Zur Rezeption der Gegenwartslyrik

In unserer Reihe mit Texten zur Twitteratur haben wir Prof. Dr. habil Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten.

Zu einem der wesentlichen Merkmale “moderner” deutschsprachiger Gedichte zählt der sogenannte O-Ton, Originalton. Die Autoren, die sich dezidiert “modernen” Schreibverfahren verpflichtet fühlen, fallen oft zum Opfer der Pseudooriginalität und unbeschränkter Willkür. Das kann zum problematischen Gebrauch von Methaphern, Symbolen, zum Zerfall von syntaktischen Verbindungen usw. führen. Als Folge wird das poetische Bild zu kompliziert und der Text kann nur schwer verstanden werden.

In diesem Zusammenhang sei die Polemik von zwei bekannten Lyrikern, P. Wühr und D. Grünbein, angeführt. Der erstere nennt Grünbein “einen Konditormeister” und er meint dabei, dass viele Bilder im Gedicht nicht immer von einer hohen Qualität zeugen. Indem er die Beschuldigungen von Grünbein erwidert, der seinerseits Wührs Dichtung  zu trocken und zu bildlos findet, meint der Lyriker, echte Poesie solle mit den poetischen Stilmitteln sparsam umgehen können.

Der Lyriker R. Malkowski ist davon überzeugt, dass eine Metapher weder blosser Schmuck noch ein Rätsel für Leser sein dürfe. Ob ein Bild neu sei, könne man erst unter Berücksichtigung seiner Klarheit und Angemessenheit einschätzen[1].

Immerhin gilt die Hermetik und Verschlüsseltheit der Gedichte als eines der Hauptmerkmale der Modernität sowie der Qualität in der Lyrik von heute.

Die Schwierigkeiten der Rezeption eines poetischen Textes können nach der Meinung von Malkowski durch mehrere Gründe bedingt sein. Es sei unter anderem  die so genannte «Denkschwäche»[2] erwähnt, d.h. schlechtes Vermögen ein Bild in richtige Worte zu fassen. Nicht selten kommt dazu noch das mangelnde Umgehen mit Verstechniken.  Und wenn das Gedicht außerdem noch die Innenwelt des Autors zum Thema hat, kommt noch mehr Verschlüsseltes dazu. Im Großen und Ganzen ist das besonders für die Mainstream-Literatur typisch. Der brillante Stilist R. Gernhardt hat die Form eines Gegenwartskollektivgedichtes a la “mainstream”» wie folgt beschrieben: der Form nach solle es an eine Art Langwurst errinnern, deren Füllung typische  Ingredienzien: Lamentationen, Neologismen, Wortspiel etc. ist[3]. Zur Bekräftigung seiner Ansicht konstruiert Gernhardt zwei Beispiele, die er aus Zitatfragmenten mehrerer Autoren gebastelt hat. Als Schatzgrube dienten im ersten die Gedichte von P. Hamm, M. Buselmeier und U. Krechel:

«Noch grün, die dürftige / Heimat, Deutschland / im Herbst, säuberlich / aufgeräumt wie immer. // Jetzt werden Ping Pong Tische / ins Freie gezogen / weiße Gartenmöbel / auf den Rasen gesetzt. // Ein rosiges Licht über den Banktürmen / und Spatzen schwätzen an den Pfützen. // Von weitem erkennen / einander Emigranten. // Unterm Efeu Modergeruch /Wie sich Gras / über die Kindergräber wellt»[4].

Die zweite Collage besteht aus den Zeilenfragmenten von H. Thill, D.M. Gräf, S. Techel und H. Schertenleib:

«Speisen trifft der Vater, er lebt weiter: / im Messer, die sich auf weißem Tuch / ständig opfernde Mutter, sie dehnt / TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten / in denen standen die Väter bis zum Hals. / Jedes Runzeln war ein kleiner Tod fehlte / Vater, du darfst nicht gegangen sein es / ist jetzt zuviel Frau im Haus. Überall Rohre / Von hinten her gestanzt Teil um Teil, / wird an den Müttern noch gearbeitet»[5].

