschreiber, so herodot, thukydides, xenophon, strabon, plutarch und flavius josephus, bei denen man teils bereits den anspruch der neutralen wahrheitssuche und relativer objektivität findet. emile m. cioran bemerkte, wenn man die geschichte nicht kenne, bleibe man auf immer ein kind, das nie erwachsen wird. am beginn unserer zivilisation habe sich homer den luxus der objektivität geleistet. bei uns antipoden einer spätepoche gebe es nur noch raum für eine attitüde, womöglich selbst auf der jenseitigen erdseite, der idealist lessing, die geschichte solle nicht das gedächtnis beschweren, sondern den verstand erleuchten, voltaire, geschichte sei eine lüge, auf die man sich geeinigt hat. lec stellte fest: »Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht.«, »Hätte ich damals gewußt, was ich heute weiß, wüßte ich es heute nicht.«, »Ich kenne Folgen, die sich jedes Jahr neue Ursachen suchen.«, »Schreckgespenst der Zukunft: Denkmäler, die reden.«

friedell erkannte: »Daß man das Weltalter, das um zwei bis drei Jahrtausende jünger ist als das unsere, das Altertum nennt, beruht auf derselben naiven Optik, nach der wir uns unseren Großpapa unter allen Umständen als alten Herrn vorstellen, während er doch in Wirklichkeit zweifellos jünger war als wir, nämlich wärmer, unkomplizierter, kindlicher.« und er sah voraus: »Es ist sehr wahrscheinlich, daß man eines Tages die Ruinen unserer Funktürme ebenso schlüssellos anstaunen wird, wie wir die ägyptischen Tempelriesen, und unseren Logarithmentafeln dasselbe rein kulturhistorische Interesse entgegenbringen, mit dem wir die Tontafeln betrachten.« die postmoderne these vom »Ende der Geschichte«, die eine unbegrenzte herrschaft der einen, samt ihrer herrschaftsformen, über die andern meinte, wäre wortwörtlich verstanden das ende der menschheit. und selbst dann ginge die naturgeschichte weiter.

AUFKLÄRUNG

aufgeklärt und modern sein heißt eigenständig denken und aufklären hinterfragen und entgegnen, unabhängig von ideologien, konventionen und einem zeitgeist. wer selber denken will, muß gegenüber normen und regeln mißtrauisch sein, zumal schablosenhaften. erkennen verlangt, aversionen und illusionen zu überwinden. hebbel schrieb gegen vorurteile, manches, das man ohne grund verwerfe, müsse man studieren, um es mit grund verwerfen zu können. bei voltaire liest man, das wahrste wort der menschensprache heiße vielleicht, bei lessing, das aber koste überlegung. friedell bemerkte, wir fänden ein zeitalter umso aufgeklärter, je mehr rätsel es hinterlasse. alles aktiviere sich, wenn sich die widersprüche häuften. kultur sei reichtum an problemen. freilich kann etwas, das schöpferisch befördert, zugleich sozial verheerend sein und etwa gewalt bewirken.

friedell hob hervor, aus denselben gründen, aus denen kant ein system schuf, ja schaffen mußte, war es für lichtenberg unmöglich, seine philosophischen erkenntnisse zu einer gesamtkonstruktion zu ordnen. lichtenberg wäre nicht der »Psychologie der Laboratorien und Statistiken gefolgt, sondern der »Psychologie der lebendigen Selbstbeobachtung, der unerbittlichen Autovivisektion«. lichtenberg sei der scharfe schlagschatten, den das licht der aufklärung warf, und es wär eine der absurditäten, gemeint sind paradoxien, der literaturhistorie, daß dieser schatten länger und kräftiger sichtbar geblieben ist als jenes licht, da der aufklärer lichtenberg, der souverän und distanziert beobachtete, auch bereits die negativen wirkungen der aufklärung durchschaute, wie später theodor w. adorno in »Kritik der instrumentellen Vernunft« sowie max horkheimer und adorno in »Dialektik der Aufklärung«.

das reflexive denken ist das wichtigste erbe der aufklärung, und der kritik derselben, weil es sich immer wieder neu anwenden läßt, während politische, soziale, wirtschaftliche, finanzielle, religiöse und kulturelle systeme zerfallen und vergehen. der europäische geist will reflektieren. und das sollte so bleiben, zumal es vor groben weltbildern schützen kann. das wahrnehmen von gegensätzen und differenzen, in denen man nicht verharrt und die man nicht verhärtet, ermöglicht sublimierungen des ambivalenten. freilich besteht die gefahr, daß man etwas zerreflektiert und vor lauter deutungsnuancen, die als spiegelbilder ihre gegenstände überblenden, das inhaltsganze und wesentliche aus dem blick verliert. wo alles beliebig wird, dienen auch die dogmen der steigerung der indifferenz.

