Ursachen und Auswirkungen des Bürgerkriegs

 

In ihren epischen Werken bewegen sich Marica Bodrožićs Ich-Erzählerin und deren Protagonisten spätestens seit „Der Windsammler“, 2007 im Luchterhand Verlag erschienen, vorwiegend im kroatisch-bosnisch-serbischen Lebensraum. Es sind sowohl mythische Figuren als auch tief in der dalmatinischen Landschaft verwurzelte reale Gestalten, es sind die Heimatvertriebenen im quälenden Erinnerungsstrom, von den Traumata des jugoslawischen Bürgerkriegs nach 1991 verstörte Menschen. Mit ihnen führt die 1973 in dem dalmatinischen Dorf Svib geborene Autorin, 1983 mit ihren Eltern nach Hessen ausgewandert, unablässige Zwiegespräche. In „Das Gedächtnis der Libellen“ (2010) sind es die Gespräche mit Arjeta, die der Ich-Erzählerin über die Schrecken des Bürgerkriegs berichtet, in „Kirschholz und alte Gefühle“ (2012) verdichten sich die Erinnerungen an die alte Heimat, verschwinden wieder und werden von den urbanen Eindrücken in Berlin, Paris, New York und der Enttäuschung über Ilja, ihren Liebhaber, überlagert. Auffällig ist, dass der narrative Erinnerungsstrom  immer wieder durch die Benennung von Namen und Publikationen unterbrochen wird, die auf Örtlichkeiten in Berlin verweisen, an denen Gräueltaten der Nazis passierten, so als ob die Erzählerin sich auf eine Begegnung mit den Zeugen des jugoslawischen Bürgerkriegs, den Opfern und Tätern in Sarajevo, Vukovar, Mostar, Srebrenica oder Dubrovnik , mental vorbereiten wolle. Ungeachtet ihrer zahlreichen Reisen zu ihren Verwandten und Freundinnen in Dalmatien und in Bosnien steht ihr nun, das verdeutlicht das erste Kapitel ihres umfangreichen ethisch-moralischen Essays, eine psychomentale Auseinandersetzung mit dem inneren, bislang kaum geäußerten Schmerz und dem verdrängten Leid der Überlebenden des jugoslawischen Bürgerkriegs bevor. Sie ist einigen Freundinnen aus Sarajewo gewidmet, die sie auf ihrer Reise „zu jenen Landschaften, Orten und Menschen, die mich geprägt, geformt, geknetet und geliebt haben,“ ( 11) besuchen wird.

Von welchen Überlegungen, Erinnerungen und prägenden Eindrücken lässt sich die Ich-Erzählerin bei ihrer Reise zum „Kreuz des Südens“, der kosmischen und irdischen Melancholie ihrer einstigen Heimat, leiten? Es ist ein Konglomerat aus Werteelementen, die in den einleitenden Zitaten aus Werken von Goethe, Hannah Arendt und Paul Ricoeur entnommen sind: Befreiung von Gewalt, Liebe zu Menschen und das über Gedächtnis verfügende Sein, das auf die Zukunft ausgerichtet ist. Von diesen ethischen und ontologischen Werten ausgehend, unterzieht sie die zwiespältige Rolle ihres Vaters, die Bedeutung ihrer Träume, die magische Welt der Sterne und ihre ersten Begegnungen mit Geschichte einer eingehenden Prüfung. Die sicherlich vertrauteste Bezugsperson der Erzählerin in „Der weiße Frieden“ ist Tante Anastazija, die sie nach dreißig Jahren wieder sieht. Dabei nimmt sie voller Mitgefühl wahr, wie ihre Tante unter den Auswirkungen des Krieges leidet. Drei ihrer Söhne sind im Krieg gewesen und seitdem, so sagt sie, „hängt ihre Seele zur Hälfte im Nebel, zur Hälfte in dieser Welt“. Ihr jüngster Sohn Filip, der die schrecklichen Erfahrungen aus dem kroatisch-serbischen Gemetzel psychisch nicht verkraften konnte, hat sich das Leben genommen. Schwer an Parkinson leidend, vertraut ihr Anastazija unter Tränen mit, dass die Dorfgemeinschaft den Tod ihres jüngsten Sohnes, so wie ihr Ehemann, mit Scham aufgenommen hätten, weil er den Krieg nicht „mannhaft“ verarbeitet hätte. Vielmehr trösteten sie sich mit den Segnungen der katholischen Kirche, deren Seelsorger den einstigen serbischen Feind nicht in ihre Friedensgebete einschließen würden.

