Das Fürstentum Liechtenstein (25 mal 5 Quadratkilometer gross) liegt im Rheintal zwischen Österreich und der Schweiz. Dort wohnen etwa 35 Tausend Menschen. Das 2001 gegründete Literaturhaus (erfüllt die Funktion eines Schriftstellerverbandes) vereinigt einige Dutzend Schriftsteller. Es hat zum Ziel die Autoren aus Liechtenstein zu unterstützen und die Literatur aus Liechtenstein in die Welt, vor allem in den deutschsprachigen Raum zu bringen. Zahlreiche Lesungen und andere Veranstaltungen bringen dazu bei, dass die Liechtensteiner Autoren schreiblustiger werden und ihre Bücher sich auf dem deutschsprachigen Büchermarkt mehren. Dieser Tatsache verdanken ihren Namen in Europa zum Beispiel Claudine Kranz (der Lyrikband «Gegenlicht», Frankfurt, 2000), Michael Donhauser, der bekannteste Liechtensteiner Schriftsteller, der mit Romanen wie «Edgar» und «Livia oder Die Reise» –Salzburg, 1996 eine internationale Anerkennung gewonnen hat.
Der Kabarettist, Sänger und Stückeschreiber Mathias Ospelt, der politische Phänomene wie Rechtradikalismus seit Jahren thematisiert, ist auch mit seinen Auftritten ausserhalb Liechtenstein sehr bekannt. Dazu kommen noch Iren Nigg, Hansjörg Quaderer, Mathias Ospelt, Gerhard Beck und andere in Betracht.
Seit dem Jahr 2000 sind die Liechtensteiner Verlage Stammgäste der Frankfurter Buchmesse, was die Werke der Autoren aus Liechtenstein näher ans Lesepublikum aus der ganzen Welt bringen soll.
Die literarische Szene Liechtensteins wird im Ausland bekannter und anlockender dank der 2001 von Ospelt und Quaderer organisierten Tage der Literatur. Daran nehmen nicht nur die Literaten aus Liechtenstein teil. Es werden auch bekannte Schriftsteller aus den deutschsprachigen Ländern eingeladen.
Im Jahre 2005 ist in Liechtenstein die erste recht repräsentative Lyrikanthologie «Lyrik aus Liechtenstein» erschienen. Sie wurde vom bekannten deutschen Literaturforscher Jens Dittmar vorbereitet, der jeweils in Deutschland oder in Liechtenstein lebt. Hier sind Beispiele aus 700 Jahren gesammelt von insgesamt 85 Lyrikern, die auf dem Territorium des heutigen Liechtenstein einmal gelebt haben (Heinrich von Frauenberg, Albert Schädler, Josef gabriel Rheinberger, Johann Baptist Büchel u.a.), sowie von den Gegenwartslyrikern (M. Donhauser, Evi Kliemand u.a.). Das Vorwort gibt eine gute Vorstellung von der Entwicklung der Liechtensteiner Lyrik. Wenn man in Betracht zieht, dass sie mit Hymnen und Oden beginnt und in die moderne visuelle Poesie mündet, wo Landschaftsgedichte an postmoderne assoziative Kollagen grenzen, wird es klar, dass die Liechtensteiner Poesie dieselben Bahnen geschlagen hat wie ihre Nachbarn in Europa.
Die Steigerung literarischer Aktivität in Liechtenstein hat schon viel der 1978 gegründete nationale PEN-Club Liechtenstein bewirkt. 1980 wurde in Liechtenstein der Internationale Preis zur Föderung literarischer Talente gestiftet. Seit Mitte der 90-er Jahre gilt die Vereinigung von Künstlern «Schichtwechsel» als eine Plattform der Gegenwartskunst in Liechtenstein. Sie organisiert Lesungen und gibt das Jahrbuch «LandSichten» heraus. Darin werden nicht nur Werke von Liechtensteinern publiziert, sondern auch von denen, die anderswo leben und über Liechtenstein schreiben.