einer der wichtigsten sätze über das denken, der zum geflügelten, also befiederten, wort wurde, ist: »Ich weiß, daß ich nicht weiß.« cicero führte diesen satz, der sich ursprünglich gegen scheinwissen richtete, auf sokrates zurück. montaigne kommentierte, nichts werde so fest geglaubt als das, was wir am wenigsten wüßten, man müsse viel lernen, um zu erkennen, daß man wenig wisse, friedell, die wirklichkeit sei immer und überall gleich, nämlich unbekannt, paul valéry, dichter, philosoph und essayist, würde der mensch niemals irren, fände er nichts, lec, unter allen menschlichen entdeckungen sollte die entdeckung der fehler die wichtigste sein, bertolt brecht: »Was du nicht selber weißt, weißt du nicht.«

FRANZÖSISCHE ESSAYISTEN

als begründer des essay der neuzeit gilt montaigne, humanist, differenzierer und skeptiker, alldas gehört zusammen, undogmatisch, tolerant und fast frei von vorurteilen, der behaupteten absoluten wahrheiten mißtraute und die relativität seines denkens und des denkens überhaupt betonte. friedell, dem bewußt war, montaigne habe die welt weder beherrschen noch willenlos hinnehmen wollen, äußerte: »auch Hamlet hatte Montaigne gelesen und gelangte durch ihn zu der sehr tiefen Einsicht, daß jeder Handelnde, indem er Partei ergreift, notwendig beschränkt, ungerecht, grausam sein muß, daß die Tat der Unsinn ist.« ja wirklich, montaigne lebte vor william shakespeare.

friedell bekannte, voltaire, der annahm, man könne die menschen zur vernunft bringen, indem man sie dazu verleite, selbst zu denken, sei die essenz ganz frankreichs und des gesamten 18. jahrhunderts. wenn die welt heute nur noch zu zwei fünfteln aus schurken und zu drei achteln aus idioten bestehe, so wäre das zu einem großen teil voltaire zu verdanken. barthes schrieb: »Essayist ist man, weil man Kopfmensch ist.« französische denker wie barthes haben auch, oder gerade, als kopfmenschen, charme, von michel de montaigne, denis diderot, voltaire und germain de staël über jules michelet, charles baudelaire, jean-henri fabre, gaston bachelard, emile durkheim, henri bergson, paul claudel, andré gide, paul valéry, marcel mauss bis zu andré breton, louis aragon, georges bataille, michel leiris, jean-paul sartre, albert camus, mircea eliade, maurice blanchot, claude lévi-strauss, maurice merleau-ponty, simone weil, simone de beauvoir, emile m. cioran, roger caillois, philippe ariès, marguerite duras, roland barthes, jean-françois lyotard, jacques derrida, gilles deleuze, michel foucauld, jean baudrillard, michel serres, paul virilio, hélène cixous und julia kristeva.

ENGLISCHE UND ANDERE ESSAYISTEN

novalis behauptete: »Jeder Engländer ist eine Insel.«, lichtenberg: »In England hat beinah jedermann seine eigene Meinung.«, friedell: »Eine Sache ist wahr, weil sie zu mir paßt, das ist die Metaphysik der Engländer.«, »An der Wiege Europas schenkte Gott dem Engländer das Talent zum Erfolg, dem Franzosen die Gabe der Form, dem Deutschen aber die Sehnsucht.«, was freilich von historischen entwicklungen abhing, voltaire: »Die Deutschen sind die Greise von Europa, die Engländer die Männer, die Franzosen die Kinder.« und: »Die Engländer haben zweiundvierzig Religionen, aber nur zwei Saucen.«, arthur schopenhauer: »Jede Nation spottet über die andere, und alle haben Recht.« lichtenberg spottete am meisten über die deutschen: »Sag, ist noch ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?«

wichtige englischsprachige essayisten waren thomas horus, thomas hobbes, daniel defoe, jonathan swift, lord byron, edgar allan poe, james george frazer, ezra pound, robert ranke-graves, marshall mcluhan, susab sontag und doris lessing. genannt seien außerdem die italiener dante alighieri und giorgio agamben, die niederländer erasmus von rotterdam und johan huizinga, die mexikaner octavio paz und carlos fuentes, der argentinier jorge luis borges, der spanier jorge guillén, der belgier maurice maeterlinck, der schwede gunnar ekelöf, der kroate miroslav krleža und der serbe duśan matić.

DEUTSCHE ESSAYISTEN

friedell registrierte, nichts wäre im menschen, auch im scheinbar aufgeklärtesten, fester verwurzelt, als der glaube an irgendwelche autoritäten. die menschheit pflege nämlich alles wirkliche erst dann ernst zu nehmen, wenn es nicht mehr ernst zu nehmen ist, wenn es eingelebt sei, was aber dasselbe bedeute wie ausgelebt, wenn es eine institution, das heißt rückständig geworden ist, denn institutionen seien immer rückständig. lichtenberg fand, die meisten menschen nähmen die meinungen so an, wie sie von anderen gemacht worden sind, der deutsche gehe darin unbegreiflich weit, nietzsche, der unmittelbar der moderne vorausging, befehlen könne nur, wer zum gehorchen geboren wär, der mensch müsse etwas haben, dem er unbedingt gehorchen könne, das sei eine deutsche empfindung, eine deutsche folgerichtigkeit, man begegne ihr auf dem grunde aller deutschen morallehren, hebbel, der deutsche wäre der geborene infinitiv, er lasse sich nicht deklinieren.