Die hier einsetzende Reflexion der Autorin über den Krieg in der Menschheitsgeschichte erfasst weniger die Verschwendung von wertvoller Lebenszeit als den Krieg in unseren Gedanken, die in eine Syntax münden, in den „reflexartigen Kampf und Zurückschlagen ohne Punkt und Komma.“ (S. 27) Die von ihr vertretene Behauptung, dass die Anordnung der Worte in unseren Sätzen „genaue Auskunft über die Struktur in unserem Denken“ gebe, versucht sie mit dem Verweis auf den Begriff des Charakters bei Martin Buber zu erklären. Er sei „die besondere Verbindung zwischen Sein und Erscheinen des Menschen, der besondere Zusammenhang zwischen seiner Wesenheit und der Folge seiner Handlungen und Haltungen“ und werde „seiner noch plastischen Substanz eingeprägt.“(S. 28) Ausgehend von dieser ethisch motivierten Einstellung gegenüber der unreflektierten Schuld ihrer Landsleute,  fragt sie im Verlaufe ihrer zahlreichen Gespräche immer wieder nach den Einprägungen, die der Krieg in den Köpfen hinterlassen hat. Beim Anblick ihrer Cousins, ihrer erloschenen Augen, in denen einst eine innere Sonne leuchtete, mit der sie Jahrzehnte hinweg verbunden war, begreift die Erzählerin schließlich, dass ihr Denken nicht mehr mit dem richtigen Leben – als Ausdruck der Verweigerung, über die andauernde aggressive Einstellung gegenüber den einstigen Nachbarn nachzudenken –in Einklang zu bringen ist. Doch der Verlust eines kostbaren Menschen habe auch eine andere Einstellung zum Tod zur Folge. Der Tod sei aus der Sicht des Stoikers Epiktet der Kern des Lebens, und die Lücke, die er, wie im Fall von Filip, nach dem Ableben hinterlasse, gebe uns die Möglichkeit, das Wesen dieses Menschen in Gänze zu erfassen.

Es gehört zu den besonderen Eigenschaften des tiefschürfenden ethischen Dialogs, den Marica Bodrožić mit ihren verwandtschaftlichen und zufälligen Gesprächspartnern auf ihrer Reise führt, dass sie immer wieder ihre Positionen nach dem Grundsatz überprüft: „Wer sich selbst zusehen kann, der kann sich auch anders denken.“ Und dieses ‚anders denken‘ wägt sie mit Verweisen auf Sophie Scholl, Hannah Arendt, den  Psychoanalytiker Erich Neumann („Mensch und Kultur im Übergang“), Elias Canetti u.a. sorgfältig ab. Egal, in welcher Situation sie sich mit Augenzeugen des Kriegs austauscht, sie überprüft ihre Haltung auch dann, wenn z.B. ein serbischer Bauer sie als dalmatinische Sympathisantin der Kroaten beschimpft. Sie hält diese Beleidigungen aus, um zu kontrollieren, ob sich während der Schimpfkanonade etwas in ihrem Denken verändert.

Auch die Bewertung der unheilvollen Funktion des kroatischen Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein ständiger Diskursgegenstand der Autorin. Es handelt sich dabei um Ante Pavelić, den faschistischen Unterstützer der deutschen Besatzer und den ersten Präsidenten der Kroatischen Republik, Franjo Tudjman, der seine politischen Gegner, wie den liberalen Politiker und Reformer Vlado Gotovac, verfolgen ließ. Und der patriotische, vom Mythos des Anti-Stalinisten und Jugoslawien-Gründers umwehte  Held Tito? Er wird zum Gegenstand der bitteren Kritik an seiner rigorosen Politik der Bevorzugung von Kroatien. Diese Form des Diskurses, in dem die Ich-Erzählerin sowohl mit der Autorin als auch mit den einzelnen Zeitzeugen des Nachkriegstraumas sich im ständigen Gedankenaustausch befinden, treibt den Erzählfluss im „Weißen Frieden“ voran. Er wird immer dann unterbrochen, wenn es um zeithistorische und bildungspolitische Wertungen geht: die geringen Bemühungen um die Aufklärung über die Ursachen und Auswirkungen des Bürgerkriegs, die fehlenden bildungspolitischen Ansätze im Geschichtsunterricht, in dem die serbischen wie auch die kroatischen Kinder nichts über die jeweils andere Interpretation der Kriegsführung erführen, die ausbleibende Aufklärung über die Hintergründe des tiefen Hasses auf die Nachbarn auf dem ehemaligen Territorium von Jugoslawien. Kein Wunder, dass viele Gesprächspartner die Autorin baten, ihren Namen nicht zu nennen, aus Furcht vor Diskriminierungen; kein Wunder, dass die gegenwärtig in Bosnien unter der Leitung von Velma Šarić laufende Wanderausstellung über Kriegsverbrechen aus vergleichender Perspektive, organisiert vom „Post-Conflict Research Center“ in Sarajevo und finanziert vom „Intercultural Innovation Award“, nur in kleinen Ortschaften – aus Angst vor Medienmanipulation –läuft. Umso wichtiger ist es, dass Marica Bodrožićs aufklärerischer Essay über ihre Reise durch das  Niemandsland in Kroatien und Bosnien bald in die so eng verwandten Landessprachen übersetzt wird. Er wird zweifellos etwas auslösen, was bislang von verbitterten, patriotisch gelähmten Politikern verhindert wird: die Nebelschwaden in den Köpfen aufzulösen, damit die Konturen des „weißen Friedens“ sichtbar werden.

 

 

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Mein weisser Frieden, von Marica Bodrožić. München (Luchterhand) 2014