Dachten sich das Annette Schavan und Karl-Theodor zu Guttenberg, als sie sich dazu entschieden zu plagiieren?
Waren wir es, die mit Sprachlosigkeit auf das heimliche Abschreiben beim Tischnachbarn unserer ohnehin nicht gerade vor Glaubwürdigkeit strotzenden Politiker reagierten?
Oder sind wir tatsächlich in einer Zeit – nein, in einer Endzeit – angekommen, in der schon jedes Wort gesprochen und jeder Satz geschrieben wurde, sodass wir vom Universum geradezu dazu genötigt werden, Bestehendes zu kopieren?
Allein der Wortschatz der deutschen Alltagssprache beläuft sich laut Wikipedia auf über 500000 Wörter, sodass der Wortschatz zusammen mit den Fachsprachen sicherlich mehrere Millionen Wörter aufweisen wird. Man muss kein Virtuose auf dem Gebiet der Kombinatorik sein, um sich ausmalen zu können, wie unglaublich immens die Menge an möglichen Wortkombinationen im Deutschen ist. Natürlich harmoniert nicht jedes der 500000 Wörter mit jedem beliebigen anderen Wort unter den 500000 Wörtern; aber auch ausschließlich die Wortkombinationen, die einen sinnvollen Satz ergeben, dürften die Menschen, die eigenständige und einzigartige Literatur schaffen wollen oder von denen es zumindest erwartet und verlangt wird (wie beispielsweise von Promovierenden), noch sehr lange vor der oben geschilderten Wortkargheit bewahren.
Wer hierbei einwendet, dass ja kein Mensch der Welt über einen Wortschatz von einer halben Millionen Wörtern verfügt, der hat zwar nicht Unrecht, aber in Zeiten des Internets kann man ihm leicht den Wind aus den Segeln nehmen, denn binnen weniger Sekunden findet sich in Onlinelexika für jedes Wort mindestens eine Handvoll Synonyme und zusätzliche Erläuterungen.
Wenn es somit nicht an der Wörtervielfalt an sich mangelt, so leuchten mir im Grunde drei Möglichkeiten ein, die uns zum Plagiat verleiten können:
Zum einen, den Menschen seit alters her begleitend, die Faulheit, dicht gefolgt vom Zeitmangel, der sich gut mit Prestigesucht und Karrieregeilheit verknüpfen lässt (denn Zeit ist ja bekanntlich Geld und mit Geld lässt sich Anerkennung erwerben) und zu guter Letzt eine fundamentale Ideenlosigkeit.
Dass man Ideenlosigkeit und Faulheit als einen Widerspruch auffassen kann, hat mir heute ein Arbeitskollege lustig demonstriert:
Es ging darum, ein Handwerk möglichst schnell zu verrichten. Doch faul, wie wir es nun mal sind, wollten wir uns dabei so wenig wie möglich anstrengen. Mein Kollege zeigte mir also einen raffinierten Trick, mit dem sich die Aufgabe in Null Komma Nix erledigen lies und kommentierte sein Vorgehen mit einem dicken Grinsen auf den Lippen wie folgt:
„Faulheit erweckt eben die Fantasie zum Leben.“
Seine Lebensweisheit hat mich darauf aufmerksam gemacht, wie essentiell Kreativität und Ideenvielfalt für den Menschen sind.
Bin ich faul respektive im Zeitstress, so kann mich meine Kreativität aus der Misere retten.
Habe ich jedoch keine eigenen Ideen, dann kann ich noch so übermotiviert sein und noch so sehr in Zeit baden, ich werde irgendwann vor der Wahl stehen: Abschreiben oder die Note Sechs in Kauf nehmen.
Und nun gehen wir in einer Zeit, in der das Perfekte gerade mal gut genug ist, einmal in uns und fragen uns, wer denn wahrlich die Reife besitzt, sich vor den Klassenkameraden die Sechs einzugestehen und sein eigenes Versagen akzeptiert?
Dann halt doch lieber spicken, was das Zeug hält – so professionell, dass man im Traum nicht daran denkt, man könnte erwischt werden.
„Ich schäme mich nicht nur heimlich“, äußerte sich Annette Schavan zum Plagiatsfall von zu Guttenberg, bevor man sie selbst überführte. Sie überlässt es uns zu entscheiden, ob sie sich bei ihrer Kritik heimlich selbst miteinschloss, ob sie in einer Paranoia dachte, ihr verbalisierter Fremdscham könnte von ihrem eigenen Vergehen ablenken oder ob sie rigoros an dem Wunschdenken festhielt, ungestraft davon zu kommen.
Ob unsere demaskierten Politiker und all die anderen, die beim Plagiieren entlarvt wurden, tatsächlich an einer chronischen Ideenlosigkeit litten, will ich nicht stur vertreten und dennoch komme ich mir so vor, als hätte Peter Turrini mit seiner Vermutung Recht gehabt, als er 1997 von unserer Gesellschaft als der „informiersteste[n] und gleichzeitig ahnungsloseste[n] Gesellschaft, die je existiert hat“, sprach. Denn von etwas „Ahnung zu haben“ heißt definitiv mehr, als nur etwas zu wissen. Wissen kann gedankenlos angehäuft und abgerufen werden.
Gequälte Schüler/Studenten haben diese Erkenntnis sogar schon mit einem Fachwort getauft: „Bulimielernen“ – reinpressen, nicht verdauen, auskotzen.
So kann es zum Beispiel passieren, dass ein Student in einer Prüfung in Psychologie über Aggressionstheorien eine Eins mit Stern schreibt und dennoch nicht einen Gedanken daran verschwendet, sein eigenes Aggressionsverhalten zu reflektieren.
Sprich, für eine Prüfungsphase ist man Experte auf dem Gebiet der Aggressionstheorien, hat einen riesen Berg an Abrufwissen angestaut und zwei Wochen später erhält man das Lob des Professors, hat keine Ahnung von Aggressionstheorien und die Chance verpasst, seine Persönlichkeitsentwicklung mit Hilfe von sicherlich nicht einmal schlechtem Wissensinput voranzutreiben.
Am Anfang war die Idee, das Wissen entstand erst durch sie und mit ihr. Das Wissen begann der Idee einen Namen zu geben. Es ist das Archiv unsrer Ideen. Es ist mit Fug und Recht etwas, auf das der Mensch stolz sein kann. Denn wir sind meiner Meinung nach wirklich die informierteste Gesellschaft, die es je gab. Nur stehen wir diesem Wissen ahnungslos und ideenlos gegenüber. Vielleicht ruhen wir uns darauf aus, vielleicht haben wir auch Angst davor, dass es uns erdrückt.
Immerhin stehen wir Millionen von Wörtern gegenüber und obwohl wir ihnen zahlenmäßig überlegen sind, so muss sich ihnen dennoch jeder einzeln für sich stellen.
Die Überbetonung des Primats der Vernunft und die simultane psychische Verwahrlosung (die zum Glück immer offener gehandhabt wird) sind geradezu symbolisch für den Kampf zwischen Mensch und Wort. Man könnte meinen, der Smog über den Städten kommt nicht von den Abgasen sondern von rauchenden Köpfen, die versuchen ihr Gedankenwirrwarr zu ordnen und ihr Wissen festzuhalten – anstatt einfach mal loszulassen!
„Mach mal dein Kopf zu!“, pflegt ein Kollege von mir zu sagen, wenn jemand sich in Gedankenkreisen verfängt. Wir sind so vollgestopft mit Information, dass wir uns wahrlich schwer tun, Platz zu machen für neue Ideen.
Vielleicht ist es sogar dieses Gefühl der Überfüllung, dass uns dieses „Endzeitfeeling“ verleiht und dass eine übermäßig informierte Gesellschaft blitzartig aufgrund eines magischen Kalenders in einen götzendienerhaften Zustand regredieren lässt.
Überfüllung statt Erfüllung, Wissen statt Kreativität, Endzeit statt Lebenszeit.
Irgendwie wird einem da doch schon fast das Abschreiben nahegelegt? Wieso sich noch die Mühe geben, auf irdischem Boden einzigartige Kunst zu schaffen, wo man sich doch auf die Verteidigungsrede vor dem Jüngsten Gericht vorbereiten muss.
Doch nicht nur die Informationsflut will unsere Kreativität ertränken.
All die freie Zeit, in der uns die Muse küssen könnte, verplempern unglaublich viele, um sich in virtuellen Welten herumzutreiben. Keine Frage, im Internet wurde schon die eine oder andere Revolution angezettelt, aber der Ottonormalverbraucher wird maximal die eigenen Kommentare in Blogs verbreiten, sich in Kultserien mit immer gleichen Schemata verlieren oder dem Schwarm auf Facebook den Hof machen.
Ich kann mir auch gut vorstellen, dass die Zugänglichkeit zu nahezu unendlichem Wissen im Internet unbewusst einen Komplex in uns auslöst, der unsere Schaffenskunst lähmt.
Gebe ich nur ein einziges Stichwort in eine Suchmaschine ein, lande ich je nach Exotik bei der Wortwahl schnell bei vielen Millionen Treffern (z. B. das Wort „Brot“ bei Google liefert über 37 Millionen Treffer), während mein mickrig wirkender Geist (ich erwehre mich hier bewusst der Verwendung des Wortes „Gehirn“) gerade mal eine Mindmap im Umfang einer Din A4 Seite erzeugt.
Da ist es doch fast zwingend, dass man sich denkt, jedes Wort sei schon gesprochen und jeder Satz sei schon geschrieben worden.
In solchen Momenten literarischer Ohnmacht, führe ich mir vor Augen, dass jedes Wort aus jedem Mund anders klingt und dass jeder Satz von jeder Hand anders geschrieben wird.
Und dann beginne ich, einen Text zu verfassen.