Er ist seit den neunziger Jahren der „trouble-shooter“ in der russischen Gegenwartsprosa. Seine metaphysischen Attacken auf die sowjetische Geschichte und deren Gestalter erfreuen nicht nur die reformfreudige Intelligenz und die Literaturkritiker der eben entstandenen, oft zensurfreien Zeitschriften. Auch die literarischen Kreise in den westlichen Ländern finden immer mehr Gefallen an seinen artistischen Seitenhieben auf eine postsowjetische Gesellschaft, die seit Beginn der 1990er Jahre im Begriff war, sich von doktrinären Zuständen zu befreien und bedauerlicherweise zehn Jahre nach dem sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel in den Wirren der Jelzin-Ära in eine vom KGB bzw. vom FSB gelenkte Demokratie zurückgefallen ist.
In dem 2009 im Moskauer Eksmo-Verlag unter dem Titel T erschienenen Roman treibt Viktor Pelewin seinen Schabernack mit den Mythen um den Grafen Lev Tolstoj, um Fjodor Dostojewvskij, um die Ochrana, die zaristischen Geheimpolizei in der Gestalt des Agenten Knopf, um einen geheimnisvollen Luftgeist Ariel, um das bedeutsame Kloster Optyna Pustyn im Bezirk Kaluga. Und alle Mythen beladenen Figuren verfügen über Zauberkräfte und außergewöhnliche Fähigkeiten, deren wirksame optische Präsenz und werbeträchtige Aufmachung auch an den gegenwärtigen Zampano der postsowjetischen Kreml-Oligarchie erinnern.
Worum geht es in der turbulenten narratio, die eher auf die Handlungen von irgendwelchen James-Bond-Filmen verweist als auf eine metaphysische Jagd durch die zaristische und die postsowjetische Gesellschaft? Ein gewisser Graf T., in der getarnten Erscheinung eines Geistlichen, der sich Vater Paissi nennt, ist auf dem Weg in das legendäre Kloster Optyna Pustyn und die dort gelegene Einsiedelei, einem orthodoxen Zentrum der russischen Kirche. In dem Zugabteil sitzt ihm der Geheimpolizist Knopf gegenüber, der offensichtlich im Auftrag der berüchtigten Dritten Abteilung der zaristischen Geheimpolizei den unbequemen Schriftsteller, Reformer und Revoluzzer Lev Tolstoj, beobachten und gegegebenfalls auch verhaften soll. Allerdings noch nicht weiß, dass vor ihm der gefürchtete Graf T. sitzt. Und der entwischt ihm unmittelbar nach einer Tunneldurchfahrt durch einen kühnen Sprung durch das Abteilfenster in einen Fluss. Während die ihn verfolgenden Polizisten scheitern bei ihrem Versuch, ihn zu erwischen, taucht Graf T. nach einer Weile an der Wasseroberfläche auf. Noch ist er sich seiner Identität nicht sicher, noch weiß er nicht, warum er auf dem Weg in das Kloster Optyna Pustyn ist. Und die folgenden Handlungsstränge bestätigen es. Vor ihm auf dem Fluss taucht ein Schiff auf, das „wie ein großer Lastkahn mit Rudern, die aus Luken in den Bordwänden herausstaken“ (S. 22) aussah. Als er sich an der letzten Luke in das Innere des merkwürdigen Lastkahns schwingt, der an eine Mischung aus römischer Galeere und einer griechischen Triere erinnert, wird er bald mit einer mythischen Figur konfrontiert, dem Luftgeist Ariel, der ihn sogleich in ein Gespräch verwickelt, obwohl er unsichtbar ist. Solche Begegnungen der dritten Art häufen sich. Mal ist es die Fürstin Tarakanowa, die im glücklicherweise umfangreichen Anmerkungsteil als angebliche Enkelin Peters des Großen fungiert, die Katarina II. in der Peter-und-Pauls-Festung inhaftieren ließ; mal ist es ein bärtiger Krieger, ein typischer Krieger aus Dareios` Armee, das sich als Spiegelbild des Grafen T. erweist; mal ist es, o Schreck, der Geheimpolizist Knopf, der ölverschmiert auf dem Lastkahn wieder auftaucht. Die Jagd kann also weitergehen! Und das alles in den Kapiteln I bis XV, das unter der Überschrift Der Eisenbart ein wildes Treiben auf dem Rücken von Pferden, mit Pistolenduellen und bizarren Gestalten aus mehreren Jahrhunderten entfacht. Und dann folgt Der Schlag des Imperators mit weiteren 250 Seiten, mit einem wiederum skurrilen Auftritt: „Ariel stand an einem großen weißen Unterschrank mit schwarzen Griffen und briet sich ein Rührei in einer Pfanne, … Er trug lilafarbige Unterwäsche und abgeschabte Lederschlappen. – T. stand hinter ihm. Er wusste nicht, wo er war.