Die Prosaveröffentlichungen der letzten Jahre kreisen weiter um die NS-Vergangenheit (Beyer, Biller), um Ostnostalgie (Brussig, J. Hensel), um Liebesgeschichten (Franck, Scheuermann, Zeh) oder Beziehungsproblematiken (Biller, Herbst, Hermann), sie erzählen Märchen (Duve) oder Historisches (Orths). Bisweilen spielen die Geschichten zwar irgendwo in der Wirklichkeit, doch wichtiger als die gesellschaftliche Einbettung der Figuren ist in diesen Büchern ein suggestiver Stil, In- und Dresscodes, `name dropping´, lieber locker distanziert als extrem oder gar involviert.
Die Protagonisten aktueller Romane und Drehbücher arbeiten nicht, sie mini-jobben höchstens in der Kneipe oder haben irgendwie mit Kultur zu tun. Mit echten Brotjobs, mit schmutzigem Geldverdienen geben sie sich nicht ab, das sind alles Menschen, die irgendwie geerbt haben müssen oder von sonst woher alimentiert sind. Jedenfalls haben sie alle Zeit der Welt, um ausgiebig in der Gegend herumzureisen oder sich ihren delikaten Außenkontakten zu widmen.
Die Protagonisten der neuesten Literatur heißen Ben, Vinz, Jonas, Fred, Paula, Max oder Ruth, nur zu oft handelt es sich um melancholische Gestalten ohne soziale Codierung, sie sind schweigsam, zurück haltend, fast ängstlich, alles Monaden, die kaum je wirklich handeln, beinahe autistisch, dabei sehr abgeklärt. Die TV-generierte Generation: man kennt alles, hat aber nichts selbst erlebt, eine Tendenz, die sich im Erzählton der jüngeren Generationen immer deutlicher manifestiert. Zufällig rekrutieren diese sich denn auch nahezu ausnahmslos aus den Absolventenreihen des Leipziger Literaturinstituts. Natürlich lernt man dort schreiben, lernt, wie man eine Story, eine Atmosphäre aufbaut, gut, mitunter betörend erzählt. Doch über die Wirklichkeit erfährt man in der einzigen deutschen Schreibuni offensichtlich nichts, allenfalls über die eigene. Aus der Not mache man eine Tugend, das „Generationenporträt“ ist momentan schwer angesagt ebenso wie Entwicklungsgeschichten (Tobias Hülswitt, Jana Hensel): „wie ich aufwuchs in irgendeiner Provinz, um dann nach Berlin zu gehen und dreißig zu werden…“
Die „Ich“-Erzählung erlebt eine einzigartige Blüte, ich, ich und nochmals ich; die Erzählung in der 1. Person ist, angefangen bei den Pop-Autoren, zu der Erzählperspektive der neueren deutschen Literatur geworden. Während etwa in der englischen Pop-Literatur (Irvine Welsh, Nick Hornby) die 1. Person oft dazu dient, qua Soziolekt Schichten und Milieus zu markieren, wird sie in der deutschen Gegenwartsliteratur zum Vehikel ironischer Reserve, mit der die Erzähler/innen aus gesicherter Position dem sozialen Spektakel beiwohnen. Anders als in der englischen Literatur, im englischen Kino bleiben die gesellschaftlichen Missstände, die doch für jeden ersichtlich sind, außen vor. Den „White Trash“ wird man im deutschen Erfolgsroman vergeblich suchen.
Keine Partizipation an Verbrauch oder Meinungsbildung, die 11 Millionen unter der Armutsgrenze finden in Politik und Öffentlichkeit nicht statt – es sei denn als Zielscheibe medialen Voyeurismus im mittäglichen Talk-Programm. Die sozial und kulturell Deklassierten werden zurück gedrängt in ihre eigenen vier Wände bei Porno-Videos und ALDI-Food. Und die Literatur, deren Aufgabe es sein sollte, auch diesen Minderprivilegierten ihre Stimme zu leihen, bringt sie ein zweites Mal zum Verschwinden.
