Zurück in die Zukunft der 1990er Jahre
Hat mich der Teufel geritten, daß ich den anschließenden Artikel aus längst vergangenen Zeiten hervorhol, um ihn nach so vielen Jahren noch einmal zu veröffentlichen? Es kann nicht schaden, sag ich blauäugig (und sowohl Bensch als auch Kraus pflichten mir spontan bei, ei, ei), einmal wieder daran zu erinnern, daß Lyrik von jetzt nicht mit Lyrik von Jetzt einsetzt, sondern, naturgemäß, weit vorher – paar tausend Jahre laß ich mal weg: Ein (mit-)entscheidender Umbruch (davon abgesehen, daß die Lyrik auch während der 70er und 80er Jahre dank herausragender Marathonpoeten wie Volker Braun, Hans Magnus Enzensberger, Elke Erb, Walter Helmut Fritz, Ernst Jandl, Wulf Kirsten, Karl Krolow, Friederike Mayröcker, Christoph Meckel, Oskar Pastior und manch andrer mehr – ich denk an den Monolithen Rolf Dieter Brinkmann, aber auch an Nicolas Born und Jürgen Theobaldy – zu keiner Zeit seit den 50er Jahren in einer so unguten Verfassung war, wie manche Verächter gern behaupten) kam Ende der 80er Jahre mit Thomas Klings geschmacksverstärker – und auch das war ja nicht die Neuerfindung des Rades. (Von dem Lektüreschock hat sich trotzdem so mancher biedere Versschmied nie erholt).
Die im Vergleich zur Lyrik von jetzt nicht weniger vitalen 90er Jahre (in denen die Gedichtbücher im Schnitt deutlich höhere Auflagen hatten als heute – fast ungläubig erinnere ich mich der rund tausend verkauften Exemplare des blauen Schmetterlings) haben eine Reihe von Lyrikern hervorgebracht (von denen in diesen Zeiten verblüffend wenig nur noch die Rede zu sein scheint im Lyrikdiskurs), deren Gedichtbücher weiterhin, trotz der mächtigen Lyrikwelle, die in den Jahren nach 2000 über uns schwappt, sehr, sehr lebendig im Hirn herumtollen.
Ich denk, beispielsweise, an Marcel Beyers Falsches Futter, Durs Grünbeins d. J. grauzone morgens, Thomas Klings morsch, Barbara Köhlers Deutsches Roulette, Bert Papenfuß‘ routine in die romantik des alltags, Raoul Schrotts Hotels, die die Lyrik in jenem Jahrzehnt ganz schön aufgemischt haben. Gleichzeitig denke ich aber auch an die vielen Autoren und sonstigen Überzeugungstäter, deren Namen nicht so geläufig sind und die zwischenzeitlich gar von der Bildfläche verschwunden sind (in der 1999 erschienenen Monographie Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren kann man sich ein Bild von ihnen als Gestalt machen), und um die geht es (exemplarisch) in Traumtänzer · Revisited, den ich, alle Bedenken seitens Peer Quers (der ausnahmsweise einmal vollkommen recht hat) in den Wind schlagend, exakt in der Fassung belasse, die ich 1995/96 schrieb und die 1997 in der Chemnitzer Literaturzeitschrift Laterne veröffentlicht wurde.
Seit Beginn der 90er Jahre
will diese Welt wohl vollends aus den Fugen geraten. Ursachenforschung im Hinblick auf kulturelle Entwicklungen scheint mir wegen der zwangsläufigen Verflechtungen mit den großen und kleinen nationalen und internationalen politischen Unruhen und Umwälzungen sowie der zu wenig distanzierten Bewußtseinslage zur Zeit noch ganz unmöglich zu sein. Meine Mutmaßungen wären somit der Gefahr unterworfen, statt eines differenzierten geistigen Spektrums lediglich meine enge egomorphe Sichtweise zu präsentieren.
Folglich kann es in meinem Text auch nicht darum gehen, warum in den 90er Jahren im deutschsprachigen Raum mehr kreative Kleinverlage und Handpressen gegründet worden sind als je zuvor, sondern daß dem so ist – ganz im Sinne von Joseph Beuys, der dem ›Daß‹ in vielerlei Hinsicht grundsätzlich den unbedingten Primat vor dem ›Warum‹ gegeben hat.
Entwicklungen rufen – offenbar naturgesetzlich – stets Gegenentwicklungen hervor, und so finden wir in einer Zeit der zumindest äußerlich perfektionistisch wirkenden Hochglanzmagazine auch (wieder!) immer mehr ›Buchmacher‹, die bewußt den ›altmodischen‹ Weg gehen: Gemeint sind die Verleger, Publizisten und Autoren, die selbst Hand anlegen, um ihre literarische Kunst an die Frau zu bringen, und die das Urmenschliche kulturellen Schaffens auf kreatürliche Weise wieder ins Bewußtsein der Leser zu rücken versuchen. In der einen Edition entstehen dabei auch materiell wertvolle Künstlerbücher, in der anderen geht es darum, auf betont einfache Art und Weise originelle Texte zum Leser zu transportieren.
Angetrieben werden diese einzelgängerischen Überzeugungstäter dabei allerdings weniger von einem idealistisch angehauchten Sendungsbewußtsein, sondern – ganz einfach – von der Lust am Machen, bei dem der kommerzielle Aspekt zunächst einmal keinerlei Bedeutung hat und schließlich nur dazu dient, ein wenig das Überleben zu ermöglichen. Diese Literatur- und Kunstmacher leben nicht von, sondern mit ihren Boxen, Büchern und Broschüren, aber – wir können nun einmal nicht alles haben im Leben …
Ich lebe ja hier ganz westlich im Westen, da, wo Fuchs und Hase sich (noch) gute Nacht sagen und die Welt mit Brettern zugenagelt ist: im Sibirien Deutschlands, als quasi Zugereister inmitten des kleinen Zwergvolks der Eifler in einem noch kleineren Dorf, wo es tatsächlich noch Misthaufen am Straßenrand gibt – einen davon habe ich in meinem Gedicht 1 berliner in sistig/eifel zu überregionalem Ruhm verholfen – und einige andere skurrile Anachronismen mehr: Kurz, es ist einmalig hier!
Aber davon wollte ich ja gar nicht schwärmen; nein, die vermeintlich negativen Aspekte meiner Lebensrandlage beabsichtigte ich an den Anfang meines Textes stellen: die Abwegigkeit eines beschaulichen, gesunden und ganzheitlichen Landlebens im Zeitalter von Neurose, Smog und Verkehrskollaps, die fehlenden literarischen Dialoge, die kulturelle Abgelegenheit usw. Sicherlich ist diese Tatsache ein wesentlicher Grund dafür, daß ich im Laufe der Jahre so viele Kontakte in alle Welt geknüpft habe und die Mail Art aus diesem verwunschenen Eifeldörfchen in der Tat das gemacht hat, was ich 1986 – als ich noch lange nichts von Mail Art wußte – in angeheitertem Zustand zu Richard Burns, dem englischen Dichter aus Cambridge, von dem ich unter anderem Tree (1989) und Black Light (1996) ins Deutsche übertragen habe, sagte: Sistig is the cultural navel of the world … (Ja, rümpfen Sie nur die Nase, aber wer einmal hier in dieser kulturkargen Landschaft gewesen ist, wird mich verstehen: Man hat nur die Wahl zwischen Heulen oder Hybris … Nein, mit den Wölfen heule ich nicht – – – obwohl die auch schon wieder, wenn auch vereinzelt, in waldigen Schluchten gesichtet werden. Echt wahr, kein Jägerlatein.)