deutsche intellektuelle neigten, sofern das kein sich hartnäckig haltendes vorurteil ist, zum belehrenden und thesenhaften wohl auch, weil sie länger um grundsätzliche freiheiten des denkens kämpfen und streiten mußten, während englische und französische denker früher differenzieren und relativieren sowie über das subtile und nuancierte nachdenken konnten. elias canetti befand, es sei ein erblaster des intellektuellen, daß die welt für ihn aus intellektuellen besteht, kafka, die logik wäre zwar unerschütterlich, aber einem menschen, der leben wolle, widerstehe sie nicht.

deutsch mochte man lange die mischform des essay nicht. hagedorn vermerkt: »Der Essay ist eine Form, die in der deutschen Literaturgeschichte nicht viele Gewährsleute hat. Adorno und Hans Magnus Enzensberger beklagten sich darüber schon in ihren literaturkritischen Essays, die sie zu den wenigen deutschsprachigen Vertretern dieser Gattung machten.« dennoch gibt es wichtige und weiterwirkende deutschsprachige essayisten, also schriftsteller, dichter, philosophen und naturforscher, wie: johann reuchlin, martin luther, gotthold ephraim lessing, moses mendelssohn, johann georg hamann, christoph martin wieland, georg christoph lichtenberg, johann gottfried herder, johann wolfgang von goethe, friedrich schiller, georg forster, johann peter hebel, jean paul, johann gottlieb fichte, alexander von humboldt, georg wilhelm hegel, immanuel kant, friedrich von schlegel, novalis, friedrich von schelling, friedrich schleiermacher, karoline schelling-schlegel, bettina von arnim, heinrich von kleist, heinrich heine, ludwig börne, christian dietrich grabbe, friedrich hebbel, georg büchner, arthur schopenhauer, ludwig feuerbach, karl marx, friedrich engels, friedrich nietzsche, alfred brehm, ernst haeckel, sigmund freud, c.g. jung, rainer maria rilke, ricarda huch, else lasker-schüler, rosa luxemburg, heinrich mann, thomas mann, theodor lessing, karl kraus, egon friedell, robert musil, martin heidegger, martin buber, ernst bloch, kurt tucholsky, walter benjamin, theodor w. adorno, gershom scholem, siegfried kracauer, max horkheimer, hannah arendt, günther anders, erich fromm, mario erdheim, elias canetti, hugo ball, paul celan, konrad lorenz, gottfried benn, karl heinz bohrer, helmut lethen, friedrich dürrenmatt, max frisch, sergius golowin, peter von matt, peter bürger, arno schmidt, helmut heißenbüttel, walter höllerer, hans magnus enzensberger, peter rühmkorf, dieter e. zimmer, günter kunert, peter sloterdijk, rüdiger safranski, peter härtlimg, hans peter duerr, hans mayer, bertolt brecht, anna seghers, stephan hermlin, jürgen kuczynski, christa wolf, gerhard wolf, günter de bruyn, franz fühmann, raoul schrott, ulrike draesner und uljana wolf.

natürlich kann eine solche namensliste nie vollständig sein. ich erwähne nur autoren, von denen ich etwas gelesen habe, oder gehört, meist im rundfunk, und von deren substanz ich überzeugt bin, auch wenn nur ein bemerkenswerter essayischen text existiert, so bei celan die büchnerpreis-rede. das heißt jedoch nicht, daß ich allen ihren gedanken zustimme. mitunter zeigt sich erst nach vielen jahren, wer bedeutend ist. wie viele frauen sowie kinder katholischer pfarrer konnten keine essayisten werden, die ersten, da man ihnen bildung verweigerte, die zweiten, weil sie nicht geboren wurden?

die funkessays von arno schmidt wirken längst traditionsbildend. die verschiedenen diskursfiguren darin ermöglichen unterschiedliche perspektiven auf einen schriftsteller und dessen bücher und ein permanentes relativieren, zu dem auch ironische, parodistische und persiflierende passagen gehören. als die besten der schmidtschen funkessays empfinde ich jene über barthold heinrich brockes, friedrich gottlieb klopstock, karl philipp moritz, karl gutzkow, die brontë-schwestern und james joyce, außerdem seine schriften über jean paul. benjamin verfaßte zwischen 1929 bis 1933 85 rundfunkbeiträge. alban nikolai herbst schrieb, wenn ich mich richtig erinnere, einen funkessay über arno schmidt im stil der funkessays von arno schmidt. der film »Histoire(s) du cinéma« von jean-luc godard besteht fast einzig aus filmzitaten, »Nouvelle Vague« aus textzitaten. auf diese weise wurden beide filme zu filmessays. kunstvolle zitierer können gleichfalls künstler und dichter sein. ein solches zitieren bedeutet aber nicht kopieren, sondern herbeirufen, einfangen, pflücken sowie montieren, collagieren, korrespondenzen, symbiosen, sympathien schaffen.

