Am Arsch der Welt

Hel

„Das ist eine Tragödie!“, dachte ich. Hel erzählte eine der entsetzlichen Geschichten aus dem Südlimburgischen. Dort schnappte er im Sommer die Fortsetzungsmärchen aus dem Alltag im Dreiländerloch auf, Variationen der Entfremdung, die im Abseits der Welt ganz von allein aus dem Nichts blühen, wenn sich die Selbstmörder ihre Erlebnisse mitteilen.

Wir erreichten die Bockwurstbude am Alex. Wir standen in der Schlange, lauter Leute in grauen Zeiten, stumm, die Plastetüte in der Linken, in der Rechten den gelbbraunen Stummel. Mund schief. Aber vor uns eine junge Frau, ein kleines Gebirge ohne Text.

Eine Tragödie!, dachte ich. Ihr schöner Körper schleuderte die schwarzen Haare über die Schultern, warf die Augen über spitzen Mund. Die Augen stießen mit meinem Blick zusammen. Ich hatte Hunger. Die Schlange zuckte und kroch langsam auf die Kasse zu. Hel schwieg die ganze Zeit. Ich stockte. Die Gipfel gingen.

„Weißt du“, sagte Hel, als er die Bockwurst bezahlte, „die Legende vom guten Kapital ist nicht wirklich wahr. Ich will die wahre Geschichte erzählen. Sie ist heißer als alle diese langen Geschichten, die zu kurz für die Lüge sind. Ich erzähl dir die Geschichte von der Dullen Griet: Ein echtes Luder, die schmeißt ihr Angeschafftes der Hölle in den Rachen, damit der Tod sie nicht einschlürft.“

Wir setzten uns an den Tisch der schönen Frau. Ich hatte immer noch ihre Augen, die wollte sie wiederhaben. Hel erzählte weiter.

„…Aber der Tod war stärker und stach Dulle Griet mit der harten Peitsche so stark, dass die Frau sofort aufschäumte. Sie wehrte sich, zitterte vom Steiß bis zur Stirn, bis sie das doppelköpfige Teufelskind durch beide Löcher herauspresste.“

Das geht doch gar nicht, dachte ich und schaute die Schöne ihm gegenüber an. Sie lächelte. Ich will meine Augen wieder haben. Ich gebe dir die Augen zurück.

„Die Köpfe des Satans erblicken kaum das Licht der Welt, da schreien sie sich an und streiten um das Recht der Erstgeburt. Dulle Griet schlägt die Schreihälse in ihre Löcher zurück, aber sie kommen immer stärker wieder heraus, jetzt kommen auch die Hände mit und schnüren dem vorne den Hals ab, da beißt der zu und reißt dem Feind die Hand vom Arm, aber die wächst gleich wieder nach.“

Das Leben erzählt sich immer selber, dachte ich, es sucht nur nach Worten. Hel sprach aus, was die Wahrheit uns sagen will.

„Dulle Griet greift sich mit dem Arm ins Maul und zieht den Doppelsatan an den Füßen durch die eigene Gurgel heraus, beißt die Köpfe ab und spuckt sie aus.“

Wachsen die Körper nach?, fragte ich mich. Können die Köpfe bald wieder laufen? Da schaute die Schöne zu mir herüber und lächelte: Gib mir meine Augen zurück, wenn die Geschichte vorbei ist. „Ja“, sagte Hel, „wenn die Köpfe wieder Beine haben, stehen sie auf, vergewaltigen die Mutter und vermehren sich. Dann schlägt einer den anderen tot. Das ist die Geschichte unserer Zeit.“

Im Sommer besuchte ich die Wahrheit. Ich ging zu Hel Toussaint. Der wohnt hinter den Höfen eines alten Hauses in der Stargarder Straße in Berlin. Er ist Strophiker und Katastrophensänger und sonst noch was. Ich traf mich mit ihm im TORPEDOKÄFER, bei Käthe auf dem Prenzlberg, in der Umweltbibliothek oder beim GEGNER. „Gut, dass du das mal aufschreibst, ehe der Stoff verloren geht“, sagte ich.

„Ja“, sagte Hel, „das ist archaischer Surrealismus.“ „Das sind die Mythen unserer Zeit“, sagte ich, „Männerphantasien! Die erzählt man sich an Euphrat und Tigris und am großen Arsch der Welt.“ Hel sah mich an, seine Augen sagten: Das verstehe ich nicht. „Egal!“, sagte ich, „erzähl einfach deine Geschichten!“ „Morgen“, sagte Hel, „morgen erzähl ich dir die Geschichte von heute, heute kann ich mich noch nicht an gestern erinnern.“

 

 

 

Weiterführend →

Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Wir nutzen diesen Rückblick auf KUNO um HEL in einem Briefwechsel mit Ulrich Bergmann näher vorzustellen.

Lesen Sie auch ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem A.J. Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet.