Eun-Sik Park aus Korea erhält in Anerkennung ihrer künstlerischen Arbeit das Hungertuch für Choreographie 2013
Die Welt ist Bühne, die Bühne ist Welt, das wissen wir seit Calderón, Shakespeare & Co. Das Theater ist die Urkunst der menschlichen Gattung. Schon früh hat die Menschheit Theater gespielt, um die Götter milde zu stimmen, um sich auf Jagd und Schlacht einzustimmen. Familienleben ist Schule des Theaters: Beobachtung und Nachahmung. Und die Welt des Glaubens wäre undenkbar ohne Theater. Der religiöse Kult, die Wechselgesänge der Liturgie in der Kirche, die frommen Spiele auf dem Kirchplatz, die Fronleichnamsspiele – all das richtet sich an den einen großen Zuschauer: Gott.
Die Choreografin Eun-Sik Park konnte während ihrer Zeit als Tänzerin bei so unterschiedlichen Choreografen-Persönlichkeiten wie Pina Bausch, Daniel Goldin oder Henrietta Horn Erfahrungen sammeln. Ihre eigenen, zumeist ruhigen Arbeiten sind geprägt von ihrem koreanischen Hintergrund. Die Asiatin, die in Seoul klassischen Tanz und an der Folkwang Hochschule in Essen Bühnentanz studierte, faßte unter dem Titel „Hangang Blues – ein koreanisches Triptychon“ drei Kurzstücke zu einem Abend zusammen.
In ihrem Solo „90°+90°“ beschäftigt sie sich mit dem Thema Verstecken. Wobei sie sich immer zu räumlichen Ecken hingezogen fühlt. Die leise, poetische Arbeit hinterfragt Qualitäten wie Geborgenheit, die ja auch Gefühle des Gefangenseins auslösen kann.
„The Wedding – for my mother“ spielt im alten, von Männern dominierten Korea. Die theatrale Produktion zeigt eine Frau am Vorabend ihrer Hochzeit zwischen ihrer Angst und der Erwartung, was das Leben mit dem ihr noch unbekannten Mann bringen wird. Das Duo „Quadratwurzel aus zwei“ ist eine weiteres Tanzstück von Eun-Sik Park. Darin setzt sie sich augenzwinkernd mit der Sehnsucht des Menschen auseinander, den Partner fürs Leben zu finden. Ob es diesen Einen überhaupt gibt? Die Koreanerin hat da berechtigte Zweifel.
In dem aktuellen Tanzstück „Stay“ setzen sich die Artisten damit auseinander, wie unterschiedlich Menschen – auch vor dem Hintergrund verschiedener Kulturkreise – den Verlust einer geliebten Person aufarbeiten und überwinden. Die Anregung zur Inszenierung vermittelte die Lektüre des Buches Kitchen der japanischen Autorin Banana Yoshimoto, zu dem Eun-Sik Park zunächst wegen des außergewöhnlichen Namens der Autorin griff. Ein Glücksfall! Kitchen war das erste Buch, daß sie auf Deutsch las, und die Geschichte Moonlight Shadow hat die Choreographin derart berührt und offenbar stark inspiriert, ein Tanzstück daraus zu machen. Über ihre Arbeit äußert Eun-Sik Park: Drei grundlegende Fragestellungen verbanden sich mit einer Erzählung von Banana Yoshimoto, darin heißt es: »Überwinden und Wachsen: Das sind, so glaube ich, Dinge, die den geistigen Weg eines Menschen prägen, mit all seinen Hoffnungen und Möglichkeiten«. In ihrem Debüt Moonlight Shadow beschreibt Banana Yoshimoto dieses Thema. Der Leser begleitet ein junges Mädchen, dessen Freund einige Wochen zuvor auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben kam. Mit im Wagen waren sein Bruder und dessen Freundin. Der Bruder ist der Einzige, der überlebt. Beide suchen nun ganz unterschiedliche Wege, um mit dem Unglück umzugehen. Beides war nichts als ein Mittel, um neue Kraft in zwei müde gewordene Herzen zu bringen und den Geist abzulenken, um Zeit zu gewinnen, sagt das Mädchen in einer Passage der Erzählung.
Die Überwindung von Schmerz durch Poesie und Tanz, kein schlechtes Rezept.
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Im Jahr 2001 wurde mit dem Hungertuch vom rheinischen Kunstförderer Ulrich Peters ein Künstlerpreis gestiftet, der in den Jahren seines Bestehens von Künstlern an Künstler verliehen wird. Es gibt im Leben unterschiedliche Formen von Erfolg. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen. Letzteres manifestiert sich in diesem Künstlerpreis.
Die Dokumentation des Hungertuchpreises ist in der erweiterten Taschenbuchausgabe erschienen: Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Und ein Recap des Hungertuchpreises. Eine Liste der bisherigen Preisträger finden Sie hier.