SKEPSIS

autarke essays sind immer auch denkkritik. ein wichtiges merkmal guter essayisten ist skepsis, eine zivilisationsleistung, die stets, und von jeder generation, neu erlernt werden muß. lichtenberg wußte, wahrhaftes unaffektiertes mißtrauen gegen menschliche kräfte in allen stücken sei das sicherste zeichen von geistesstärke, dinge zu bezweifeln, die ganz ohne weitere untersuchung jetzt geglaubt werden, wäre die hauptsache überall, dem großen genie falle überall ein, könnte nicht auch dieses falsch sein, es gebe seine stimme nie ohne überlegung, sobald einer ein gebrechen habe, hat er eine eigene meinung, lichtenberg konnte unter anderem deshalb krumm denken, weil er einen buckel hatte, an dem er die systemdenker runterrutschen ließ, valéry, denker seien leute, die aufs neue denken, daß das, was vorher gedacht worden sei, niemals hinreichend bedacht worden sein kann, tucholsky, nichts wäre schwerer und erfordere mehr charakter, als sich in offenem gegensatz zu seiner zeit zu befinden und laut zu sagen: nein.

montaigne erkannte, philosophieren heißt zweifeln, hebbel, das leben sei ein traum, der sich selbst bezweifle, voltaire, je mehr man wisse, umso mehr bezweiflte man, novalis: »Wer sucht, wird zweifeln.« und »Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.« frühe skeptiker und relativisten waren sophisten wie protagoras, kritias und antiphon von athen. die christliche skepsis war immer stark moralisch grundiert. nietzsche erklärte, der polytheismus hingegen wäre frei, eine kraft, sich neue und eigene augen zu schaffen, und immer wieder neue und noch eigenere, vielgötterei ist auch sehr viel moderner als der eine gott, in den man alles hineinprojiziert, was ihn, den menschen ohnehin fern und fremd, überfordern muß, und: »Zweifel am Zweifel. »“Welch schönes Kopfkissen ist der Zweifel für einen gut gebauten Kopf“ − dies Wort Montaignes hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte niemanden gerade so sehr nach einem guten Kopfkissen, als ihn. Woran fehlte es doch?«, cioran, skepsis sei die eleganz der angst.

friedell formulierte: »Der Skeptiker weiß alles und belächelt alles. Der Idealist nimmt die Wirklichkeit nicht ernst. Demgegenüber sagt der Realist zum Idealisten: Ich nehme deine Welt der Ideen nicht ernst. Der Skeptiker nimmt alle beide nicht ernst. Für ihn ist die Welt nichts als eine ewige Schaukel.« und: »Wenn ein Zeitalter kommt, in dem alles zu schwanken beginnt, die politischen, die ethnischen, die theologischen, die künstlerischen Werte, dann hat der Skeptiker das große Wort.« zum skeptiker nietzsche schrieb friedell: »Er sucht Tiefen auf, die ihn verschlingen, und mit dem Bewußtsein, daß sie ihn verschlingen. Er ist eine Warnung: Hier ist’s tief. Aus jedem seiner Sätze spricht die ergreifende Mahnung: Folget mir nicht nach!« lec empfahl spöttisch: »Sei kein Skeptiker. Beginne endlich an die Existenz des immanent Bösen zu glauben.«

hebbel verstand, wer damit anfange, daß er allem traut, werde damit enden, daß er jeden für einen schurken halte. voltaire riet, man solle menschen eher nach ihren fragen als nach ihren antworten beurteilen. beim zweifler kafka lesen wir: »Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur.« lec gab den rat: »Wo Antworten mit einem Fragezeichen stehen, sollten Fragen mit einem Ausrufezeichen enden.« und: »Gebrauche keine Worte, die selbst nicht wissen, was sie bedeuten.«, lichtenberg: »Von jedem Wort muß man sich wenigstens ein mal eine Erklärung gemacht haben, und keines brauchen, das man nicht versteht.«

kafka meinte: »Der Geist wird frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.« menschen, die auffallend objektivierend denken, sind oft traumatasiert. der grübler bewahrt sich durch sein grübeln vor der grube. vielleicht leben pessimisten sogar länger, weil sie gefahren besser wittern und eher vorkehrungen gegen sie treffen. lec ließ uns wissen: »Ich bin Optimist. Ich glaube an den erlösenden Einfluß des Pessimismus.« auch, und gerade, dem fortschritt gegenüber sollte man skeptisch sein. alles positive, vorteilhafte, ermutigende hat auch negative, nachteilige und schädliche seiten, und umgekehrt. friedell notierte: »Aller Fortschritt nämlich zersetzt, trennt, löst auf, zersplittert kompakte Soliditäten, zerreißt althergebrachte Zusammenhänge, zerstört, sprengt in die Luft. Aller Fortschritt hat das Thema, das Dasein zu irrationalisieren, es widerspruchsvoller und fragwürdiger, tiefer, bodenloser zu machen.«

IST GOTT TOT?