Bonn und Haarbach, Mainz und Wien, Dresden, Halle an der Saale, Köln und Berlin sind Poststempel auf Kunstpostsendungen, deren Inhalte ich in diesem Aufsatz vorstellen möchte. Die Auswahl ist nicht zufällig. Denn was die Kleinverlage Corvinus Presse (Berlin) ∙ Das-Fröhliche-Wohnzimmer-Edition (Wien) ∙ Pips-Dada-Corporation (Bonn) ∙ Spinne/Buchlabor (Dresden) ∙ Teraz Mowie / Hybriden Verlag (Berlin) ∙ UNI/vers(;) (Halle an der Saale) ∙ uräus-Handpresse (Halle an der Saale) ∙ Ventile / Verlaxsfusjon amanita- & aygen-Verlag (Mainz) · Verlagsinstitut für Ganz & Garnix (Düsseldorf) ∙ ZWELFENbein / gesang der buckelaale (Schwerin) bei allen Unterschieden vereint, ist das Exzentrische, das Irre, das Rappelköpfige, das Spleenige, das Tolle, das Übergeschnappte, das Wahnsinnige, das Vernunftlose und Verrückte. Hier sind ausschließlich Künstler als Herausgeber und Publizisten am Werk, die noch Nasen haben zum Riechen, Augen zum Gucken, Hände zum Anfassen …
Zum Glück hat sich das ja (wieder?) gewandelt in diesen letzten Jahren, die irgendwann einmal die 90er Jahre gewesen sein werden, in den immer lebendiger und zahlreicher werdenden alternativen Kleinverlagen, Minipressen und Literaturzeitschriften: daß der Trend hin zum Andersartigen, Lebendigen, Originellen, Originalen wieder von viel mehr Menschen geschätzt und gefördert wird als in den immer nur fast ausschließlich hochglanzpapierenen 80er Jahren …
Die hier vorzustellenden Editionen suchen zunächst einmal den sinnlichen Kontakt zum Rezipienten: Das Verstehen, wenn überhaupt nötig nach einem vielleicht überwältigenden haptischen oder visuellen ERLEBNIS, stellt sich sicherlich und zwangsläufig am Ende der geistig-seelischen Rezeptions- und Perzeptionsvorgänge wie von selbst ein – nachdem man sich immer und immer wieder mit dem Text (egal welcher Art) auseinandergesetzt hat … Denn eins will ich in der Kunst zunächst einmal überhaupt nicht: auf Teufel-komm-raus und möglichst SOFORT ein Kunstwerk verstehn: Was verstehn wir denn schon von unserem Mitmenschen, von dieser Welt – – – vom Universum ganz zu schweigen – sinnlos, also, daß so viele Leser und Betrachter immer gleich jammern: Das (Bild, Gedicht usw.) verstehe ich nicht … Nein, nein, der Mensch besteht nicht aus Kopf allein …
1 · UnZeitGeist & UnKomMerz
Was fasziniert zahlreiche Künstler und Schriftsteller aus aller Welt so sehr an PIPS, der Objekt- & Literaturzeitschrift für UnZeitGeist & UnKomMerz, daß sie oft endlos viele Stunden im Jahr dafür arbeiten, um bloß in den ja nun seit der Mainzer Mini-Pressen-Messe 1995 preisgekrönten Karton zu gelangen …? (Dietmar Vollmer, Kölner Postkarten- und Stempelkünstler mit Witz, meinte in einem Fernsehinterview, wenn der Pips-Karton von der Post gebracht werde, sei er aufgeregt wie als Kind an Weihnachten … Wird durch Pips also das Kind im Manne entlarvt?)
Jeder Beiträger – von denen es pro Ausgabe etwa 40 bis 50 aus aller Welt gibt – gestaltet sein Werk vollständig selbst – ein Blatt, ein Objekt, ein Wasweißich – und zwar in diesem Jahr 98mal, so daß es von Herausgeberin Claudia Pütz in jeden der dreimal im diesem Jahr 98mal aufgelegten themengebundenen Kartons gelegt werden kann: Daraus entsteht automatisch ein buntes Gemeinschaftskunstwerk, das natürlich voller literarisch-künstlerischer Überraschungen steckt. Visuelle + experimentelle Poesie sind – wie bei Wohnzimmer, buckelaale, Teraz Mowie, Buchlabor & uni/vers(;) besonders stark vertreten.
In Zeiten der Massenproduktion von sehr oft völlig lieblos hergestellten Büchern und Zeitschriften mit banalem Inhalt sind diese in Kleinstauflagen erscheinenden Artefakte für mich zu Perlen geworden, die ich alltäglich in die Hand nehme, um wieder etwas Neues darin zu entdecken …
2 · O du fröhliche …
Wohnzimmer erscheint in der Wiener Edition Das Fröhliche Wohnzimmer und nennt sich im Untertitel Zeitschrift für unbrauchbare Texte und Bilder. Mehr brauche ich zu dieser mit viel Copyart, Computerart und weiteren unartigen Experimententalformen angefüllten ca. 45seitigen Zeitschrift (deren gelegentliche Sonderausgaben einem Autor gewidmet sind) wohl nicht zu sagen.
