Es begab sich in dem Jahr, als zum ersten Mal eine Etappe der Tour de France zu Ehren der Statue of Liberty, die Frankreich vor 125 Jahren den Vereinigten Staaten von Amerika schenkte, durch New York gefahren wurde.
Der lebenslustigen jungen Frau, die den Moment froher Erwartung auskostete, bevor sie den Sprung in den Abgrund wagte, kam nicht einmal der Gedanke an die Möglichkeit, dass ihr beim Flug in die Tiefe etwas zustoßen könnte, weil sie so fest an das elastische Doppel-Seil gebunden war, dass sie glaubte, sie könne am Ende des Sturzfalls genau in dem Augenblick, wenn das Seil seine größte Ausdehnung, 381 Meter, erreicht hatte und die Springerin wieder nach oben zog, den heißen Asphalt der Fifth Avenue küssen, während die staunende Menge – die Reporter der Illustrierten TIME-LIFE, die das Spektakel exklusiv dokumentierten, lagen mit ihren Kameras auf dem Bauch rund um die weiß markierte Stelle, an der die leuchtend rot eingefärbten Lippen die Erde Manhattans berührten – neugierig darauf wartete, ob sich das geplante Wunder wirklich ereignete.
Dann war es soweit.
Auf den Tribünen zu beiden Seiten der Straße sahen Zehntausende, wie die schöne Springerin an dem Seil, das im 102. Stockwerk des Empire State Buildings an einem Kran befestigt war, damit der Sprung genau in die Mitte der Fifth Avenue gelang, aus dem Himmel fiel. Mit ausgebreiteten Armen flog sie heran, der rasende Flug mit Fallgeschwindigkeit verlangsamte sich, als das Seil sich spannte und dehnte, bis der Fall in Schwebe überging – unmittelbar über dem Asphalt, in den, wie jeder glaubte, eben noch der Kopf eintauchte, stand die Zeit still – und indem, der Mann, die Lippen, die Kamera, die Kamera, allein am Kreis, die roten Lippen, mit einem Sprung war er da, atemlose Stille, auf einmal, die Lippen, er klammert sich fest, immer noch auf dem Asphalt, gelähmt, der Schrei, zu spät, da kommen schon die ersten Fahrer, da steigt sie wieder in die Luft – was für eine Kraft steckt in dem gespannten Seil! Es reißt beide in die Höhe, jetzt begreifen es alle. (Warum? Liebte er sie? Wollte er sie retten, packte ihn ein ungekannter Rausch nach dem Inhalt der Bilder, die er schoss?) Die Fahrer kommen näher. Sie kämpft um ihr Leben. Sie muss den Mann, der mit ihr in die Luft gestiegen ist, loswerden, bevor sie wieder fällt, zu schwer, zu schnell kehrt sie sonst zurück zur Erde, die sie küsste, sie muss ihn abschütteln, noch während sie steigt, sie schreit: „Lass mich los!“, aber er klammert sich an den Gurten fest, sie kann ihn mit gefesselten Beinen nicht treten, die Arme sind zu schwach, sie stößt ihn, schlägt ihn, reißt an ihm herum und wird ihn nicht los. Schon fallen sie wieder in die Tiefe, mitten in den Schrei der Menge, als plötzlich das Hauptfeld der Tour de France in rasender Fahrt die Tribünen erreicht. Was die Rennfahrer gedacht haben, als aus heiterem Himmel das Todespaar fiel, auf dem Asphalt zerplatzte und den größten Massensturz in der Geschichte des Radsports verursachte, blieb eine unbeantwortete Frage – über einhundert Fahrer stürzten zu Tode, verkeilten sich, fielen schrecklich übereinander und begruben, während das Seil leer nach oben zischte und den blauen Himmel peitschte, unter sich die roten Lippen auf dem Asphalt.
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Lesen Sie auch den KUNO-Artikel Touristen mit Fotoapparaten. Und in diesem Zusammenhang möchte ich auf ein KUNO-Gespräch mit Theo Breuer hinweisen.