bei nietzsche lesen wir: »Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang seinen Schatten in einer Höhle«, hier klingt platons höhle an, »einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist tot: aber so wie die Art von Menschen ist wird es vielleicht noch jahrhundertelang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. − Und wir − wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen.«, »Gott ist tot.« stimmt so ganz denn doch nicht, was nietzsche bewußt war: »Ich komme zu früh.« und »Ich bin noch nicht an der Zeit.« erst das morgen gehörte ihm. friedell äußerte: »Nietzsche war die größte Glaubensstimme des Westens, wie Dostojewski die letzte des Ostens war: denn wenn wir diesen als den letzten Byzantiner und Luther als den letzten großen Mönch bezeichnen, so könnte man Nietzsche den letzten großen Kirchenvater nennen.«, der die religion und gott, indem er sie verwarf, noch ernst nahm und eine art glaubensgründer dessen wurde, was man heut das westliche denken nennt.

auf anderen kontinenten glauben noch milliarden an den gott ihrer religion, der ihre größte projektionsfläche ist. die europäer wurden weitgehend gottlos, und, auf andere weise, die chinesen. aber auch außerhalb der religionen gibt es gottähnliche figuren, die gott ersetzen. lec nahm wahr: »Menschen, die wie Götter verehrt werden, verlieren mit der Zeit tatsächlich ihre menschlichen Züge.« wer in einem glauben erzogen wurde, findet nach glaubensbrüchen häufig neue glaubensgründe, weil die glaubensstrukturen erhalten bleiben und lediglich die glaubensinhalte ausgetauscht werden. wenn apologetisch und legitimistisch geprägte und veranlagte menschen nicht mehr weiter wissen, weil ihnen argumente fehlen, führen sie oft lebensreale tatsachen auf ideologische faktoren zurück, während die kausalität eher umgekehrt stimmt.

götter bleiben als das fehlende. wem nichts fehlt, der braucht auch keine götter. zugleich müßte es das ziel religiösen denkens sein, menschen vom glauben zu befreien. glauben muß allein, wer glaubt, daß etwas ohne glauben seine substanz verliert. der wirklich religiöse mensch muß an keinen gott glauben, ja kann ihn sogar verspotten, da er das göttliche in sich trägt. der mystiker, der vollständig im göttlichen aufginge, bräuchte keinen glauben mehr. freilich hat das noch niemand erreicht. der glaube an den guten menschen ist eine nachfolgeform des glaubens an den lieben gott. was bleibt vom menschen übrig, wenn wir ihn erkannt haben?

lichtenberg bemerkte, er danke es dem lieben gott tausendmal, daß er ihn zum atheisten hat werden lassen. denn erst müßten wir glauben und dann glaubten wir. es wäre ein wesentlicher unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. noch glauben, daß der mond auf die pflanzen wirke, verrate dummheit und aberglauben, es aber wieder glauben zeuge von philosophie und nachdenken. er könne sich eine zeit denken, welcher unsere religiösen begriffe so sonderbar vorkommen wie der unseren der rittergeist.

UTOPIEN

marx und brecht erklärten, denken heiße verändern, und zwar unabhängig von ideologien, morallehren, konventionen und einem zeitgeist. benjamin äußerte, daß es immer so weitergehe, wäre die katastrophe. weniger das jeweils bevorstehende, sondern mehr das gegebene schränkt die handlungsmöglichkeiten ein. benjamin soll zu brecht in dessen dänischem exil gesagt haben, eigentlich sei kafka der erste kommunist. und brecht hätte erwidert, dann wär er der letzte katholik. diese etwas unernste antwort richtete sich auch gegen utopiegläubigkeit. benjamins beobachtung ist indes nicht ganz verkehrt, wenn man etwa an kafkas »Amerika«-roman denkt.

radikal zu denken ist sinnvoll, denkt man dabei die endkonsequenzen mit und weiß entsprechend zu relativieren. manche menschen handeln radikal, gerade weil sie nicht genügend über die folgen nachdenken. wer äußere punkte im denken erreicht hat, kann durch relativierungen den weg des richtigen maßes suchen, während die radikalität der außenpunkte, die im hinterkopf bleibt, vor anpassungen ans vorgeprägte warnt, die abhängig und ohnmächtig machen können.

der sinn von utopien besteht nicht im glauben an deren realisierbarkeit, der schnell irreleitet und gewissermaßen hinters licht führt, wo man dann im dunkeln steht, sondern in der notwendigkeit eines geistigen vorlaufs sowie des voraussehens künftiger chancen und gefahren. wenn sie das vorhandene am idealen, besseren, gerechteren messen lassen, können utopien ein kritikpotential jeder gegenwart gegenüber sein. eines der haupthindernisse für den humanen fortschritt von gesellschaften ist die manipulierte hoffnung. indem menschen, vertrauensselig, glauben, ihr aktuelles handeln führe notwendig, ja zwangsläufig, zu etwas besserem, tun sie bloß, was sowieso geschieht.

