Die Leute denken, es ist Jerry Cotton und merken dann, daß man ihnen Literatur angedreht hat.
(Aktuelle Stunde / WDR)
Ein redaktioneller Vorgriff:
Der Begriff „die bleierne Zeit“ entstammt ursprünglich dem Gedicht Der Gang aufs Land von Friedrich Hölderlin. Das „Offene“ des Gedichts bedeutet eine neue Offenheit aller Lebensbezüge. In der „BRD“ wurden die 1950er Jahre oft als bleiern beschrieben, die durch Verkrustung und Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen geprägt war und – vermeintlich – erst durch die sogenannte Studentenbewegung 1968 aufgebrochen wurde; dieser Irrtum wurde später aufgeklärt. Eine Umdeutung erfuhr der Begriff durch die Zeit des RAF-Terrorismus während der 1970er Jahre, bei der das Wort bleiern – vordergründig – auch mit den Bleikugeln assoziiert wurde, mit denen linksterroristische Organisationen töteten. Dann kam eine durch Dr. phil. Helmut Kohl proklamierte „Wende“.
Gegen diesen Zeitgeist richtete sich das Programm des Krash-Verlags.
Die Gossenheftreihe des Krash-Verlags präsentiert eine Ästhetik der Nichtpriviligierten und zeigt die Kehrseite einer Kultur, ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes und Begehrtes. Diese Literatur beschäftigt sich mit dem Anderen in dieser Doppeldeutung und holt etwas in die Kultur zurück, was den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist. Mit dieser Reihe galt es die Senkgrube der Trivialität durchschreiten. Sie nimmt sich dessen an, was eine gegebene Kultur von dem abgrenzt, was sie als Gegenkultur oder Unkultur betrachtet. Diese Literatur ist das Medium einer Selbstethnographie, die beobachtbar macht, was die Normalitäts- und die Alteritätsannahmen einer Gesellschaft sind, sie zeigt uns, was in unserer Gesellschaft und Kultur möglich, kaum möglich und unmöglich ist. Dabei bilden Ordnung und Gegenordnung ein sich bedingendes Gefüge. Diese Heftromane werden geradezu zum Gradmesser für die in der geltenden Kultur herrschenden Beschränkungen und halten uns den Spiegel vor, sie zeigen unsere eigenen verdrängten Gelüste und eine Schmuddelvariante unserer Welt des neoliberalen, rasenden Stillstands.
Scharfe Schüsse, ätzende Figuren. Gossenromane mit ausgefeilter Redekultur für alle, die Trash & Tragödie nicht missen wollen.
Buchkultur, Wien
Im Herbst 1989 erschien im Krash-Verlag das erste Gossenheft mit dem Titel Jaguar, der Verlag aus der Domstadt griff auf die Tradition des pulp magazines zurück. Die ersten „Groschenhefte“ erschienen um 1920 in den USA, das bekannteste hieß Black Mask, herausgegeben vom Journalisten H. L. Mencken und dem Kritiker George Jean Nathan. In diesem Schundheft publizierten Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Cornell Woolrich u.a. ihre ersten Short-Storys. A.J. Weigoni regte den Verleger Dietmar Pokoyski 1989 dazu an, das von ihm entwickelte Konzept Gossenhefte ins Programm aufzunehmen. Die BRD-typische Teilung in seriöse und triviale Literatur reizte dazu, sich elegant und mit einem ironischen Augenzwinkern zwischen diese Stühle zu setzen. Zusammen mit dem Krash-Verlag startete Weigoni eine Reihe, die das bekannte Format benutzte. Auch wenn der WDR das erste Gossenheft unter dem Titel Auf der Suche nach McGuffin als Hörspiel produzierte, wurde die Reihe einem rasanten Start ein Flop, weil Satire, Ironie und tiefere Bedeutung im wiedervereinigten Deutschland kaum eine Chance haben. Aber wie postulierte der bayrische Anarchist Herbert Achternbusch: „Du hast keine Chance, aber nutze sie.“
Dekonstruktion ist schwierig; Sie ist ebenso schwierig wie Kreation.