Schon seit 1987 erscheint der «Liechtensteiner Kunstalmanach». Er ist, wie der bekannte liechtensteinische Schriftsteller Stephan Sprenger schreibt, «aus einem Nichts entstanden»[1]. Er meint damit folgendes: geschichtlich gesehen gab es in Liechtenstein so gut wie keine verlegerische Tradition. Der erste Verlag «Alpenland» wurde 1930 gegründet, der zweite — «Liechtenstein» — 1948. Im Fürstentum gab es daher keine Vorläufer, keine richtige literarische Tradition, die einen durch Literatur gedeuteten historischen Raum (eine geschriebene Literaturgeschichte) und grosse Vorläufer in der Vergangenheit zeigt. Deswegen ist es schon bemerkenswert, dass es Ende des 20. Jahrhunderts, mitten der Globalisierungsprozesse gelungen war, eine selbstständige Literaturplattform auf einem schon längst bebauten Literaturfeld zu gründen. Dieses Phänomen kann als Beispiel für eine Glokalisierung im Gegensatz zur allgemeingültigen Globalisierung betrachtet werden, was für kleinere geopolitische Räume typisch ist. Es ist desto mehr interessant im Kontext der Vereinigungsprozesse auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, die man seit Anfang der 90-er Jahre in Europa beobachten kann. Der Versuch der Liechtensteiner sich innerhalb des deutschsprachigen Raumes als eine eigenständige Struktur geltend zu machen ist im grossen Masse durch linguistisch bedingte Probleme zu erklären, und zwar durch den Wunsch der Liechtensteiner sich innerhalb des deutschsprachigen Raums doch einen eigenen nationalen Image zu geben.
In Liechtenstein wird eine Handvoll alemmanischer Dialekte gesprochen, die sich von der hochdeutschen Schriftsprache deutlich unterscheiden. Und die Liechtensteiner betrachten das als ein Spezifikum ihrer nationalen Identität. Im Dialekt haben sich erste Mundarterzähler mit der verschwundenen Bauernkultur beschäftigt. Als einer der wichtigsten sei hier Felix Marxer zu nennen. Der Dialekt wird heute u.a. von Mathias Ospelt und Hansjörg Quaderer weit verwendet, sie experimentieren damit in erster Linie als Vertreter der Lautpoesie.
Die «Einbindung der Landschaft ins Schreiben und vor allem die fast durchgängig spürbare Spannung von Berg und Tal, von alpiner Lebenshaltung und internationalem Finanzplatz, als thematische Linien» (wie S. Sprenger wiedermal bemerkt), macht die Eigenart der Literatur aus Liechtenstein aus und damit kann sie (ob auf hochdeutsch oder Dialekt geschrieben) als eine regional gefärbte Literatur, wie es in anderen deutschsprachigen Ländern der Fall ist, als sozusagen vom Land betroffen, betrachtet werden. Davon ausgehend kann man die lokale Thematik (Geschichte, Lebensweise etc.) als Grundmerkmal der Liechtensteiner Litreratur nennen. Obwohl die Liechtensteiner Autoren selbstverständlich auch für die übrige Welt ein offenes Ohr haben.
Eine der populärsten Gattungen bleibt bis heute die Sage. Sie spielt eine wichtige Rolle für das Kultivieren patriotischer Gefühle der Bevölkerung.
Die ersten Sagenaufnahmen wurden schon 1858 gemacht. Doch die einheimischen, örtlichen Texte wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeschrieben. Die erste Sammlung in Buchform «Sagenumwobene Heimat. Eine Sammlung liechtensteinischer Volks-Sagen aus Berg und Tal» ist erst 1948 erschienen. Ein zweites Buch, «Liechtensteiner Sagen» wurde 1950 veröffentlicht. Die Sagen werden auch heute von den örtlichen Verlagen neu herausgegeben und sind immer schnell vergriffen.
Die Ursprünge der liechtensteinischen Literatur als solche liegen im Mittelalter. Als erster liechtensteinischer Minnesänger gilt Heinrich von Frauenberg (1257–1314), ein Ritter aus dem Schweizer Kanton Graubünden. Er lebte dann in der heutigen liechtensteiner Gemeinde Balzers, in der legendären Burg Gutenberg. Sein Schaffen hängt thematisch nicht mit dieser Gegend zusammen. Seine Lieder können eher als Beispiel der mittelalterlichen Liebeslyrik betrachtet werden. Bisher sind fünf solcher Lieder von ihm bekannt – alle sind in Codex Manesse, der Großen Heidelberger Liederhandschrift enthalten[2].
