Urdeutsche Kneipe und Nebenjobs

 

Friedrich hat neuerdings eine Aushilfstätigkeit in einer deutschen Kneipe, deren Klientel mit Vorliebe betrunkene Fußballfans sind. Seine Arbeit besteht im Bierzapfen und Servieren. Dreimal die Woche ist er dort, die Tage und Arbeitszeiten variieren. „Wie, so richtig urdeutsche Kneipe?“, frage ich, „Puuu, muss hart sein, können die Deutsch?“ Ab und an laufe auch Schlagermusik. „Was man nicht alles aus Liebe zur Kunst tut“, sagt er. Letzten Sommer habe er Autos bei Sixt aufgetankt. Das Auftanken von Mietwagen löst einen Funken in meinem Gehirn aus, das mein Berichten und sein Zuhören abverlangt.

Ich erzähle ihm von der Zeit, als ich frühmorgens, wenn alle Läden geschlossen waren, Brote in einen Supermarkt einsortierte, wofür ich eine Stunde mit S- und U-Bahn für die Hinfahrt brauchte. Dass die frischen Brote immer hinten liegen mussten, damit zuerst die vom Vortag verkauft wurden, dass die Rentner als erste Kunden schon vor dem Supermarkt standen, bevor er geöffnet hatte, dass das Brot so sagenhaft verlockend roch, dass selbst ich, eine, die nie morgens frühstückt, dem Duft nachgab. Ich erzähle ihm von der Cateringfirma und uns Gewerbescheinangestellten im Pinguinkostüm: schwarze Hose, schwarze Schuhe, weißes Hemd, schwarze Weste, schwarze Fliege oder je nach Auftraggeber der Cateringfirma schwarze Krawatte. Ich erzähle, dass ein Mann und ich die einzigen waren, die Krawatten binden konnten und dass wir an die dreißig Krawatten banden. „Das Krawattenbinden“, sage ich, „habe ich von meinem Vater gelernt, lange bevor ich zu kellnern begann.“ Ich erzähle vom Hotel: „Das schlimmste von allem ist das Arbeiten im Hotel! Man müsste jedem einzelnen Hotelbediensteten eine Verdienstmedaille aushändigen!“ Ich erzähle von den endlosen Sitzreihen großer Konferenzräume mit ihren Getränkekühlern aus Aluminium und Kunststoff für 0,25 oder 0,33-Liter Flaschen, den Schreibblöcken mit den querliegenden Bleistiften darauf, die auf jedem einzelnen Platz ausgelegt werden. Erzähle von der kleinen Süßigkeitentüte neben dran, den runden Tropfdeckchen aus mehrlagigem Saugstoffpapier, die man auch Papierglasuntersetzer nennt und die alle die jeweilige Hotelprägung haben. Sie kommen immer rechts über den Schreibblock, alles stets einheitlich vor jedem einzelnen der 755 Stühle, sage ich. „Diese Tropfdeckchen sind Einweg-Untersetzer, aber da sie nicht günstig sind, sollten wir die sauberen aus den benutzten Tagungsräumen nicht fortwerfen. Sie sind rundlich, an den Seiten gewellt.“ Ich nehme einen Bleistift und zeichne es auf Papier. „Und in deren Mitte ist das Logo des Hotels“, schreibe ich einen erfundenen Hotelnamen darauf. „Wir nannten sie Coaster, das Wort kommt, wie du es heraushörst, aus dem Englischen und bedeutet Untersetzer. Im Amerikanischen nennen sie so die Bierdeckel. Kann es sein, dass ich gerade abweiche?“, schaue ich ihn an. „Ein wenig schon“, sagt er, aber das sei alles sehr interessant für ihn, so wie ihn alles interessiere, was ihm unbekannt ist und von einer Person erzählt wird, die sozusagen vom Fach kommt und bestens Bescheid wisse. „Ich bin keine Person“, weise ich ihn zurecht und erzähle weiter. Ich erzähle vom Decken der Frühstückstische, nachdem ich im Hotel übernachtet habe und erzähle vom Decken des Restaurantbereichs, halte Zeigefinger und Mittelfinger hoch, „exakt zweifingerbreit“, sage ich, „muss der Abstand vom Tischrand zum Besteck sein“, und dass ich acht leere Weingläser von der Station zum Tisch tragen kann. „Mit bloßen Händen?“ „Ja, mit zwei.“ Ich erzähle vom stundenlangen Stehen und den einzigen Glückmomenten, den Musikern aus sicherem Abstand zuzuhören, erzähle vom Kellnern im Sommergarten, dem Kellnern in einem Nobelrestaurant im Staatstheater in Rheinland Pfalz und seinem Sternekoch-Tyrannen, den unglaublich schweren Platztellern, die im Vergleich zu den überdimensionalen Suppentellern nicht der Rede wert sind, von den Nachhilfeschülern erzähle ich und von den Messehostessen mit vorgegebenem grauen Rock, der mir übers Knie ging, dem roten Halstuch und dem vorgegebenem roten Nagellack, deren Rottonnummer im Vertrag festgehalten wurde. „Automesse?“, fragt er. „Nein, Chemiemesse, ein Verlag.“ Ich erzähle von der Fantapromotion: „Wenn Sie einen Kasten Fanta kaufen, bekommen Sie diesen Stoffbären als Geschenk dazu“, sage ich mit vorgestreckten Händen, als hielte ich einen Fantabären, und ich grinse aufgesetzt. „Was hältst du da in der Hand?“, fragt er. „Einen Fantabären, bist du blind?“.

„Ist doch Mist so was“, sagt er. Er werde demnächst in einer Bar arbeiten, das sei angenehmer.

 

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Auszug aus Das Halbhalbe und das Ganzganze, Verlag Literatur Quickie, Hamburg, 2014.

„Pixi-Bücher für Erwachsene“, beschriebe die Financial Times Deutschland das Konzept. Das sagen Verleger natürlich nicht. SIE sind der Literatur Quickie Verlag aus Hamburg und bieten seit dem Oktober 2009 Publikationen, die sie booklits nennen, um die Wartezeiten im Leben zu überbrücken. Der Literatur Quickie Verlag hat die Literatur an den Alltag der Leser angepaßt: Prosa im Pocket-Format, Geschichten to Go, Krimis auf dem Kopfkissen, Worte zum Wein oder im Wartezimmer, das Buch zum Bier, in der Bahn oder im Bus, Kafka zum Kaffee, Klabund im Klassenzimmer, das neue Leseformat, Lesen mit Format.