jean paul stellte fest, das schönste, das wir in der vergangenheit angetroffen hätten, sei die hoffnung gewesen, heiner müller, hoffnung wäre nur ein mangel an information, cioran, hoffnung heiße, die zukunft dementieren, lec, wer den himmel auf erden suche, habe im erdkundeunterricht geschlafen, den himmel auf erden finden bedeute, den boden unter den füßen verlieren, der hahn besinge sogar den morgen, an dem er in den suppentopf kommt. lichtenberg fragte, wenn der mensch, nachdem er hundert jahre alt geworden, umgewendet werden könne, wie eine sanduhr, immer mit der gewöhnlichen gefahr, zu sterben, wie würde es da in der welt aussehen.

das moderne philosophische denken, dem die analyse voran und auf den grund geht, ist erheblich vom jüdischen, also utopischen, denken und insbesondere jüdischer paradoxie geprägt. ohne paradoxie gibt es keine dialektik. nicht wenige materialistische jüdische philosophen hatten rabbiner unter ihren vorfahren. am jüdischen denken können wir sehen, wie bildung, mit und neben der religion, eine verfolgte kultur über jahrhunderte und jahrtausende hinweg überleben läßt, und damit vorbild für außenseiter und bedrängte in jeder zukunft sein kann.

DENKEN UND (VER)DICHTEN

französisch essai, das versuch, test, essay, (kost)probe bedeutet, essayer versuchen, testen, erproben, und deutsch essay, auch versuch, was das wort eigentlich meint, aufsatz; abhandlung, schrift, probe oder übung genannt, gehen zurück aufs spätlateinische exagium = das abwiegen, (ab)wägen, gewicht, wiegen einer münze, abgeleitet von exegere = prüfen, untersuchen, überlegen, beurteilen, abwiegen, (ab)wägen, erwägen. abwägendes denken ist ein merkmal essayistischen schreibens. im aktuellen synonymwörterbuch des duden fehlt das wort »Essay«, das zwischen »Esprit« und »essbar« stehen müßte.

literarische essay, denkversuche, gedankenexperimente, versuchsanordnungen, die sich ihre eigenen regeln schaffen und nicht unbedingt fußnoten brauchen, geben selten definitive antworten und stellen vielmehr fragen, indem sie ihre gegenstände geistreich, nachdenklich, reflexiv, differenzierend, relativierend, nicht-systemisch, skeptisch, undogmatisch, ungebunden, ergebnisoffen, vorläufig, vermutend, andeutend, paradox, lakonisch, sarkastisch, polemisch und pointiert erkunden und ergründen.

das gilt auch für rezensionsessays. friedrich schlegel forderte, die echte rezension solle die auflösung einer kritischen gleichung, das resultat und die darstellung eines philosophischen experiments und einer literarischen recherche sein. die fragmente der jenaer frühromantiker kommen der essayform nahe, ebenso die manifeste der dadaisten, surrealisten und futuristen. der essay ist in vielem der große bruder des aphorismus. die grenzen sind fließend. bei vielen essayisten, die aphoristische denker sind, lichtenberg, voltaire, friedrich schlegel, novalis, jean paul, schopenhauer, nietzsche, valéry, kraus, canetti, barthes oder cioran, gehen beide formen ineinander über.

susan sontag schrieb: »Barthes war ein inspirierter, einfallsreicher Adept des Essay und des Antiessay − die lange Form war ihm nicht gemäß. Typisch für ihn sind komplexe, kommagespickte und kolongesättigte Sätze, voller gedrängt formulierter Folgerungen aus Gedanken, als wären diese die Form einer geschmeidigen Prosa.« der stil von barthes, einem meister der verdichteten sprache, der an tuberkulose, früher schwindsucht geheißen, erkrankt war, wie kafka, ist aphoristisch. außer atem sein führt zur verknappung. auch brief und tagebuch können essayistische formen annehmen, wenn man etwa an die briefe von kleist, büchner oder kafka oder die tagebücher hebbels denkt, ja sogar autobiographien, diese legenden, an die manche, die illusionen folgen wollen, tatsächlich glauben.

da essayisten nichts beweisen und in keinem akademischen theorieundthesenwettbewerb mit anderen konkurrieren, ja nicht einmal recht behalten müssen, können sie ungezwungen experimentieren. der essay verbindet das philosophische mit dem dichterischen und umgekehrt. essayisten sind die dichter unter den denkern und die denker unter den dichtern. friedrich schlegel postulierte, ein philosoph müsse von sich selber reden so gut wie ein lyrischer dichter. friedell sah: »Der echte Philosoph ist dem Künstler viel verwandter, als gemeinhin angenommen wird. Das Leben gilt ihm ebenso wie diesem als Spiel, und er sucht die Spielregeln zu ergründen − nicht mehr. Auch er erfindet und gestaltet, aber während der Künstler möglichst viele und vielfältige Individuen abzubilden sucht, zeichnet der Denker immer nur einen einzigen Menschen − sich selbst, den aber in seiner ganzen Vielartigkeit. Jede tiefempfundene Philosophie ist nichts anderes als ein autobiographischer Roman.«

bei lichtenberg liest man: »Wenn man die Menschen lehrt wie sie denken sollen und nicht ewig hin, was sie denken sollen, so wird auch dem Mißverständnis vorgebeugt.« und »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt es blitzt. Zu sagen cogito ist schon viel, sobald man es durch ich denke übersetzt.«, und friedell erörterte: »Hier ist der Phänomenalismus bis an die äußerste Grenze gedacht.« friedell hob hervor, dichter seien die absonderlichen, tastenden, unsicheren, gefahrvollen essays der natur, komplizierte, kostbare und schwer verständliche versuchsmaschinen der evolution, das wort versuchsmaschinen würde ich durch versucher ersetzen, der dichter wäre schließlich nichts anderes als ein mensch, der von der zukunft mehr versteht als von der gegenwart, kraus, kunst sei das, was welt wird, nicht was welt ist. künstler werde einer, der aus einer lösung ein problem machen könne.