Die typischen Züge ähnlicher Gedichte parodiert der Lyriker S. Lafleur in seinem Gedicht «kolonne»:

warte, kolonne, du kommst. der zahlen
wert deiner schritte ist falsch berechnet.
wozu der spiegel auf deinem haupt? dein
gang loest sich nicht von der erde, vom schlaf.
warte, kolonne, dein lenkrad ankert lose
& willkuerlich im schlick der atemluft.
durch koerper zu brechen ist antiker ver
dienst. heute ist der tod eine klammer.
schwarz gerahmte kaesten, schwarze rosen
eine reservierung bei der tageszeitung.
ein salzsee zu fueszen der geliebten, tiefer
bodenspiegel, der kein bild mehr wirft. […]
kein spiegel wendet die sterne, die sonne
von deinem schlaf, du wirst taetowiert. […]
das steht fest! das steht fest! schreie ich
& fuchtle wie ein irrer dabei mit den armen[6]

Das Ziel des Gedichtes ist es, auf ein ernstes Problem zu zeigen, und zwar wie das Individuelle in einem Menschen von der Gesellschaft zermalmt wird. Dabei greift er zu einem in der Mainstreamdichtung sehr beliebten Mittel: die Wirklichkeit wird mit Hilfe von Codes abstrahiert, die nur dem Verfasser selbst bekannt sind.

Als Hauptmerkmal solcher Dichtung wird von vielen Autoren der Begriff «Unverbindlichkeit» verwendet, welcher vor allem als mangelnde Verantwortung des Schreibenden zu verstehen ist, die als Folge eine schlechte Qualität der literarischen Produktion zeitigt.

Ein Gedicht kann zum Rätsel werden, wenn seine realen Bezüge dem Leser unbekannt sind. Als Beispiel kann man das Sonett von K.M. Rarisch «Deepblue»[7] anführen. Schon der Titel stimmt den Leser irgendwie romantisch. Doch die ersten Zeilen mit den Schlüsselwörtern «Zwerge», «klein, «Statur», «Klasse», «Masse» lassen ihn den ersten Eindruck bezweifeln und im Bewusstsein werden andere Assoziationen lebendig:

Viele Zwerge glauben: Klein
sind wir an Statur und Klasse,
aber nicht an Zahl und Masse[8].

Worüber, wenn nicht über Gewalt und Ausbeutung ist hier die Rede? Über Vermassung des Einzelnen und die Bedeutungslosigkeit von Individualität? Der Schluss des ersten Vierzeilers belegt diese Interpretation:

Schraube los? Wir schrauben ein! [9]

Dieses Motiv wird auch von der zweiten Strophe bekräftigt, wo «der Hass» (im Bewusstsein des Lesers mit den Machthabern assoziiert) der sich damit  reimenden Däumlingsrasse entgegengesetzt wird. Am Schluss des Gedichtes wird auch das Ausbeutungsobjekt klar benannt — «Bauern» (der zuvor entstandenen Konnotation entsprechend wird das Wort vom Leser in der Bedeutung «Landarbeiter» verstanden):

Macht aus faulen Trauben Wein,
doch laßt ab von eurem Hasse
gegen unsre Däumlingsrasse,
laßt das Bauernrauben sein![10]

So oder ähnlich wurde das Gedicht von den meisten von uns befragten Rezipienten verstanden.

Als Grundlage einer anderen Interpretation diente die zweite Bedeutung des Wortes «Bauer», und zwar «Schachfigur»[11].

Möglich wäre noch eine dritte Lösung dieses Gedichträtsels. Wenn sich unter den Rezipienten womöglich ein Kartenspieler befindet, könnte das Wort «Bauer» auch als entsprechende Kartenbezeichnung begriffen werden.

Einer der Befragten hat den Inhalt des Gedichtes mit dem Signifikant «Zwerge» aus dem bekannten Märchen «Schneewitchen und sieben Zwerge» verbunden.

Die eigentliche Vorlage des Gedichtes konnte nur der Verfasser des Gedichtes nennen. Die Entzifferung liegt übrigens schon im Titel des Gedichtes. «Deepblue» ist der berühmte Rechner, den der russische Schachspieler Kasparow nicht schlagen konnte:

Was wir in das Blech gesteckt,
das hat Int’ligenz geweckt,
adelt Variantenschutt!