Immerhin wurde Franzobel, der auch zum (erweiterten) Wohnzimmerkreis gehört, 1995 ebenfalls ausgezeichnet: mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis! Das hat mich – wie der V.O.-Stomps-Preis für Pips – sehr gefreut (obwohl ich allen kulturellen Preisen eigentlich eher skeptisch gegenüberstehe: Was hat man nicht schon alles gehört, wie die Preise da verschoben werden … Aber wenn’s dann wenigstens die Kleinen trifft: Bravo!)
Die Edition Das Fröhliche Wohnzimmer publiziert nun allen Widrigkeiten zum Trotz – immer schwieriger wird es in den 90er Jahren, auch nur kleine Summen aus öffentlichen Kassen zu bekommen – ebenfalls seit bald 12 Jahren seine völlig abseits des Mainstreams anzusiedelnden quirligen Bücher, deren Ungewöhnlichkeit kaum beschreibbar, daher einfach ausprobiert werden muß.
Manches aus dem fröhlichen Programm rezipiere ich wie Musik, anderes wie Bilder, auch wenn es sich ›eigentlich‹ um Literatur handelt, eine Literaturart allerdings, bei der am laufenden Band eine natürliche Verquickung ikonographischer, linguistischer und intermedialer Ebenen stattfindet, die mich immer wieder in einen total ungewöhnlichen Erregungszustand (einem spezifischen Gemisch aus Gefühlswallungen und Gedankensprüngen) versetzt, die tatsächlich eine hübsch-häßliche Wohnzimmerstimmung verbreitet – sicherlich nicht bloß bei mir …
3 · Buckelaale · Zwelfenbein
Hauptsache original und originell – und je einfacher die Mittel, um so besser – lautet das Motto von Alex Nitsche (einem Menschen, dessen lyrische Stimme immer prägnanter und – zum Glück – auch immer gefragter wird: Bei Social-Beat- und Off-Lyrik-Aktionen – was immer hinter den Begriffen stecken mag, derer sich die Veranstalter oft unreflektiert bedienen – liest man vermehrt seinen Namen, der zur Zeit Garant ist für starke Lyrik) und der mittlerweile im Bayernlande versucht, die nächste Ausgabe des mail-art-orientierten Magazins gesang der buckelaale auf die Beine zu stellen, und es dauert & dauert, und dann hört man neuerdings aus allen Himmelsrichtungen, daß aus der Edition Heulsuse und der gleichnamigen Zeitschrift, die Nitsche mit Simone Dankert in Schwerin herausgebracht hat, nun die Nachfolgeedition ZWELFENbein entstanden ist, an der auch Tom Toys und Vapet beteiligt sind. (Allerdings – nix Genaues weiß ich nicht …)
Was Alex Nitsche daneben noch alles an kleinen Heulsuse-Publikationen – z. T. im Hosentaschenformat – druckt und kleckst und bindet und tut und macht: einfach + schön. Besonders gefallen hat mir, was Nitsche zusammen mit Tom Toys gemacht hat, nämlich: ELV, von dem ich kürzlich eine neue Auflage gesehen habe: geschnittene Gedichte und Grafiken, handgedruckt und handgebunden: fein! Noch neu ist ein Bändchen mit Gedichten von Hadayatullah Hübsch, das Nitsche auf der diesjährigen Mainzer Mini-Pressen-Messe präsentierte. Bleiben wir also geduldig und warten weiter auf die neue Ausgabe von der gesang der buckelaale – journal für visuelles chaos u. seltsamen text, dessen Format – DIN A 4 halbiert – bereits ins Auge springt und das förmlich nach Farbe riecht!
4 · Hybriden
Der (oder die) Hybride ist ein Mischling, der aus einer (auch bewußten) Kreuzung hervorgegangen ist. Somit ist der Verlagsname von vornherein gleichzeitig Programm: Hartmut Andryczuk kreuzt, und zwar vornehmlich visuelle Poesie und verbale Kunst, all das, was sich unter dem Begriff des Kosmographischen subsumieren läßt, Kunstformen also, der sich nur wenige Menschen (ob rezeptiv oder produktiv) widmen.