Danach wird die Literaturtradition unterbrochen und beginnt praktisch erst nach einigen Jahrhunderten von neuem mit der Dichtung von Jakob Joseph Jauch (1802–1859). Er stammte aus dem alten Jauchergeschlecht im Schweizer Kanton Uri und wurde in der deutschen Kolonie Anton (Sewastjanowka) in Russland geboren. 1852 bis 1856 war er Kaplan in Balzers. 1850 schrieb er das Gedicht «Oberst am Deutschen Rhein», welches zuerst zur «Liechtensteinischen Volkshymne» und später zur Nationalhymne Liechtensteins wurde.
Das Atribut «deutsch», welches im 19. Jahrhundert den Vereinigungstendenzen der Zeit entsprach, wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts negativ empfunden, was mit der Militärpolitik Preussens verbunden war. 1919 wurde die bereinigte Variante veröffentlicht, die mit den Worten «Hoch am jungen Rhein» begomnnen hat[3].
In der Hymne kann man schon alle grundsätzlichen Züge des nationalen Bewusstseins der Liechtensteiner finden, die im 20. Jahrundert ihre weitere Entfaltung finden. Das kleine aber stolzerfüllte Volk, das seine Heimat liebt, will seine Eigenartigkeit (Friedlichkeit und Ruhe), welche ihm vom Gott gegeben wurde, aufrechterhalten, in seinem Vaterland deutscher Prägung und unter der Obhut seiner eigenen Monarchiemacht.
Die patriotische Note ist für alle Gattungen der liechtensteinsichen Literatur schlaggebend, seien es Gedichte oder Prosa. Zahlreiche toponymische Bezeichnungen, historische Ereignisse, Sitten und Bräuche sind Themen literarischer Werke. Dabei wird das Liechtenstinische immer positiv empfunden und bewertet.
Die hymnische Poesie hatte natürlich seine deutschsprachigen Vorläufer – aus der späten Renaissance und dem Barock (Weckerlin, Kongehl) und der Aufklärung (Brockes, Galler). Sie wurde von dem Gründer des Historischen Vereines aus Vaduz A. Schädler zuerst aufgegriffen. Ihm gehört der Text der «Vaterlandshymne», 1879). Eine andere Paraphrase von Jauchs Hymne, «Mein Liechtenstein», stammt von Joseph Gassner (1858–1927). Liebevoll und ausführlich beschreibt er seine Heimat, welche er als «kleines Paradies auf Erden» bezeichnet.
Im Unterschied zu Kongehl, Bürgermeiser von Königsberg, zum Beispiel, in dessen Gedichten sich die Nachklänge des Dreissigjährigen Krieges deutlich hören lassen, und der von einem «stillen Hafen» träumt, wo er glücklich sein könnte[4], oder zu Galler mit seinen Vorbildern «eines besseren Lebens» zeigen die Liechtensteiner Autoren zwei Jahrhunderte später ein reales Land, wo Frieden und Prosperität herrschen.
Interessant ist auch, dass diese Gedichte eine stark ausgeprägte folkloristische Note besitzen, was auch davon zeugen soll, dass wir im 19. Jahrhundert die Entstehung einer neuen nationalen Literatur beobachten. Im Unterschied zu der schon abgeblühten Romantik in Deutschland ist es keine absichtliche Stilisierung. Der volkstümliche Ton klingt echt und gibt dem ganzen Gebilde eine recht naive Prägung.
Bei vielen Autoren, die dagegen schon Ende des 19. Jahrhunderts ins Licht kommen, ist der richtige romantische Sehnsuchtszug zu spüren. Und das darf auch mit der Neuromantik der Jahrhundertwende gleichgesetzt werden.
Der gebürtige Triesenberger Gassner lebte weit von seiner Heimat. Es sei vermerkt, dass die meisten Liechtensteiner damals in Europa ihre Ausbildung erhielten. Die Nostalgie hat viele lyrische Werke zur Welt gebracht. Heimatliebe und Heimatsehnsucht sind Motive aller Gedichte von Gassner («Heimweh», «Mein Heimatland, das kleine» usw.).