Was der Gegner auch bezweckt —
wir sind schneller, sind perfekt!
Input. ..Output. ..Liliput[12].

Es sei bemerkt, dass diese Tatsache nur einem der Befragten eingefallen ist. Der Autor des Gedichtes selbst beabsichtigte keine Rezeptionsmehrdeutigkeit des Gedichtes. Es wurde geschrieben als Reaktion auf ein Ereignis, dass zu der Zeit sehr viel von den Massenmedien besprochen wurde und deswegen keine zusätzlichen Kommentare seitens des Autors erforderte.

Die meisten Lyriker greifen zum Element des Unausgesagten ganz bewusst, um den Leser zum Nachdenken  zu bewegen. Und gerade hier liegt die Gefahr, dass das Gefälle zwischen der Information, über die der Autor verfügt, und das, was das Gedicht einem Leser mitteilen möchte, nicht all zu groß wird. Die Vorliebe für wenig bekannte oder vergessene Tatsachen führt oft dazu, dass die Kommunikation zwischen dem Autor und dem Leser sich problematisch gestaltet, wenn nicht unmöglich wird.

Besonders kompliziert für die Rezeption sind natürlich experimentelle Texte. Als Beispiel kann man Gedichte von U. Stolterfoht anführen, die praktisch auf linearer Ebene nicht verstanden werden können. Mit Hilfe von oft wenig bekannten Zitaten und Allusionen lässt er aus seinen «Fachsprachenatomen»[13] neue semantische Felder und damit das Modell der gegenwärtigen Welt entstehen.

Als Beispiel sei hier die Interperation des Autors seines Gedichtes «Muttersprache 1968 / 2: sterbeverein ernst mach» angeführt:

trug sinn (–gemäß statut: erfahrung zu ersparen)
dem mißverhältnis haut zu markte rechnung
— sprach also zunftversetzt vom beil im haus des seilers:
«hast ausgeholt — nun hacke!». zu spät:

der flocht nicht mehr — der schlang bereits. und
kam der welt abhanden. sei dann «knüpft an» das
was beschreibung leisten kann? antwort: «laich
wohnt noch im kleinsten teich» zeigt was mit stum-

mel möglich ist. ein freilich leibnizscher verweis.
heute vielleicht: wie man den molch zum abfluß
führt. Ganz nebenbei viel pfuhl gespart durch wirt-
schaftliches dichten IST WOHL des forschers vornehm-
stes betreiben die kreterfrage «weltbeladen» zu-
gunsten «sprachdurchtränkt» entschieden. das ganze
sach auf nichts gestellt: wenn wörter was sie selber
körpern doch allenfalls am suffix spüren muß ihr

bezug ein nehmen sein. auf AUF ihr zeichen unver-
zagt: habt abgeschnürt — nun nabelt! kommt jeweils
eine ziehung. sprach ungeschlacht von «in betracht»:
am fremden knoten aus dem nunmehr unersparten sumpf[14].