Folgerichtig erscheinen im Hybriden Verlag ausschließlich Buchkunstwerke in Klein- und Kleinstauflagen von 1, 2, 4, 13, 21, 55 oder 99 Exemplaren, um nur ein paar der editorisch betrachtet sehr ungewöhnlichen Zahlen zu nennen. Eines der hybriden Produkte heißt beispielsweise Chimären. Hierzu hat Andryczuk 15 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, je 2 x 21 themenbezogene Originalarbeiten einzusenden. Aus den eingesandten Beiträgen entsteht das Gesamtkunstwerk Buch, von dem jeder Beiträger selbstverständlich ein Exemplar als Honorarausgleich erhält. Ein solches Buch hat natürlich seinen Preis. 395, 550 oder gar 1400 DM sind Summen, die meine Leser hier vielleicht überraschen, dem bibliophilen Sammler aber keineswegs zu hoch sind, wenn es um die Vervollständigung einer Kollektion geht. Die meisten Titel im Hybriden Verlag sind denn auch vergriffen.
Regelmäßig erscheint im Hybriden Verlag das kosmographisch orientierte Magazin Teraz Mowie, dessen zunächst unmöglich erscheinende Titeldechiffrierung spätestens dann ganz einfach wird, wenn man erfährt, daß Teraz mowie polnisch ist: Sprich jetzt! heißt es, nicht mehr und nicht weniger … Seit 1989 gibt Andryczuk diese Künstler- und Poetenzeitschrift heraus, deren Ziel in erster Linie die kreative Kommunikation des internationalen Netzwerks der visuellen Poesie anstrebt und fördert, wie es im Impressum einer jeden Ausgabe heißt.
Das alles hat mit dem üblichen Buch oder der gängigen Zeitschrift ja nur noch wenig gemein: Jede Ausgabe von Teraz Mowie beinhaltet z.B. eine Originalbeilage, versteckt in einem eingeklebten Briefumschlag – die Nummer 22 vom Dezember 1996 gar deren zwei.
Ob Drahtbindung, Schuhkarton, schwarzer Briefumschlag oder polnische Sanitätstüte – die Arbeitsmittel und -techniken im Hybriden Verlag des Hartmut Andryczuk sind durch und durch ungewöhnlich und zwingen den eingestanzten Blickwinkel in andere, vielleicht viel zu selten eingeschlagene Richtungen. Und immer wieder sorgt der Hybride für neue Überraschungen: Hybridenland heißt die neue Edition, die ab Ende 1997 Teraz Mowie ablösen wird: Hybridenland ist als Buchkassette, die ausschließlich aus Originalarbeiten verschiedenster Art bestehen wird. Die Startauflage besteht aus 25 Exemplaren, deren Preis um die 400 DM liegen wird. Seit einigen Monaten verschickt Andryczuk Künstlerpostkarten, auf die er auch zumeist ›Antworten‹ erhält. Außerdem verschickt er fadengebundene Schulhefte, die von Leuten wie Pierre Garnier, Jörg Kowalski, Ulla Rohr u.v.a. ›gefüllt‹ zurückgeschickt werden. Neue Künstlerbücher sind in Vorbereitung. Wir sind gespannt …
5 · Ventilieren
Die Mainzer Literaturzeitschrift Ventile ist ebenfalls als weihnachtliche Auspackstimmung verbreitende Kunterbuntwundertüte angelegt, dabei aber weniger international, sondern hauptsächlich an der deutschsprachigen Literaturszene interessiert: Erst sieben Ausgaben sind von dieser Literaturzeitschrift erschienen, aber Marcus Weber & Dr. Treznok haben ihr von Beginn an einen unverwechselbaren (kolorierten) Stempel aufgedrückt.
Im Briefkopf nennen sie sich erLEBniszeitschrift und zitieren V.O. Stomps: Ich will drucken, was die großen Verlage nicht riskieren können oder wollen. Ich suche keine Bestseller, sondern junge Talente, das Abseitige, das Experiment und auch das inhaltlich Gewagte.
Wie eine Wundertüte gefüllt, bietet Ventile Textheft und jede Menge Beilagen: vor allem die unverwechselbaren (wunderschönen) Handdrucke, die dem Standort Mainz alle Ehre machen. Auch der sehr lebendige Inhalt von Ventile läßt auf einen instinktsicheren Literaturgeschmack schließen, der eindeutig editorische Fußspuren hinterläßt – durchgängig. Da geht es zwar kunterbunt und dadawild und furchtbar eigenwillig zu, aber das Ganze ist durchdacht und hat – Stil! Kompliment, meine Herren & Ladies! Schließlich liegt in jeder Ventile-Tüte noch der Ventilator, die von Brandstifter Stefan Brand herausgegebene Zeitschrift für Musik- und Buchrezensionen, für Dada und Experiment (die Sie aber auch unabhängig von Ventileerwerben können).
