Der heilige Unernst, das Tanz-Theater des Manuel Quero

 

Der Name Manuel Quero steht für Aufbruch und Innovation. Statt das Publikum als Kunstendabnehmer zu behandeln, lädt er zur Teilhabe an einem Experiment ein. Stets war dieser Choreograph für komplexe Fragestellungen offen:

Die Kunstprozesse werden partizipativer, interdisziplinärer und internationaler – wie kann ich das in bestehenden Strukturen abbilden?

Seinen Weg zum Tanz fand Quero über das Schauspiel, was möglicherweise erklärt, warum Mimik und Gestik derart wichtig für seine Choreographien sind. Er versucht stets, an Extreme heranzugehen, sucht auf der einen Seite nach dem Besonderen, scheut andererseits nicht das Risiko, gängige Klischees zu nutzen und zu bedienen. Seine Choreografien sind hochkomplexe Gebilde, in denen Körper, Bewegungen, Sprache und Musik eng ineinandergreifen und stets auf mehreren Ebenen rezipiert werden können. Dabei geht er sehr intuitiv vor und läßt sich in seinen Bewegungen maßgeblich von der Musik und ihrem Rhythmus beeinflussen. Tanz erfasst das gesamte Spektrum aller erfahrbaren Emotionen zwischenmenschlicher Beziehungen. Sehnsucht, Flucht, Hoffnung, Resignation. Leidenschaft oder Hass. Tanz ist für Quero ein Medium der Erfahrungsbildung, der Lebenskunst.

Bauformen der Choreographie

In seinen letzten Arbeiten hat er sich vorwiegend dem Thema der Ausgrenzung gewidmet. Besonders reizvoll fand er es, hierfür das Zeitalter des Barock als Handlungshintergrund zu nutzen, in dem man zwischenmenschliche Zänkereien, Ränkespiele und Eitelkeiten mit Puderquaste und Goldglanz zu überdecken versuchte. Verhüllt in die pompösen Reifröcke dieser Zeit, ließ er die Tänzer sich in Neid und Egoismus gegeneinander ausspielen, zeigte sie aber auch in der daraus resultierenden Einsamkeit und Tristesse. Immer wieder neu stellt sich Quero die Frage, was Tanz ist, hungrig nach dem suchend, was er noch nicht kennt. Die Zuschauer sollten stets im Unklaren bleiben, ob das amüsante Treiben auf der Bühne ihnen nicht eigentlich einen Spiegel vorhält und einen ironischen Seitenhieb auf die eigenen Marotten und Verhaltensweisen darstellt.

Vereint in aufmerksamer Versenkung

In Arnsberg steht nun Uraufführung An der Neige an. Der Versuch, Tanz sprachlich darzustellen, ihn lautmalerisch zu verschriften, dient nicht nur dazu, der flüchtigen Bewegung Dauer zu verleihen. Die Notation, die Tanzschrift, basiert auf der Reflexion über Tanz, sie ist ein Mittel der Tanzanalyse und darin ein kreativer Entwurf des Tanzes, der nach bestimmten Prämissen notiert wird. Die Darstellung des Tanzes in der Schrift, der graphischen Präsentation, entwirft ihn quasi neu. Das Papier stellt potentiell als Anschlussstelle bereit für Gedanken, Sprache, Schrift. Hinter der Vielzahl der Akteure und Ereignisse verbergen sich Strukturen, die sie hervorbringen, und die sich mit Pierre Bourdieu als künstlerisches Kräftefeld bezeichnen lassen. Dieses spannt sich zwischen den Polen einer poetischen und einer klanglichen Aufzeichnungslogik auf und geht über in den Drang sich zu bewegen. Seine Gänge-Parade zeigt Beladene, Leidende, Malade, Menschen, die es fast gegen ihren Willen vorwärts schiebt und treibt – und ab und zu sich hoffnungsvoll Streckende. Der Übergang zu ausgreifenden Formationen im Raum wird verdunkelt durch Assoziationen an Witwen, wenn der Tänzer sich den schwarzen Umhang über den Kopf zieht. Es gelingt dem Choreographen, die abstrakte Formensprache mit leidenschaftlicher Expressivität aufzuladen.

Heute, Samstag, den 20. Juni 2015 – An der Neige…, Uraufführung. Tom Täger vertont ein Sprech-Ohr-ratorium von A.J. Weigoni und Manuel Quero choreographiert es. Der Bogen, Möhnestr. 58, in Neheim ab 20:00 Uhr.

 

 

***

Photo: Dieter Meth

Der am 28.4.1970 in Barcelona geborene Manuel Quero arbeitete drei Jahre lang bei verschiedenen Straßentheatern, bevor er 1996 begann, an der Folkwang–Hochschule Modernen Tanz zu studieren. Er wirkte in dieser Zeit u.a. in Produktionen von Malou Airaudo, Henrietta Horn und Jean Sasportes mit. Nach Abschluss seines Studiums 1999 wechselte er in das Folkwang Tanzstudio (FTS) unter der Leitung von Henrietta Horn, wo er sich sowohl in vielen ihrer Stücke, als auch in Werken anderer Choreographen solistisch hervortat.

Seine eigene choreographische Arbeit begann er 1998 mit “Liebkosungen” , dem im Jahr darauf die Stücke “Diagonale” und “Snake” folgten. Alle drei Choreographien wurden als Beiträge zum “Junge Choreographen”–Abend an der Folkwangschule gezeigt. Im Jahr 2001 erhielt er den Auftrag, eine Choreographie mit Studenten für den Schulabend der Hochschule zu kreieren. Es entstand “Mal so, mal so”. ‘Für das Folkwang Tanzstudio entstand 2002 “The Maids of Honour” . Gleichzeitig entwickelte er das Solo–Videoprojekt “Waldgespräch”, dem 2003 das Duett “Flucht vor sich” folgte. Im Frühjahr 2003 arbeitete er mit Samir Akika in dessen Multimediaprojekt “Sharks”. 2004 entstanden die Produktionen “Monotonos” und “Freneticas”. 2005 choreographierte er für das Tanztheater Freiburg/Heidelberg “London Bridge”. 2007 entstand für das Staatstheater Kassel das Stück “Sucht”, desweiteren für seine Compagnie “Dra–men woman”. 2010 Eröffnung “Ruhr 2010. 2010 “Woyzeck” von Yehuda Almagor für das Teatron Teater. 2011 “Eu estive aqui”, von Mark Sieczkarek. 2011 “Doppelgänger” von Yehuda Almagor für das TeatronTeater.