Die fünfte Elegie

 

Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig

Flüchtigern noch als wir selbst, die dringend von früh an

wringt ein wem, wem zu Liebe

niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie,

biegt sie, schlingt sie und schwingt sie,

wirft sie und fängt sie zurück; wie aus geölter,

glatterer Luft kommen sie nieder

auf dem verzehrten, von ihrem ewigen

Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen

Teppich im Weltall.

Aufgelegt wie ein Pflaster, als hätte der Vorstadt-

Himmel der Erde dort wehe getan.

Und kaum dort,

aufrecht, da und gezeigt: des Dastehns

großer Anfangsbuchstab…, schon auch, die stärksten

Männer, rollt sie wieder, zum Scherz, der immer

kommende Griff, wie August der Starke bei Tisch

einen zinnenen Teller.

 

Ach und um diese

Mitte, die Rose des Zuschauns:

blüht und entblättert. Um diesen

Stampfer, den Stempel, den von dem eignen

blühenden Staub getroffnen, zur Scheinfrucht

wieder der Unlust befruchteten, ihrer

niemals bewußten, – glänzend mit dünnster

Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust.

 

Da: der welke, faltige Stemmer,

der alte, der nur noch trommelt,

eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher

zwei Männer enthalten, und einer

läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern,

taub und manchmal ein wenig

wirr, in der verwitweten Haut.

 

Aber der junge, der Mann, als wär er der Sohn eines Nackens

und einer Nonne: prall und strammig erfüllt

mit Muskeln und Einfalt.

 

Oh ihr,

die ein Leid, das noch klein war,

einst als Spielzeug bekam, in einer seiner

langen Genesungen….

 

Du, der mit dem Aufschlag,

wie nur Früchte ihn kennen, unreif,

täglich hundertmal abfällt vom Baum der gemeinsam

erbauten Bewegung (der, rascher als Wasser, in wenig

Minuten Lenz, Sommer und Herbst hat) –

abfällt und anprallt ans Grab:

manchmal, in halber Pause, will dir ein liebes

Antlitz entstehn hinüber zu deiner selten

zärtlichen Mutter; doch an deinen Körper verliert sich,

der es flächig verbraucht, das schüchtern

kaum versuchte Gesicht… Und wieder

klatscht der Mann in die Hand zu dem Ansprung, und eh dir

jemals ein Schmerz deutlicher wird in der Nähe des immer

trabenden Herzens, kommt das Brennen der Fußsohln

ihm, seinem Ursprung, zuvor mit ein paar dir

rasch in die Augen gejagten leiblichen Tränen.

Und dennoch, blindlings,

das Lächeln…..

 

Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.

Schaff eine Vase, verwahrs! Stells unter jene, uns noch nicht

offenen Freuden; in lieblicher Urne

rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift:

»Subrisio Saltat.«.

 

Du dann, Liebliche,

 

du, von den reizendsten Freuden

stumm Übersprungne. Vielleicht sind

deine Fransen glücklich für dich –,

oder über den jungen

prallen Brüsten die grüne metallene Seide

fühlt sich unendlich verwöhnt und entbehrt nichts.

Du,

immerfort anders auf alle des Gleichgewichts schwankende Waagen

hingelegte Marktfrucht des Gleichmuts,

öffentlich unter den Schultern.

 

Wo, o wo ist der Ort – ich trag ihn im Herzen –,

wo sie noch lange nicht konnten, noch von einander

abfieln, wie sich bespringende, nicht recht

paarige Tiere; –

wo die Gewichte noch schwer sind;

wo noch von ihren vergeblich

wirbelnden Stäben die Teller

torkeln…..

 

Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich

die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig

unbegreiflich verwandelt –, umspringt

in jenes leere Zuviel.

Wo die vielstellige Rechnung

zahlenlos aufgeht.

 

Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz,

wo die Modistin, Madame Lamort,

die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder,

schlingt und windet und neue aus ihnen

Schleifen erfindet, Rüschen, Blumen, Kokarden, künstliche Früchte –, alle

unwahr gefärbt, – für die billigen

Winterhüte des Schicksals.

 

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Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,

auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier

bis zum Können nie bringen, ihre kühnen

hohen Figuren des Herzschwungs,

ihre Türme aus Lust, ihre

längst, wo Boden nie war, nur an einander

lehnenden Leitern, bebend, – und könntens,

vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:

 

Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten,

 

immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig

gültigen Münzen des Glücks vor das endlich

wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem

Teppich?

 

 

***

Duineser Elegien ist der Titel einer Sammlung von zehn Elegien des Dichters, die 1912 begonnen und 1922 abgeschlossen wurden. Ihr Name leitet sich vom Schloss Duino bei Triest ab, wo Rilke 1912 Gast der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe war. Dort entstand die erste Elegie. Diese Elegien changieren zwischen der Darstellung glücklicher Momente, und der Klage über allgemeine Probleme des menschlichen Bewusstseins. Rilkes ästhetischer Anspruch an diese Elegien war die Zusammenführung der traditionellen Formen der Hymne und der Elegie. Mit dem Titel und der klagenden Haltung stellen sie sich in den Gattungszusammenhang der Elegie, ohne das formale Kriterium einer Elegie, in Distichen verfaßt zu sein, immer streng zu erfüllen. Es wird das Versmaß des Distichons in Variationen und freirhythmischen Abweichungen umspielt. Die vierte und die achte Elegie sind in Blankversen geschrieben.

Weiterführend → Lesen Sie auch den Essay von Rainer Maria Rilke auf KUNO über Moderne Lyrik.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.