Auch heute noch, nachdem er sich 200 Jahre in der Lesewelt befindet, gilt von Laurence Sternes ‚The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman‘ das Urteil, daß es zu den 10 größten Büchern gehöre, die bisher in englischer Sprache geschrieben worden sind.
Arno Schmidt
Wie dürfte in einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat! Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleich mit welchem alle anderen steif, vierschrötig, unduldsam und bäuerisch-geradezu erscheinen. An ihm dürfte nicht die geschlossene klare, sondern die „unendliche Melodie“ gerühmt werden: wenn mit diesem Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt wird, so dass sie das eine und zugleich das andere bedeutet. Sterne ist der große Meister der Zweideutigkeit — dies Wort billigerweise viel weiter genommen als man gemeinhin tut, wenn man dabei an geschlechtliche Beziehungen denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf beides in einer Faltung seines Gesichts; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich recht und unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äußerlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, teilt auch seinem Leser etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso Leser, als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublikum vor einem andern Theaterpublikum. Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben — und kann übrigens erwarten, dass sie gnädig, immer gnädig ist. — Seltsam und belehrend ist es, wie ein so großer Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sternes gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig — und das eben ist echt Sternischer Überhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodiert? — man kann es nicht völlig herausbekommen, — und vielleicht hat gerade dies sein Autor gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem Alten und Neuen zu schämen braucht) ungerecht. Die Franzosen sind eben zum Humor — und namentlich zu diesem Humoristischnnehmen des Humors selber — zu ernsthaft. — Sollte es nötig sein hinzuzufügen, dass Sterne unter allen großen Schriftstellern das schlechteste Muster und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und dass selbst Diderot sein Wagnis büssen musste? Das, was die guten Franzosen und vor ihnen einzelne Griechen als Prosaiker wollten und konnten, ist genau das Gegenteil von dem, was Sterne will und kann: er erhebt sich eben als meisterhafte Ausnahme über, das, was alle schriftstellerischen Künstler von sich fordern: Zucht, Geschlossenheit, Charakter, Beständigkeit der Absichten, Überschaulichkeit, Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene. — Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele sprang mit unbeständiger Unruhe von Zweig zu Zweig; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem unverschämten wässrigen Auge und dem empfindsamen Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache von einer solchen Zusammenstellung nicht erschrecken wollte, von einer hartherzigen Gutmütigkeit und hatte in den Genüssen einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die blöde Anmut der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch.
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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.