Ungewöhnlich weiterhin, daß Weber und Treznok nicht nur gemeinsam diese Literaturzeitschrift Ventile publizieren, nein, beide haben auch noch ihren eigenen kleinen Verlag: Bei Weber ist es der amanita-verlag, der die Reihe Faltblattgeschichten mit handgesetzten und auf einer Gutenbergschen Handpresse gedruckten Umschlägen herausbringt, während Dr. Treznok sich in seinem Aygen–Verlag hauptsächlich selber verlegt: Wer sich in Zeiten von (sinnlosen) Rechtschreibreformen nicht mit diesem Lyriqqer beschäftigt, muß sich nicht wundern, wenn er/sie eines Tages nicht mehr mitreden kann!!!
6 · Lichtgestalt
Als Nachruf sei hier mittendrin zwischen all den quicklebendigen Herausgebern an den Klassiker der Zeitschriften für (internationale) visuelle Poesie – Uni/vers(;) – erinnert, der in Halle an der Saale von Guillermo Deisler von 1988 bis 1995 herausgegeben wurde. Guillermo Deisler (v.a. auch als Grafiker bekannt gewordener Gestalter zahlreicher Künstlerbücher) verstarb im Herbst des Jahres 1995, wenige Wochen nachdem Biby Wintjes, der König der Kleinverleger (Claudia Pütz) das Zeitliche gesegnet hatte.
Die Menschen, die Guillermo Deisler gekannt haben, werden diese Lichtgestalt als Kommunikationskünstler schlechthin im Gedächtnis behalten. Vom Prinzip her ähnlich wie Pips erschien Uni/vers(;) ohne Themenbindung im din-a-5-Format, jeweils in 100er Auflage, wobei auch hier die einzelnen Blätter möglichst per Hand gestaltet wurden. Ein Leckerbissen für den Sammler von originaler visual & experimental poetry.
Wie bei Pips oder buckelaale findet man Collagen, Frottagen, Holzschnitte, Linolschnitte, Radierungen, Zeichnungen, Fotos usw. In UNI/vers(;) treffen sich Kosmographische Poesie und Mail Art wie selbstverständlich, und nicht zuletzt dank dieser wirklich herausragenden Publikation (von der 35 Ausgaben erschienen sind) ist diese kommunikative Kunstform Mail Art auch hierzulande ein wenig bekannter geworden: Für mich ist UNI/vers(;) übrigens überhaupt der Einstieg in eine Kunstlandschaft gewesen, die mir bis 1991 gänzlich unbekannt war.
7 · Kontaktismus
Das hierzulande so beliebte Naserümpfen über den Eigenverlag, der nicht nur von V. O. Stomps als notwendiges Mittel der Eigeninitiative in einer auch in der Kultur stark von ›Vitamin B‹ bestimmten Welt betrachtet wird, ist gerade bei einem nicht ›marktkonformen‹ Dichter wie Tom Toys bzw. dessen Ganz&Garnix-Verlag vollkommen unangebracht.
Tom Toys – fälschlicherweise immer wieder zu den Hard-Core-Social-Beat-Autoren gezählt – ist ein absolut autonomer Künstler-Schriftsteller, der sein gedankliches Konzept beständig fortschreibt und sich bewußt weiterzuentwickeln sucht. Die von ihm bis hin zur Bindung/Heftung selbst gestalteten Werke – oft sind die Gedichte auch noch vom ihm umzeichnet – sind somit außen wie innen ungewöhnlich und zeugen von einem schaffenden Geist und Menschen, der in dieser Vitalität unserer Kultur nur guttun kann – egal, wie man zu den Inhalten und Formen seiner Texte und seiner eignen Art als Mensch und Künstler stehen mag.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch sein Engagement für das von ihm erfundene S.E.N.F.-Blatt (Nachfolger von Schmutzengel), das als monatliches Kommunikationsforum für alle die Dichter und Künstler gedacht ist, die sich untereinander stärken und nicht von einem kapitalunterwanderten Kulturbetrieb abhängig sein wollen.