Warum das so ist? Die deutsche Gegenwartsliteratur ist Sprachrohr einer bürgerlichen Mitte, deren Anteil an der realen Gesellschaftsstruktur fortwährend schmilzt. Literatur, ja Kultur allgemein, wird in Deutschland weitgehend von Menschen produziert, vermarktet und rezipiert, die aus wohl situierten Verhältnissen stammen. Die Funktions- und Entscheidungsträger des Betriebs, Verleger, Agenten, Juroren, Tutoren und Autoren, alle bewegen sich in einem hermetischen Teil der Realität, Literatur und ihre Wahrnehmung, beides bespiegelt sich und den gemeinsamen Erfahrungshintergrund. Dass soziale Themen, Arbeits- und Obdachlosigkeit, Drogen, Integrationsprobleme u.ä. von Lektoraten und Agenturen ausgesondert werden, ist daher nur zu verständlich. Unbestreitbar ist aber, dass im Augenblick nichtsdestotrotz auch „gute“ Literatur entsteht, die ihr Publikum findet.
Darum geht es hier allerdings nicht. Sondern um die Frage, wie es dazu kommt, dass die lesende Bevölkerung einseitig an Themen und Charakteren interessiert ist, die einem relativ störungsfreien bürgerlichen Kontext entnommen sind.
Jedes Land hat die Literatur, die es verdient, Deutschland bedarf ihrer scheinbar als Sedativ, als eine Möglichkeit, die Augen vor der bedrohlichen Wirklichkeit zu verschließen. Die deutsche Gegenwartsliteratur ist Ausdruck einer zutiefst verunsicherten Zivilgesellschaft, die keinen Begriff von sich selbst besitzt. Die Formel von der „Berliner Republik“, die einige Jahre durch die Gazetten geisterte, ist inzwischen aus der Mode. Übrig geblieben ist nur Leere, ein Land ohne Identität, ohne Einheit, ohne Solidarität. Statt Gemeinsamkeit herrscht Egoismus und Gruppenwillkür, alles Monaden, die Literatur ist Spiegelbild dessen, ohne jedoch die zugrunde liegenden Strukturen zu deuten oder gar dabei zu helfen, diesem Land ein realistisches Selbstverständnis zu vermitteln. Ausnahmen sind rar (Georg M. Oswald, Kathrin Röggla, Ingo Schulze) und nicht immer geglückt.
Literatur in Deutschland müsste, um eine solch anspruchsvolle Aufgabe zu erfüllen, erst einmal wieder einen Standpunkt finden. Der Schriftsteller und seine Figuren agieren nicht im luftleeren Raum, sondern in einem sozialen Gefüge, über dessen Wesen man sich Klarheit verschaffen muss. Sie sollte Fragen stellen und diese mit ihren Möglichkeiten veranschaulichen. Was bedeutet für den Einzelnen der Verlust des Arbeitsplatzes? Wie fühlt sich das an, was in den Nachrichten nur als Zahl in Erscheinung tritt? Was bedeutet sozialer Ausschluss? Und was steht dahinter? Welche politisch-ökonomischen Strategien? Wer agiert? Wer profitiert? Wie funktioniert überhaupt ein Großkonzern oder die Politik in der Praxis? Wie die Medien? Was können Menschen tun? Wie ihre Würde erhalten?
Indem sich Literatur ihr Einwirken auf die Realität weder verbieten lässt noch freiwillig versagt, kann sie ihren Beitrag leisten zur noch offenen Ausprägung einer freiheitlichen Zivilgesellschaft. Und ist nicht das ihre eigentliche kulturelle Bedeutung, ihre Legitimation – die Intervention?
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Nachbemerkung der Redaktion: KUNO dankt dem Autor für diesen Auszug.