Vorbemerkung der Redaktion: KUNO beschäftigt sich mit dem Wandel der Geschlechterbilder. Michel de Montaigne (1533–1592) hielt Frauen nicht der Freundschaft fähig – ihnen fehlten die geistigen Fähigkeiten, um mit dem Mann mitzuhalten. Er räumt allerdings ein, daß die Freundschaft zu einer Frau – so sie denn doch über die geistigen Fähigkeiten verfügt – noch stärker sein könne, weil sie Geist, Seele und Körper umfasse.
Die Zuneigung zu den Frauen kann man mit der Freundschaft nicht gleichsetzen, obwohl wir auch zu ihr uns selbst entscheiden; sie spielt eine andere Rolle. Das Liebesfeuer ist, wie ich zugeben muß, eingreifender, brennender und peinigender; aber zugleich ist es mutwillig und unbeständig, flatternd und sich wandelnd, eine Art Fieberglut, die auf- und abschwillt; ein Feuer, das nur Teile von uns versengt. In der Freundschaft dagegen herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt und die außerdem immer gleich wohlig bleibt; eine dauernde stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die nicht sengt und nicht verletzt. Außerdem ist das Wesentliche bei der Liebe ein unstillbares Sehnen nach einem Ziel, das immer entweicht, sobald die Liebe in das Gebiet der Freundschaft hinübergreift, das heißt, wenn die Herzen sich finden, verliert sie an Feuer und Kraft; ihre Erfüllung ist ihr Ende; denn das Ziel, das nun erreicht ist, ist ein körperliches, und damit zieht die Gefahr der Übersättigung herauf. Bei der Freundschaft jedoch sind Sehnsucht und Genuß identisch; sie steigt, sie gedeiht, sie wächst durch ihren Genuß gerade erst recht, denn sie bleibt etwas Geistiges, und die Seele veredelt sich in ihr. …
Die Ehe ist ein Vertrag; nur der erste Anfang ist frei, der Fortbestand wird durch Zwang und Gewalt durchgesetzt, hängt also nicht von unserem Willen ab, der Zweck des Vertrags ist gewöhnlich nicht die Erfüllung der Liebe; außerdem bringt die Ehe viele unerwartete Probleme mit sich, die es zu lösen gilt und die oft schon genügen, eine lebendige Zuneigung zu trüben oder in die Brüche gehen zu lassen: bei der Freundschaft ist das anders; bei ihr spielen wesensfremde Gesichtspunkte geschäftlicher oder familiärer Art keine Rolle. Hierzu kommt freilich, daß Frauen in der Regel die Ansprüche an das Niveau nicht erfüllen, die man an eine Geistesgemeinschaft stellen muß, wenn daraus dieses heilige Band der Freundschaft sich entwickeln soll; es scheint so, als fehle es ihnen an seelischer Widerstandskraft, um den Druck einer so anspruchsvollen und so dauernden Bindung auszuhalten. Allerdings, wenn das nicht so wäre, wenn sich ein ganz freiwilliges und zwangloses Band so knüpfen ließe, daß nicht nur die völlige seelische Gemeinschaft genossen würde, sondern die körperliche Gemeinschaft noch hinzukäme, der Mann sich also allseitig einsetzen könnte, dann würde die Freundschaft etwas noch Vollständigeres und Vollkommeneres werden…
***
Quelle: Les Essais de messire Michel, seigneur de Montaigne. Erster und zweiter Band 1580, dritter Band 1588
Weiterführend → Lesen Sie auch einen KUNO-Beitrag zu Gattung des Essays.