Er lebt in Europa der Moderne und wie ein richtiger Romantiker klagt er über sein trauriges Los: «Wie lange noch muss ich ringen mit dir, du kalte Welt, / bis wieder ich darf singen im lieben Heimatzelt?»[5]. In Gassners Gedichten sind deutlich die Intonation von Heine zu hören. Doch wenn Heine schon 1823 die folkloristischen Motive und romantische Poetik in den Dienst seiner ironischen Parodie stelllt, ist Gassners Lied eher als Produkt einer lokalen Romantiktradition zu betrachten. Bekannt ist zum Beispiel sein Gedicht «Ferngruß eines Triesenbergers an die Heimat».
Gassner schliesst gar nicht aus, dass es auf der Welt auch andere blühende Länder gibt, doch sein Herz gehört Liechtenstein, welches er in lebensbejahenden jambischen Strophen, die anakreontische Gedichte vom Gründer des Rokoko Hagedorn, oder von Brockes und Goethe erinnern, wie sein Vorläufer Jauch mit dem «jungen deutschen Rhein»[6] identifiziert.
Als Prosagründer in Liechtenstein gilt in erster Linie Hermine Rheinberger. Ihre Geschichte aus dem 14. Jahrhundert «Gutenberg-Schalun»[7] ist reich an christlichen Beispielen und Motiven, an Sagen und Bräuchen der Einheimischen.
Bis jetzt wird die Geschichte der Schweizerin Marianne Maidorf aus Sankt Gallen «Die Hexe vom Triesenberg», 1908) immer wieder aufgelegt.
Felix Marxer war der erste, der zahlreiche Geschichten aus dem Bauernleben seinen Landsleuten geschenkt hat.
Das lokale Kolorit der Prosawerke ruft in den Lesern ein Gefühl hervor näher an ihre Geschichte herangekommen zu sein. Auch Gegenwartsautoren nehmen in erster Linie als Thema ihrer Werke die Realitäten ihrer Heimatwelt. Doch es soll nicht bedeuten , dass sie für die grosse Welt kein Interesse zeigen.
Die gegenwärtige liechtensteinische Literatur, die im Laufe von 100 Jahren sich einen Weg von der Volksdichtung über die Moderne und Avantgarde, bis zur Postmoderne gebahnt hat – ist allen neuen Tendenzen offen. Globale Themen werden zum Beispiel Teil des Romans von Walter Kranz «Randbemerkt», 2002, der in München erschienen ist. Der Lebenslauf des Autors ist darin eng mit der modernen Geschichte verflochten, wie zum Beispiel die Berliner Mauer, der Vietnamkrieg, der Zerfall der UdSSR, die Beziehungen zwischen Israel und den USA, usw.
Das Phänomen Liechtensteinische Literatur als eine nationale Kulturerscheinung ist zweifelsohne vom literaturgeschichtlichen Standpunkt aus nicht uninterressant. Die Erforschung dynamischer Entwicklungsprozesse in diesem deutschsprachigen Kulturraum lässt diese Literatur als eigenständiges Glied des gesamteuropäischen Literaturprozesses zu betrachten.
Prof. Dr. habil Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie.
[1] Sprenger S. Beregneter Acker. Steine. Zur Literatur in Liechtenstein. 2001. Unveröffentlicht.
[2] Codex Manesse = Große Heidelberger Liederhandschrift. (Signatur: UB Heidelberg, Cod. Pal. Germ. bzw. cpg 848).
[3] Liechtenstein`sche Volkshymne. Bereinigter Text von Gustav A. Matt // Jahrbuch des Liechtensteiner Vereins von St. Gallen und Umgebung 1918. Zit. nach: Dittmar J. Mit dem Willen zur Tradition. Eine kleine Literaturgeschichte anhand der Lyrik aus Liechtenstein // Lyrik aus Liechternstein. Von Heinrich von Frauenberg bis heute / Hrsg. von J. Dittmar. Schaan, 2005. S. 23.
[4] См.: Kongehl M. Die erwünschte Heimat // Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart / Hrsg. von K.O. Conrady. Düsseldorf; Zürich, 2000. S. 199.
[5] Gassner J. Heimweh // Lyrik aus Liechtenstein / Hrsg. von J. Dittmar. Op. cit. S. 144.
[6] Gassner J. Mein Heimatland, das kleine // Lyrik aus Liechtenstein. Op. cit. S. 145.
[7] Rheinberger H. Gutenberg-Schalun. Erzählgeschichte aus dem 14. Jahrhundert. Chur, 1897.