Vorrede, von Benjamin Neukirch
ES giebet viel leute/ welche die deutſche poeſie ſo hoch erheben/ als ob ſie nach allen ſtücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche ſie gantz erniedrigen/ und nichts geſchmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde ſind von ihren vorurtheilen ſehr eingenommen. Denn wie ſich die erſten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miſte gewachſen: Alſo verachten die andern alles/ was nicht ſeinen urſprung aus Franckreich hat. Summa: Es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/ die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet ſie ſelbſt nicht wiſſen/ was in einem oder dem andern gutes ſtecket. Wir dürffen uns mit unſrer Poeſie ſo klug nicht düncken/ daß wir die ausländer dagegen verkleinern wolten. Denn wir haben noch einen groſſen berg vor uns/ und werden noch lange klettern müſſen/ ehe wir auff den gipffel kommen/ auff welchem von denen Griechen Homerus und Sophocles, von denen Römern Horatius und Maro geſeſſen. Mit den Hochzeit-Begräbniß- und Namens-Gedichten/ damit ſich alle knaben in der ſchule qvälen/ iſt es fürwahr nicht ausgerichtet. Es gehöret mehr zu einem dichter; und die vers-macher/ welche uns eine zeitlang her mit regeln überſchüttet/ mögen ſich ſo viel einbilden/ als ſie wollen/ ſo haben doch die meiſten davon die Poeſie mehr verſtümpelt/ als ausgebeſſert. Denn ihr gantzes abſehen iſt/ eine leichtſinnige ſchreib-art einzuführen/ vermöge welcher man einen gantzen bogen voll verſe/ ohne ſonderliche bemühung/ hinſchmieren möge. Von ſcharffſinnigen bey-wörtern aber/ von klugen erfindungen/ und von unterſcheidung der guten und falſchen gedancken/ ſagen ſie nichts; Da doch dieſes die ſeele und die weſentliche theile eines rechtſchaffenen gedichtes ſeyn. Daher entſpringen ſo viel pfuſcher/ welche auff allen hochzeiten die Venus einführen/ bey allen begräbniſſen den tod ausſchelten; Und wenn es ja hoch kommt/ ihrer Phyllis ein lied vom ſterben herſingen/ welches offt mehr todt als der ſänger/ und kälter/ als ſeine gebietherin ſelber iſt. Zwar haben ſie ihre entſchuldigung: Man müſte aus der Poeſie kein handwerck machen/ und die jugend bey zeiten zurück halten/ damit ſie ſich nicht zu ihrem ſchaden darinnen vertieffte. Allein/ wenn die guten leute fein ehrlich ſagten/ was zu einem Poeten erfordert würde/ und nur diejenigen zum dichten ermahnten/ welche die natur dazu erkohren/ andere aber bloß einen verß recht urtheilen und unterſcheiden lehrten/ ſo hätten ſie dieſer entſchuldigung nicht vonnöthen. Es ſind keine ſeltzamere thiere/ als Poeten: Denn ſie laſſen ſich/ wie die paradieß-vögel/ alle tauſend jahre kaum einmahl ſehen. Rom hatte bald acht hundert jahr geſtanden/ ehe es den berühmten Virgilius erlebte; Und es iſt faſt keine provintz/ welche uns nicht etliche helden oder gelehrte gegeben; Aber der gantze kreyß der welt rühmt ſich kaum etlicher rechtſchaffenen Poeten. Darum hat es ſo groſſe noth nicht/ als man meynet; Denn es gehört gar viel dazu/ ehe man ſich in der Poeſie vertieffen kan. Daß aber viel junge leute damit die zeit verderben/ und die andern guten künſte an die ſeite ſetzen/ rühret von der unerfahrenheit ihrer lehrer her/ welche ihnen einbilden/ man brauche zum dichten nichts/ als verße machen; da ſich doch alle wiſſenſchafften in einem Poeten/ nicht anders als in einem centro verſammlen müſſen/ und derjenige nichts gutes ſchreiben kan/ welcher nicht alles/ was es ſchreibt/ mit augen geſehen/ mit ohren gehöret/ und an ſeiner eigenen perſon erfahren hat. Die fürnehmſten von den alten Poeten lebten bey hofe/ und wurden durch öffteres umgehen mit klugen leuten ſo ausgemuſtert/ daß ſie an die ſchulfüchſereyen/ mit welchen wir das papier anietzt beklecken/ nicht einſt gedachten. Sie hatten dabey ſehr wohl ſtudiert; ſie waren die lehrmeiſter der guten ſitten/ und hatten von allem/ was uns nur in den verſtand und in die ſinnen fällt/ eine gründliche känntniß und wiſſenſchafft. Zudem lebten ſie zu einer zeit/ da man die galanten ſtudia ſehr wohl verſtund/ da die Römiſche waffen auffs höchſte ſtiegen/ und unter der glückſeligen regierung des Käyſers Auguſtus ein ieder gelegenheit genug fand/ ſich groß zu machen. Wenn ſie denn etwas dichten wolten/ ſo thaten ſie es entweder zu ihrer luſt/ oder für groſſe Herren/ oder bey ſeltzamen und beſondern begebenheiten. Hernach überlaſen ſie dasjenige/ was ſie machten/ wohl zwantzig mahl/ und ſtrichen offt beßre verße aus/ weder ihre nachfolger geſchrieben haben. Darum konten auch ihre gemächte nicht anders als herrlich ſeyn; und iſt kein wunder/ daß ſie bey allen ihren nachkommen einen ſo unſterblichen preiß und ruhm erworben. Hingegen lernen von uns die meiſten ihre klugheit in der ſchule/ bekümmern ſich mehr um worte als gute ſachen/ und fangen ſchon an Poeten zu werden/ ehe ſie noch einmahl wiſſen was verße ſeyn. Wir leben über dieſes in einem lande/ wo die künſte wegen vieler herrſchafften zertheilet ſind/ wo man mehr von einem glaſe wein/ als liedern hält; Die wenigſten die galanterie noch recht verſtehen/ und die Cavaliers diejenige für ſchulfüchſe ſchelten/ welche die Frantzoſen für beaux esprits erkennen. Wir leben auch zugleich zu einer zeit/ da die Deutſchen faſt nicht mehr Deutſche ſeyn; Da die ausländiſchen ſprachen den vorzug haben/ und es eben ſo ſchimpfflich iſt/ deutſch zu reden/ als einen ſchweitzeriſchen latz oder wamſt zu tragen. Hierzu kommet unſre eigne unachtſamkeit/ daß wir unſere fehler gar zu geringe achten/ alles hinſudeln/ wie es uns in die feder fleuſt/ und lieber zehen bogen ſchlimme verße/ weder ſechs zeilen gute machen; Und denn ferner die thorheit derjenigen/ welche den lorbeer-krantz um 10. thaler erkauffen/ und dadurch den herrlichen namen eines Poeten/ welcher über drey oder vieren in der welt noch nicht gebührt/ vielen ehrlichen gemüthern vereckeln/ ungeachtet ſie nichts davon haben/ als die mühe/ daß ſie bey unterzeichnung ihres namens etliche buchſtaben mehr/ als andere/ ſchreiben. Und dieſes alles iſt urſache/ warum die Poeſie in Deutſchland nicht höher geſtiegen. […]
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Weiterführend → Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.