lichtenberg wußte, ein aufmerksamer denker finde in den munteren spiel-schriften kluger köpfe mehr lehrreiches und feines als aus den vielen ernsthaften werken, das formelle, konventionelle, etikettenmäßige falle da gemeinhin weg, durch die planlosen streifzüge der phantasie werde nicht selten das wild aufgejagt, das die planvolle philosophie in ihrer wohlgeordneten haushaltung gebrauchen könne, groß sei der mensch, der nach seinem tod die anderen in verlegenheit lasse, friedrich schlegel, die wichtigsten wissenschaftlichen entdeckungen seien philosophische bonmots ihrer gattung, hebbel, sich weiter entwickeln heiße für die meisten, von sich abfallen, novalis, je verworrener ein mensch wäre, man nennt die verworrenen oft dummköpfe, desto mehr kann durch fleißiges selbststudium aus ihm werden, während die geordneten köpfe trachten müssen, wahre gelehrte, gründliche enzyklopädisten zu werden, jünger, ein guter satz habe viele offene fenster, indem er vieldeutig ist. dies sollte jeder wissen, der behauptet, er denke.

sloterdijk sieht: »Wer für die Muße lernt, übt eine freie Tätigkeit aus.« »Die biologische Verlängerung der Jugendphase bedeutet, daß Tiere entstehen, die mehr spielen und probieren, die von Natur aus Essayisten sind und eine verlängerte Gehirnreifungsphase haben.«, »Was man am Kleinkind deutlich sieht, geht dem Schulkind in der Regel verloren.«, beim schreiben von essays können somit auch individuelle fähigkeiten zurückgewonnen werden, die der mensch durch seine gesellschaftlichen prägungen, das sogenannte erwachsenwerden, für das man zunächst die falschheit der menschenwelt erkennen sollte, meist verliert, »Intelligenz ist das letzte utopische Potential. Die einzige terra incognita, die die Menschheit noch besitzt, sind die Galaxien des Gehirns, die Milchstraßen der Intelligenz.«, »Die Rettung der kognitiven Libido müßte das Kernprojekt der Schule werden.«, lec: »Kinder suchen immer nach dem Geheimnis jenseits des Spiegels. Nur wir Erwachsenen begnügen uns mit unserer flachen Vordergründigkeit.« jean paul erklärte: »Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, sie müssen auch gehen.«

bachelard, der barthes anregte, neben mauss einer der urväter des strukturalismus, war zunächst wissenschaftstheoretiker, ehe er als philosoph und poetologe phänomenologisch dachte und essayistisch schrieb. der junge barthes hatte sein strukturalistisches und linguistisches, also theoretisches, denken und vokabular derart perfektioniert, daß er damit die begriffliche sprache persiflieren konnte. doch bald wandte er sich vom akademischen denken ab: »Alles, nur nicht die Regel (die Allgemeinheit, das Stereotyp, der Idiolekt: die konsistente Sprache.)«, und: »Sobald ich benenne, bin ich benannt: gefangen in der Rivalität der Benennungen.« er warf nun seinen wissenschaftlichen kollegen, die sich nicht befreien konnten oder wollten, »ein Denken in abgeschlossenen Strukturen und Sinnsystemen«, begriffsgläubigkeit und begriffsdogmatismus vor.

der phänomenologische barthes suchte und betonte das offene, relative, driftende im wahrnehmen, die abweichungen, verwandlungen, variationen und zwischenräume. literatur sah er als kunst. vom schreiben gäbe es nur eine wissenschaft, postulierte er, das schreiben selbst. allein mit streng definierten wissenschaftlichen begriffen kann man literarischem reichtum nicht entsprechen. lust am text entsteht für ihn durch das gestalten, entdecken und deuten von substantiell neuem. »Die Lust am Text gleicht jenem unhaltbaren, unmöglichen, rein romanhaften Augenblick, den der Libertin am Ende des Ablaufens einer gewagten Maschinerie genießt, wenn er das Seil, an dem er hängt, im Augenblick seiner Wollust kappen läßt.« das erinnert an szenen bei kleist, dessen essay »Über das Marionettentheater« einer der bedeutendsten essays der deutschen literatur ist, und kafka.

nietzsche unterstrich: »Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, daß ihm befohlen werden muß, wird er gläubig, umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewißheit den Abschied gibt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence

sontag nannte die bücher von barthes »antibekenntnishaft«. »Etwas wie Walter Benjamins tragisches Bewußtsein, daß jedes Werk der Zivilisation zugleich eines der Barbarei ist, fehlt ihm völlig.« »Barthes, der sich weder von den Katastrophen der Moderne noch von deren revolutionären Illusionen verführen ließ, hatte eine posttragische Sensibilität. Er bezieht sich auf die gegenwärtige literarische Epoche als „einen Moment freundlicher Apokalypse.“ Glücklich der Schriftsteller, der solch einen Satz äußern kann.«, »Anstelle moralistischer Antithesen − Wahr gegen Falsch − Gut gegen Schlecht − bietet Barthes komplementäre Extreme.« »Wie alle großen Ästheten war Barthes ein Experte des Sowohl-Als-Auch.« wie barthes entwickelte sich benjamin zum phänomenologen. sontags essay sind scharfsinnig, analytisch, intellektuell, nüchtern, direkt, leidenschaftlich, energisch, entschlossen, kämpferisch, unerschrocken, polemisch und auch parteiisch.

essayisten, die nicht den gesellschaftlichen erwartungen, also konventionen und dogmen, entsprechen, werden allerdings schnell einsam. börne schrieb, wie es unter einer million menschen nur tausend denker gebe, so gibt es unter tausend denkern nur einen selberdenker, lec, wenn einem philosophen ein licht aufgehe, wäre es für den andern immer ein schatten, hebbel, das leben sei eine plünderung des inneren menschen, ein mann mit einer neuen idee gelte so lange als verschroben, bis er erfolg habe, cioran, gegenüber jedem erlebnis trete der geist als spielverderber auf, heine, überall, wo ein großer geist einen gedanken ausspricht, wär golgatha, cicero, wenn er allein sei, wäre er am wenigsten allein. auf seine frage: »Was ist das Siegel der erreichten Freiheit?« antwortete nietzsche: »Sich nicht mehr vor sich selbst zu schämen.« das könnte auch kafka, den die scham vertilgen wollte, geschrieben haben.

LABYRINTH

lessing stellte fest, es sei nicht wahr, daß die kürzeste linie immer eine gerade wäre, adorno. als kürzeste verbindung zwischen zwei personen gelte die gerade, als ob sie punkte wären. lec warnte, die geradlinigen sollten acht in den kurven geben, in denen sie sich überholen müßten, berechenbar seien nur geometrische figuren, ein gordischer knoten, in dem der eigene kopf stecke, lasse sich auf die übliche art nicht lösen. friedell beschrieb: »Unsere Raumvorstellung, die sogenannte euklidische, basiert auf dem Axiom, daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade ist und dementsprechend durch je drei Punkte des Raumes immer eine Ebene gelegt werden kann. Diese Annahme ist jedoch sozusagen ein menschliches Vorurteil. Denn es wäre sehr wohl denkbar, daß es Wesen gäbe, die so eigensinnig wären, zu glauben, die Grundlage der Philosophie sei die Kurve. Diese Geschöpfe würden in einer Kugelwelt leben und sich dort ebenso wohl fühlen und ebenso leicht zurechtfinden wie wir in unserer Welt der Ebene.« hebbel notierte, der künstler hätte lauter kugelgestalten im kopf, der gewöhnliche mensch lauter dreiecke. lichtenberg bemerkte, daß personen, in deren gesichtern ein gewisser mangel an symmetrie sei, oft die feinsten köpfe wären.

essayisten sind denker im irrgarten der welt, die mäandernd oder spiralförmig, und nicht geradlinig, auch auf trampelpfaden, manchmal sogar tanzend, zu einsichten gelangen, während sie das labyrinth durchdringen. so betrachten sie etwas, davor oder darin verweilend, aus verschiedenen blickwinkeln und formulieren, was sie sehen, mitunter in einer andersprache, auch wenn es sich nicht zu einer theorie fügt, schon gar keiner geschlossenen. lec meinte, der weg des menschen in sein inneres wäre wie bei einer schnecke, spiralförmig, und auf den seitenwegen des denkens husche gelegentlich der entsetzte sinn vorbei, cioran, der geist mache nur dann fortschritte, wenn er sich im kreise drehe, das heißt vertiefe.

labyrinthe sind rätsel, in denen der umweg die weltkenntnis erweitert und zum ziel führt, oder das ziel ist, und die man oft erst löst, wenn man auf fragewegen klüger werden will oder sich darin zu verlieren droht, oder beides. borges schilderte die labyrinthe von venedig. heine meinte, jedes rätsel sei wie eine sphinx, die sich in die tiefe stürze, sobald man ihr rätsel gelöst habe. im labyrinth der städte werden die augen, als wären sie filmkamera oder fotoapparat, zu einer wünschelrute für bilder. labyrinthe können auch refugien sein. ich danke allen zitierten für die mitarbeit an diesem text. die besten lehrer sind die toten. wer nicht vom leben der gegenwart beschränkt werden will, muß weit zurück schauen, zumindest jahrhunderte und jahrtausende, wenn nicht gar millionen und millarden jahre, und durch die zeiten hindurch blicken.

 

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Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014

Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.

Weiterführend → In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.

→ In 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.

→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.