Es tut seine Wirkung – wenn auch im kleinen! Ich habe Tom Toys mehrfach bei (u.a. auch von ihm organisierten) Off-Lyrik-Veranstaltungen erlebt und kann nur sagen: Dieser Mensch und sein Werk sind identisch, in sich stimmig und integer. Leider wird er viel zu oft mißverstanden, weil viele Leute mißtrauisch werden, wenn die Dinge wirklich beim Namen genannt, die Begriffe beim Schopf gepackt und die Phänomene auf den Punkt gebracht werden – und zwar schonungslos und wahrheitsgetreu. Die Suche nach Licht, Liebe und Sinn prägen diese von starkem seins- und echtheitsbetonten Sendungsbewußtsein geprägten Texte, deren Besonderheit weniger in formaler Durchgereiftheit als in ihrer nach Wahrhaftigkeit suchenden Authentizität liegen. Tom Toys‘ Büchlein und Broschüren sind jeweils Stücke eines ungeheuren geistigen Steinbruchs, aus dem noch mancher Rohling herausgehauen werden wird. Soeben finde ich auf der Seite 69 von Rose Ausländers Gedichtband Ich zähl die Sterne meiner Worte folgendes Gedicht, das ich Tom Toys abschließend schenken möchte:
Ich sehne mich Nach Licht und Liebe Doch niemand kommt Ich bin allein Mein Schöpfer sagt Bald wirst du fliegen Und einen nackten Engel sehn
8 · Spinnen
Zu den eher stillen Künstlerbuchmachern gehört Dirk Fröhlich, der in seinem Dresdner Gartenhaus Buchlabor Die Spinne kreiert bzw. ediert, und das jeweils unisono mit 16 an deren Künstlern/Schriftstellern. In 20er Auflagen erscheinen die wertvollen, erstklassig (und sehr ungewöhnlich) gebundenen Künstlerbücher. Etwa 70mal hat Fröhlich dieses Kunststück mittlerweile vollbracht.
Zahlreiche Künstler und Autoren, die auf dieser Welt mit Mail Art und/oder visueller Poesie und experimenteller Kunst zu tun haben, haben hier sicherlich schon ihre Visitenkarte abgegeben. Das editorische Prinzip gleicht dem von Pips und UNI/vers(;), nur entstehen durch die extrem kleine Auflage und die phantastische Bindung Bücher, die quasi unbezahlbar sind: Kaufen kann man sie denn auch nicht – jeder Beiträger erhält sein Honorarexemplar, und die drei überzähligen Exemplare gehen in die drei großen deutschen Buchsammlungen nach Bonn, Frankfurt und Leipzig. Erwerben kann man allerdings von den Büchern kopierte Hefte, die auch einen guten Eindruck von dem vermitteln, was im Buchlabor passiert.
Seit einiger Zeit publiziert Fröhlich auch Einzeltitel – Lyrik und kurze Prosa – in sehr schönen leinengebundenen Büchern: Susanne Altmann, Caroline Hartge, Andreas S. Berndt und gehören zu den Autoren einer literarischen Reihe, die in einer Auflage von 120 Exemplaren publiziert wird und mit Preisen zwischen 24 und 30 DM außerordentlich preiswert ist.
9 · Buchkünstler
In der Beurteilung der buchkünstlerischen Qualität, die Verleger und Herausgeber Hendrik Liersch nun schon anhand von über 50 Büchern seit der Verlagsgründung der Corvinus Presse im Jahre 1990 unter Beweis gestellt hat, ist sich die Kritik absolut einig: erstklassige Gestaltung und Bindung zeichnen diese Bücher aus, deren Markenzeichen Originalmarmorpapierumschlag, Blockbuch, Kartoneinband mit japanischer Bindung, Rückstichbroschur mit Handfadenheftung, Originalgraphik, Handsatz und Buchdruck und/oder signierte und numerierte Vorzugsausgaben sind, deren Preisgestaltung die außerordentlich wohlfeile Volksausgabe ermöglicht. 1991, 1992 und 1994 veröffentlichte ich bei der Corvinus Presse die Gedichtbände Mittendrin, Stillstand in der Arena sowie Der blaue Schmetterling.