“ (S. 205) Kein Wunder, dass auch der leidgeprüfte Leser in der Zwischenzeit die Orientierung verloren hat. Wenn es nicht den Luftgeist Ariel gäbe, der ihn und den Grafen T. aufklärt über die letzten Geheimnisse menschlicher Entscheidungsfähigkeiten. „Glauben Sie etwa“, wendet sich Ariel an Graf T., „ein echter Mensch … hätte eine Persönlichkeit, die die Entscheidungen trifft? Das hat man im letzten Jahrhundert geglaubt. In Wirklichkeit werden die menschlichen Entscheidungen in dunklen Ecken des Gehirns getroffen, in die keine Wissenschaft Einblick nehmen kann, und zwar mechanisch und unbewusst wie bei einem Industrieroboter …“. (S 207) Und als Graf T. es immer noch nicht verstanden hat, klärt ihn Ariel auch die Mechanismen auf, nach denen die Freiheit des Willens funktioniert. Irgendwelche Relais machten Klick im Gehirn und ein anderes Interprogramm komme zum Zug. Deshalb höre in Russland das halbe Land morgens auf zu trinken und stehe mittags nach Bier an. Und Graf T., der augenscheinlich immer noch nicht weiß, wer er ist, bescheinigt Ariel, er sei nur eine Puppe. Was ihm Ariel auch bestätigt, weil eben alle Menschen nur Marionetten und ihre Handlungen nur auf bloße Mechanik zurückzuführen seien.
Neben solchen phrenologischen Exkursen ist es ein spiritistischer Handlungsstrang, der den Leser in ein anderes Kapitel russischer Herrschaftsgeschichte einführt. Es handelt sich um die Machenschaften des Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, Oberprokurator der Heiligen Synod seit 1880, der oberste Wächter des zaristischen Staats über die Orthodoxe Kirche. In der Gestalt eines graugrünen, mysteriösen Herrn, einem agent provocateur, soll Graf T. ein Attentat auf den Oberprokurator vollziehen. Möglicherweise bezieht sich der Autor mit dieser Episode auf ein missglücktes Attentat, das ein gewisser Nikolaj Lagowski 1901 auf den verhassten Oberprokurator verübte. Doch Versuche, in Texten von Pelewin irgendwelche faktografischen Elemente zu vermuten, scheitern meist. Der in den Kapiteln XVI ff. beschriebene Besuch von Graf T. und Fjodor Dostojewski beim Oberprokurator Pobedonoszew führt den Leser in die Wirkungsgeschichte der beiden russischen Schriftsteller ein. Zugleich erfährt er – mittels versteckter Anspielungen, die in dem ansonsten informativen Anmerkungsapparat leider nicht enthalten sind – zahlreiche Details über die Zensurmechanismen in der zaristischen Literaturgeschichte. Die in den Text eingebauten Briefe und Anordnungen (vgl. S. 275ff.) bleiben nicht zuletzt aus diesem Grund nicht nur für einen deutschsprachigen Leser unverständlich! Neben diesem herrschaftsrelevanten Handlungsstrang zieht sich am Beispiel des Rede- und handgreiflichen Duells zwischen Tolstoj und Dostojewski ein bis in die Gegenwart virulenter kulturgeschichtlicher Strang, der ebenfalls erläutert werden müsste. Nicht zuletzt deshalb erweisen sich die wenigen Hinweise im Anmerkungsapparat als unzureichende Versatzstücke, die die reichhaltigen Zitate und Verweise auf literarische Werke der russischen Literatur in dem pop-metaphysischen Roman von Pelewin nicht ersetzen können. Umso lohnender wäre eine Textanalyse für slavistische Seminare!
In der Pelewin-Forschung wird das Prosawerk des 1962 in Moskau geborenen Autors als eine artistische Verbindung von Pop-Philosophie, Pop-Mythologie und Pop-Politik gewertet. Sein thematisch umfangreiches Erzählwerk setzt sich, eingebettet in bizarre Handlungselemente, mit russischer und sowjetischer Geschichte auf dem Hintergrund fernöstlicher spiritistischer Lehren auseinander.
Die zahlreichen ins Deutsche übersetzte Romane Pelewins („Buddhas kleiner Finger“, „Das fünfte Imperium“, „Das heilige Buch der Werwölfe“, „Das Leben der Insekten“, „Omon hinterm Mond“ u.a.) finden nicht zuletzt deshalb eine immer begeisterte Leserschaft, weil seine literarischen Strategien westliche Erwartungshaltungen und russische, popartistische Handlungen enthalten.
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Tolstojs Albtraum. Roman von Viktor Pelewin. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. München (Luchterhand Literaturverlag) 2013, 448 S., 21, 99 €. ISBN 978-3-630-87388-6.