Antonio Gramsci
Die Überhöhung von Kunst zur Kunstreligion ist in der modernen Wohlstandsgesellschaft selbstverständlich geworden. Daher ist es kein Zufall, daß Jaguar die Großstadt zum Schauplatz hat. Die topografische Orientierungslosigkeit gehört zum moralischen Orientierungsverlust und zur kognitiven Verwirrung. Daher ist Weigoni stets auf ironische Brechungen bedacht und anerkennt die Historizität der Groschenhefts unter dem Blickwinkel einer Geschichte ephemeren Trashs, einer Geschichte, die er besser kennt als mancher andere und nie aus den Augen verliert. Diese Prose ist eine romanhaft scheinenden Doppelhelix, sie brilliert in den Kategorien: Unbestimmtheit, Wahrscheinlichkeit und Diskontinuität; die Lächerlichkeit eines rationalen Ordnungsbegehrens angesichts der qua Entropie zunehmenden Unordnung; die unverbindliche Rekombination von Populärem und Hochkulturellem. Der Romancier nutzt die sogenannte Popkultur als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Wache Augen, scharfer Verstand, lockere Zunge und kehlige Underground–Rotzigkeit, der Mix aus krimineller Energie und Aktionismus ist abwechslungsreich und kulminiert in der Erkenntnis: Kitsch ist gesammelte Sehnsucht.
Es wäre pueril, sich einzubilden, dass man – bisher ein Leben lang gewohnt, an Krimi=Altären oder denen Jerry Cotton’s zu frönen – Moderne Literatur nun sogleich mit hohem Genuss vom Blatt zu lesen beginnen könnte: dem ist nicht so!
Arno Schmidt
Jaguar ist eine ‚Melancholödie’, die in einer großstädtischen Kneipen- und Kunstszene spielt, das Akademieumfeld der Landeshauptstadt NRWs und die Szene der Ratingerstraße sind ahnbar. Historischer Bezug der Figuren ist der Rock’n’Roll. So denken und handeln sie auch: schnell, hart und laut. Dabei verfangen sie sich in ausgelegten Fallstricken. Schneider und Zonker sind Figuren in einem Spiel von Dr. h.c. Paul Pozozza. Pozozza ist Repräsentant eines Systems, an das er nur glaubt, weil es Profit bringt. Die Malerin Vera Strange ist nicht nur ein Inbegriff romantischer Künstlerexistenz, sondern ein spätes Aufleuchten der Moderne in einem ungleichzeitigen Kontext. Weil Romantik der letzte Versuch ist, in der Kunst etwas Ganzes zu schaffen und die Moderne das Bewusstsein ihrer notwendigen Zerrissenheit einschließt, dann ist sie ein Repräsentant von beidem, es ist Charakterstudie des abweichenden Verhaltens. Dazwischen steht die Galeristin Grazia Terribile. Sie hat ideelle Vorstellungen, die sie materiell umsetzt.
Weigoni verbindet Politik, Artnapping und Popkultur zu wilder Krimi-Poesie.
Jo Weiß
Weigoni hat das Genre „Kriminalroman“ zerlegt, durcheinandergewürfelt und mit den EInzelteilen das Gegenteil von dem gemacht, wozu sie da waren.Alles stimmt, aber es ist nicht unbedingt wahr, denn es geht um Sachverhalte, die nicht aufgeklärt sind. Aber was hat die Malerin Vera Strange mit Datenschmuggel zu tun?
Selbstversändlich ist dieses Gossenheft Literatur, es erfordert nur ein neues Lesen!
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Weiterentwicklung →
Das erste Gossenheft dieser Reihe, den 1989 erschienenen Jaguar, überarbeitete A.J. Weigoni im Lauf der Zeit zur Neo-Noir-Novelle Der McGuffin – Nachruf auf den Kriminalroman für das Buch Cyberspasz, a real virtuality. Weiteres kann man auf kultura-extra nachlesen, zusätzlich kann man sich in einem Hintergrundgespräch auf Lyrikwelt.de informieren. Ein nicht minder lesenswerter Essay findet sich auf fixpoetry. Eine Leseprobe findet sich hier und Probehören kann man eine Rezitation von A.J. Weigoni auf MetaPhon die durch Tom Täger vertont wurde.
Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.
Weiterführend →
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso endrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp.