Die Größe der kleine Form

Mit der Schneckenpost setzte sich der Briefroman durch. Mit der Psychoanalyse kam der literarische Bewußtseinsstrom. Mit dem Microbloggingdienst Twitter kam die Twitteratur.

In den Zeiten der „Neuen Unübersichtlichkeit“ sind Konzentrations- und Selektionsgabe gefragt. KUNO hatte das Mikrogenre Twitteratur in 2014 zum Themenschwerpunkt erhoben, denn technische Neuerungen sind immer auch eine Chance für scheinbar überholte literarische Formen. Bisher bilden die kleinen Formen, die in jeder Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte, Feuilleton und natürlich der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form. Bestand die Modernität der lakonischen Notate bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur.

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

Roland Barthes

Die Sparte Twitteratur wird mehr und mehr auch zum Tummelplatz für kreative Schreiber, Poeten und Twitteraturisten, die einen scharfzüngigen Geistesblitz oder pointierten Aphorismus, unterhaltsame Kürzestgeschichten oder pfiffige Wortspielereien kunstvoll in 140 Zeichen* packen. Twitteratur ist Text in Prosa in einer Serie gleichartiger Postings, innerhalb dieser Serie aber jeweils von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar; zusätzlich in einem einzelnen Satz oder auch anderweitig in konziser Weise formuliert oder auch sprachlich pointiert oder auch sachlich pointiert. Twitteratur eröffnet die negative Verdoppelung seines Selbstbezugs eine Alternative, zwischen deren beiden Seiten es keine Verschiedenheit gibt, sondern nur immer wieder neu zu treffende Entscheidungen.

Das Merkmal für ist Twitteratur ein einzelner Gedanke, der in nur einem Satz oder wenigen Sätzen selbständig bestehen kann. Oft formuliert er eine besondere Einsicht rhetorisch kunstreich als allgemeinen Sinnspruch (Sentenz, Maxime, Aperçu, Bonmot). Erst seit einem Jahr wird die Twitteratur als eigenständige Prosagattung anerkannt und erforscht. Er gilt als widersprüchliche Textform mit folgenden Kerneigenschaften:

    • In der Tendenz eher nichtfiktional, ist Twitteratur sowohl der Literatur als auch der Philosophie zuzuordnen.
    • Ihr häufigstes Bauprinzip ist die Antithese, zum Beispiel: Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang (Hippokrates), die oft auch noch polemisch zugespitzt wird.
    • Besonders wenn ein Sprachbild aufgegriffen und bildlich verlängert wird, führt die antithetische Wendung häufig zum Paradox, zum Beispiel, Mit dem Band, das ihre Herzen binden sollte, haben sie ihren Frieden stranguliert (Lichtenberg).
  • Virtuoser Umgang mit Bild- und Aspektwendungen ist oft auch ein Kennzeichen des Essays, des „grossen Bruders“ der Twitteratur. Der Übergang zwischen beiden ist fließend, eine Grenze für die Länge wird von der Literaturwissenschaft mehrheitlich abgelehnt.

Sollte in Selbstbestimmung und Selbstauflösung die Produktivität von Twitteratur liegen?

Jan Drees und Sandra Annika Meyer untersuchen diese neuen digitalen Kürzestschreibweisen. Sie erklären nicht nur die rhetorische und literarische Funktion von Retweets, Hashtags, Followern. Sie folgen auch den Spuren, die E-Mails, Smartphones, Chats und Twitter in der Gegenwartsprosa hinterlassen haben – um dann dort anzukommen, wo „Weltliteratur in 140 Zeichen“ geschrieben wird. Der Weg führt sie dabei von der Ein-Satz-Short-Story Ernest Hemingways bis hin zu den Tiny Tales Florian Meimbergs und den funkelnden Mini-Posts von Jan-Uwe Fitz. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in dieser Kunstform wieder.

Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung.

 

 

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TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen, von Jan Drees und Sandra Anika Meyer. Die GENERATOR-Reihe wird herausgegeben von Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und -gestaltung an der UdK Berlin. Format: Kindle Edition, Dateigröße: 634 KB. Seitenzahl der Print-Ausgabe: 70 Seiten. Verlag: Frohmann

Weiterführend →

KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Über den Vorläufer der Twitteratur berichtet Maximilian Zander. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Maximilian Zander berichtet über eine Kleinform der spanischen Literatur. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Nur auf KUNO sind die Mikrogramme von A.J. Weigoni zu finden. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den vorläufigen Schlußpunkt.