Als Vorlage des Gedichtes diente dem Autor der von ihm im Heft 2 (1968) der Zeitschrift «muttersprache» gelesene Artikel «Sterbevereine», die Anfang des 20. Jahrhunderts in Grossbetrieben, hauptsächlich im Bergbau, gegründet wurden. Jeder Arbeiter sollte monatliche Beiträge zahlen, damit nach dem Tod die Familie keine zusätzliche Last zu tragen hätte. Der Zynismus dieser Idee wurde zum Impuls das Gedicht zu schreiben. Auf diese Weise wird das Sprichwort «man spricht nicht vom beil im haus des henkers» durch den Sarkasmus der ins Zitat eingearbeiteten Antithese umgedeutet, wobei das Wort  «der Henker» durch das mehrdeutige Synonym «der Seiler» ersetzt wird. Das Bild wird mit dem Zitat aus W. Sorokin ergänzt: «hast ausgeholt — nun hacke!». Dem folgt ein mehrdeutiger Appell an den Leser: «knüpft an». Das heißt, der Leser solle sich nicht auf die erhaltene Information beschränken, sondern der Sache auf den Grund gehen, so wie das der Autor macht. Denn gemäß dem Sprichwort  «der Platz (die Frage ist aber wofür — T.K.) ist auch in der kleinsten Hütte da», was bei Stohlterfoht bedeuten soll: «laich wohnt noch im kleinsten teich». Und da ist schon die Antwort: aus den stummeln (Kaulquappe, Bleistiftstummel), «lebendiger Weltallspiegeln» von Leibniz kann allerlei wachsen, zum Beispiel schreckliche Salamander. In diesem Zusammenhang entsteht das Problem:  «wie man den molch zum abfluß führt». Das ist, wie die Anspielung auf das Wittgenstein-Zitat: «der Fliege einen Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen» vermuten lässt, die Aufgabe der Gesellschaft. Der Dichter kann nur dazu verhelfen die Fliege ins Fliegenglas zu locken. Nicht einmal dieses Problem ist heute, wie U. Stolterfoht meint, gelöst. Der kommerzialisierte Literaturdiskurs entscheidet zugunsten des Mach`schen Prinzips, wobei «viel pfuhl gespart» wird. In der  Mainstream-Literatur ist das Problem  «weltbeladen» zugunsten «sprachdurchtränkt»[15], mit anderen Worten Inhalt zugunsten Form, und umgekehrt nicht mehr relevant. Im Gegenteil, haben die Schriftsteller, die diese Strömung, wo im Großen und Ganzen weder das eine noch das andere vorhanden ist, begünstigen, in einem anarchistischen Eifer, wie das Stolterfoht nennt, indem er M. Stirner zitiert, «das ganze sach auf nichts gestellt».

Für Stolterfoht selbst sind dagegen Inhalt und Form untrennbar. Er spielt dabei provokatorisch mit beidem und fühlt sich deswegen in der avantgardistischen Kunst wie zu Hause. Was sein Verhältnis zum Leser anbetrifft, denn für den letzteren sind die Texte von Stolterfoht Gleichungen mit vielen Unbekannten, so ist es aus dem Zitat «habt abgeschnürt — nun nabelt! kommt jeweils eine ziehung»[16] am Gedichtschluss gut zu ersehen, wo er  Münchhausens «Sich-Herausziehen-aus dem Moor», und  zwar am eigenen Schopf, wirkungsvoll nutzt. In diesem Sinn wird dem Leser «als einer sinnerzeugenden Maschine»[17]  die volle Interpretationsfreiheit gewährt.

Auch A.J. Weigoni weiß, wie man Dichtung zu Klang macht. Er bringt Ausdruck und Struktur in Einklang, instituiert damit eine auratische Zeichenhaftigkeit dodekaphoner Expressivität und verändert die Sprache mit jedem Sprechen. Die Zeichen geraten in Schwingungen, feste Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden lösen sich auf.

Für viele Autoren, die sich als modern präsentieren, gilt die Destruktion der Sprache und poetischer Formen im Geist der Traditionsumstürzler als Ausgangspunkt für einen weiteren postmodernistischen Text-Bau. Manche, zum Beispiel V. Demuth betrachten das als  «Reduzierung der Einfachheit»[18], welche sich unter anderem darin äussern kann, dass er seine Lesungen manchmal mit dem Rezitieren von mathematischen Formeln beginnt. Das hilft ihm «die Kompliziertheit von Wirklichkeitserscheinungen auszudrücken»[19]. Wie dem auch sei, die poetische Praxis sieht durchaus anders aus. Die Fragmentpoesie von Demuth erweist sich für den Rezipienten als ausgesprochen schwierig. Die Bilder entstehen als eine Sequenz von Gegenüberstellungen bzw. als ein Kontrastverfahren von Realität und der assoziativ entstehenden Gedankenfetzen, ähnlich wie bei filmischen Schnitttechniken. Die in Bezug gesetzten Elemente gehören dabei nicht selten ganz  verschiedenen Begriffsbereichen an. Oft etwa werden die Naturwelt und die seelischen Zustände des Individuums der Medizinsphäre oder anderen wissenschaftlichen Systemen zugeordnet, was in entsprechender Lexik ihren Ausdruck findet. Die dadurch entstehende Komplexität und inhaltliche Verschlüsseltheit verbindet sich weiter mit fragmentarisierter und polyvalenter Syntax, wo in der Regel auch graphische und interpunktionelle Kennzeichnungen frei gehandhabt werden, häufig durch slashs. Ein prägnantes Beispiel dafür ist das Gedicht «Stalinallee, nach und nach», das sich auf eine Ostberliner Prachtstraße bezieht, erbaut in den ersten Jahren des Sozialismus, später Schauplatz des Aufstands vom 17. Juni:

Wenn das Singen beginnt / die Sirenen / aus

der Schienenhaut / spult eine Zeit mit Himmelsrichtung /

zurück / der regelmäßige Insasse erwärmter Luft /

ist es das Bild pappgrauer Nierenschale / ost

eologische Verbindung / an der die Nacht mein

Mund liegt / wenn / später der lachhafte Milchzahn

einer kalten Stunde ins Steppengras der Hundeinseln

beißt / die unter Luftschächten entfallenen Gesichter / dort /

an den Übergängen in Fleisch und Flecken/ und

andere Linien knöchelhoch mit Platten versiegelt /

hin / ich in einem analogen Morgen / auf

gezeichnet in staubigen Eschenblättern / von frierender

Nässe gepresst / wenn / sie unter Tierhäuten

längst zerrieben sind zu dieser stinkenden Gehschicht […][20].

Zum Gegenstand des Spiels und Experiments wird in der Gegenwartslyrik die avantgardistische Tradition als solche. Die Autoren greifen dazu passende Bausteine zurück, um Elemente für neue Konstruktionen zu finden. So liegt zum Beispiel dem unten zitierten Gedicht von A. Janz der Text aus dem Werbekatalog der Firma «Ikea» AB SOFORT KANN JEDER MONTAGS NACHBESTELLEN zugrunde:

SOFO kles
kan- N JED erzeit
F ONTA ne
beNACH richtigen![21]

Die ursprüngliche Textquelle bekommt um sich herum ein Gerüst aus verschiedenen Wortbildungselementen aufgebaut, das nach dem Assoziationsprinzip errichtet wird.

Von Jandl gelobt wurde die anhand seines Gedichtes «My own song» :

Ich will nicht sein / So wie ihr mich wollt / Ich will nicht sein wie ihr / So wie ihr mich wollt […][22] — konstruierte achtteilige Collage.

Der Originaltext wird transformiert, wobei ein ganz neuer lautsemantischer Komplex entsteht:

 Ble ICH steht
die SO nne
über`m Te ICH.
Im  SO fa
br   ICH t
Philo SO  phie[23].

Die Verabsolutierung der Form als substantieller Instanz ist seit der Romantik bekannt. Daraus folgt die Anerkennung von Chaos anstatt Ordnungsmäßigkeit, Zufall statt Determinierung, Dissonanz statt Einklang, Fragment statt Ganzheit usw.[24]. All das führte in der Folge nicht nur dazu, dass nicht traditionelle Formen für das Begreifen des Ideals in Griff genommen wurden. Die Weltaufspaltung, von der Moderne einmal postuliert und extrapoliert, wurde von der Postmoderne geerbt.  J. Sartorius erklärt die moderne Poesie des Fragments in der Nachfolge der «Minima Moralia» von Adorno als «Widerspiegelung eines zerbrochenen Lebens» mittels bewusst «zerbrochener Sprache»[25]. So hat zum Beispiel die «zersprengte Ode»[26] von Grünbein zum Ziel, die Unmöglichkeit zu demonstrieren, ein Text könne überhaupt je als Ganzheit wahrgenommen werden[27]. Und schon gar nicht ist es im 21. Jahrhundert möglich, wie das unter anderem V. Demuth in seinen poetologischen Aussagen betont, von einer Ganzheit und Einheitlichkeit der heutigen Welt zu sprechen. Denn diese Welt stellt nach Demuths Auffassung eine fragmentarische, offene Struktur dar, was gerade das gegenwärtige Gedicht mit seiner ihm eigentümlichen Sprache zeigen soll. Wo aber das Gedicht fast topografisch zum Sprachgelände mit Bruchzonen wird, erschwert dies naturgemäß dessen Rezeption. Doch entgeht die Lyrik dadurch nicht der Frage nach Bedeutung, im Gegenteil, sie erweitert und verschärft sie noch.