Mit Ewa Boura (in Thessaloniki geboren, in London studiert, in Berlin lebend) und ihrem Gedichtband Das erste Buch Eytyxia hält die Corvinus Presse eine weitere Überraschung für ihre Leser und Sammler bereit: In schwarzes Leinen eingehüllt, wird hier ein Künstlerbuch in einer Auflage von 50 Exemplaren präsentiert, das in reiner Handarbeit entstanden ist: Die Gedichte sind handgesetzt und handgedruckt, fünf originale Radierungen von Katharina Kranichfeld variieren Ewa Bouras Thema – Erotik – in eindringlicher Manier. Lakonisch, emphatisch, metaphorisch, chiffriert und wortspielerisch nähert sich die Dichterin in einem Dutzend freirhythmisch verfaßter Gedichte dem lebensbeherrschenden Thema von Sexualität, Liebe, Erotik:
Ein Wind stößt zurück die Zukunft in den Hoden. Ein Grau tönt ins Gebirge hinunter und siehe da eine Taube ist geboren.Sparsam, beinah knauserig mit Worten haushaltend, zwingt uns Ewa Boura zur Reflexion über ein Thema, das die Dichterin durch ihren Stil echt und faszinierend interessant macht.
10 · Künstlerbuch
Am 17. Dezember 1994 hätte Hans Henny Jahnn, tatsächlich einer der bedeutendsten und zugleich am wenigsten gelesenen deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, seinen 100. Geburtstag gefeiert. Grund genug für die gutbürgerlichen Feuilletons, die Vielseitigkeit und Monumentalität dieses bürgerschreckenden Schreibmonomanen zu preisen, als gelte es einen neuen Volkskulturhelden zu entdecken.
Ganz andere Wege geht seit ihrer Gründung vor 6 Jahren die uräus-Handpresse aus Halle an der Saale, die nach Mozart 1991, Kolumbus 1992 und Hölderlin 1993 zum Hans-Henny-Jahnn-Almanach 1994 einlud, der am 17.12.94 erschien. Bei diesem Almanach (1995 übrigens Novalis, 1996 dem Westdeutschen Zyklus von 1836 und 1997 Heinrich Heine gewidmet) handelt es sich um ein jeweils in 100er Auflage erscheinendes Künstlerbuch, das von etwa 25 Künstlerschriftstellern mit originalgraphischen, handgesetzten, collagierten Beiträgen aller Art (kreativ, kritisch, meditativ, assoziativ, subjektiv, originell) gestaltet, von uräus-Verleger Hans-Ulrich Prautzsch professionell herausgegeben und von Bernd Reinhardt in Halbleinen und Karton einfach, aber tadellos gebunden wird.
500 DM kostet diese z.B. auch immer mit Kaltnadelradierungen und Lithographien bereicherte Rarität, zwischen deren Buchdeckeln 1994 eine Jahnn-Hommage entstanden ist, die zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit einem Schriftsteller herausfordert, von dem zu hoffen ist, daß seine mammutige Roman-Trilogie Fluß ohne Ufer (über 2200 Seiten umfassend) nicht nur neureiche Wohnzimmerschränke ziert, sondern auch, wenigstens teilweise, gelesen wird.
Der Hans-Henny-Jahnn-Almanach 1994 ist die 10. Publikation der uräus-Handpresse, die u.a. auch Bücher von und mit Hadayatullah Hübsch und Guillermo Deisler gemacht hat: Handsatz und Hand- bzw. Buchdruck sowie Originalgraphik sind die Markenzeichen dieses kleinen Verlags, dem zu wünschen ist, daß er es schafft, sich gegen die schier unüberwindlich erscheinenden Marktgesetze derart durchzusetzen, daß wenigstens ›Überleben‹ garantiert ist.
Mit diesen kreativ tätigen Menschen, die ich hier kurz (und exemplarisch für eine schier unüberschaubar gewordene alternative Kunst- und Literaturwelt, in der es nur so wimmelt von skurrilen Überzeugungstätern aller Art) vorgestellt habe, habe ich seit Beginn der 90er mehr oder weniger kommunikativ & konstruktiv zusammen gearbeitet. Egal, ob die gemeinsam Wegstrecke kurz oder von längerer Dauer gewesen ist: Sie haben meinen Lebenswandel entscheidend mit beeinflußt und in die Richtung gedrängt, die mich – glücklicherweise – heute bestimmt! Von Hartmut Andryczuk stammt der Begriff Communication Art, der die hier vorgestellten Magazine – so verschieden sie im einzelnen auch wieder sind – stark miteinander im Poetry & Art Network verbindet. Indem wir einander auf dem Postweg begegnen, verwandeln wir unsere Briefkästen in Kunstgalerien & Bibliotheken.
(1995/96)
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.