 

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Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.

Weiterführend →

Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.

Prof. Dr. habil Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie.

Literatur:

Braun, M. (2002): «Vom Rand her verlöschen die Bilder»: zu Durs Grünbeins Lyrik und Poetik des  Fragments.  In:  Durs Grünbein / H.L. Arnold. München. 4–18.

Demuth, V. (2005): Dieses ungeheure Textrisiko. In: Schreiben Leben / R. Draghinescu. Ludwigsburg. 67–81.

Demuth, V. (2001): Stalinallee, nach und nach. In: Bits and Bones. Weilerwist. 36–37.

Die deutsche Romantik: Poetik, Formen und Motive (1967): / H. Steffen. Göttingen. S. 65–67.

Gernhardt,  R. (1999): Aufgeladenes Rauschen: Fragen zum Gedicht. In:  literaturkritik.de.  № 7.  103–110.

Jandl, E. (2002): My own song. In: Aus dem wirklichen Prosa. München, 2002. 52.

Lafleur, S. kolonne. Zitiert nach dem handschriftlichen Original.

Malkowski, R. (2001): Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten. In: Akzente. Heft 1. 19–22.

Rarisch, K.M. (2000): Deepblue. In: Der Nachgeborene — Redensartigkeiten und Sonette. Hamburg. Unpaginiert.

Sartorius, J. (2003): Minima Poetica. Vom Machen von Gedichten und von der Macht der Poesie. In:  Minima Poetica: für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts / J. Sartorius. Frankfurt a. M. 3–12.

Weigoni, A.J. (2013): Parlandos, Langgedichte & Zyklen, Edition das Labor 2013

Stolterfoht, U. (2005): Fachsprachen I–IX: Gedichte. Basel, Weil am Rhein, Wien. 128.

Stolterfoht, U. (1998): Muttersprache 1968 / 2: sterbeverein ernst mach.   In:  Das verlorene Alphabet: deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre / M. Braun, H. Thill. Heidelberg. 98.


[1] Malkowski (2001, S. 22).

[2]Ibid. S. 19.

[3] Gernhardt(1999, S. 106).

[4] Ibidem.

[5] Ibidem.

[6] Lafleur (Unveroeffentl.)

[7] Rarisch (2000, Unpaginiert).

[8] Ibidem.

[9] Ibidem.

[10] Ibidem.

[11] Vgl. die  Analyse des Gedichtes von R. Wohlleben: www.fulgura.de.

[12] Rarisch (2000, Unpaginiert)

[13] Vgl. die Titel seiner Gedichtbände: Stolterfoht U. Fachsprachen I–IX: Gedichte. Basel, Weil am Rhein, Wien, 2006.; Fachsprachen XIX–XXVII: Gedichte. Basel, Weil am Rhein, Wien, 2004; Fachsprachen X–XVIII: Gedichte. Basel, Weil am Rhein, Wien, 2002.

[14] Stolterfoht (1998, S. 98).

[15] Brief an T.K. von 23.01.2002.

[16] Stolterfoht (1998, S. 99).

[17] Brief an T.K. von  23.01.2002.

[18] Demuth (2005, S. 80).

[19] Ibidem.

[20] Demuth (2001, S. 36).

[21]  Zitiert nach einer Autorenhandschrift.

[22] Jandl (2002, S. 52).

[23] Zitiert nach der Handschrift des Originals.

[24] Vgl. auch: Die deutsche Romantik: Poetik, Formen und Motive (1967, S. 65–67).

[25] Sartorius (2003, S. 9).

[26] Braun (2002, S. 13).

[27] Vgl: «Nach den Fragmenten» // Falten und Fallen: Gedichte. Frankfurt a. M. 1994. S. 55–56); «Ameisenhafte Größe» (S. 13–17), «Mein babylonisches Hirn» (18–33) // «Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen: Aufsätze 1989–1995». Frankfurt a. M., 1996.